mein lieber sohn,
endlich ist es zeit und gelegenheit auf deinen wunderbaren geburtstagsbrief zu antworten. allerdings muss ich dir scharf widersprechen: seit jahr und tag plädiere ich dafür, dass die eltern den kindern zu danken haben. bei dir begann der dank gleich am zweiten mai, heute vor dreißig jahren, einem wolkigen, windigen, recht frischen tag. du konntest nicht schnell genug auf die welt kommen, auf der kreuzung wilhelm-pieck-/chausseestraße wäre es beinahe schon passiert, um 7.30 uhr blicktest du dann so verknittert und originell in die welt, ein kreativer zwerg, den man gleich liebhaben musste. viele menschen waren damals mit der beendigung der ddr beschäftigt, andere wiederum hatten mit ihrer angst zu tun, dass alles anders und also schlechter werden könnte, das hamlet-syndrom. unbeeindruckt von all dem – ausgenommen die direkten wochen des umsturzes – sind wir beide an der mauer entlangspaziert, denn abgesehen von aller späteren freude, hast du mir zunächst einmal ein babyjahr beschert, das ich mit dir zusammen genossen habe. schon in der küche in der linienstraße warst du unser kleiner clown.
unser domizil in moor war von vornherein auch für euch konzipiert und ihr habt es wunderbar angenommen. es ist natürlich gut zu hören, dass du, dass ihr das domizil (und ich wiederhole das wort, weil moor eben immer mehr war als nur ein haus), diese bedingungen zu einer glücklichen kindheit verschmelzen konntet. das wichtigste im leben ist aber nicht, was man macht, was man ist, und schon gar nicht, woher man kommt, sondern, ob man es geschafft hat, so selbstbestimmt wie möglich zu sein. die zwänge sind immer groß, aber dem allgemeinen jammern, dass sie zunähmen, kann man nicht zustimmen. gerade an unserem haus kann man ablesen, wie die zwänge früherer zeiten die menschen und vor allem auch die kinder niederdrückten. man sollte in jedem haus neben dem strom-, dem gas- und dem wasserzähler auch einen unmündigkeitszähler anbringen, der misst, wo wir vormündern ohne äußere not gefolgt sind. dann würde sich zeigen, dass wir die meiste zeit mit dem anfertigen von ausreden zu tun haben, die wir zur rechtfertigung vor uns selbst zu benötigen glauben. andererseits muss man sich auch bedingungen stellen, die einen vor dem abseits bewahren: man muss geld verdienen, man muss kompromisse eingehen, man muss dem gemeinwesen in bestimmtem maße dienen, das einem selbst auch dient.
die frage, ob man rousseau lesen muss, beantwortet sich so von selbst, aber es muss natürlich nicht im ersten studienjahr sein. die ddr, indem sie uns bestimmte bücher und erkenntnisse und länder vorenthielt, hat uns damit eine freude für spätere zeiten aufbewahrt, und so kann man es auch im eigenen freieren leben halten: man muss und kann nicht alle erkenntnisse gleichzeitig haben. erkenntnisse sind auch nur dann wirklich etwas wert, wenn sie gelebt und gefühlt werden können, und dazu braucht man zeit. einer dieser abhängigkeits- und faulheitsapostelsprüche ist ja: man muss das rad nicht neu erfinden, nein, aber man muss es immer wieder neu denken.
nicht gerade der erfinder, wohl aber der neuentdecker diese thinking out of the box ist dein großer freund leonardo aus dem kleinen dörfchen vinci, der gerade heute seinen fünfhundertsten todestag hat. ein kleiner witz am rande ist, dass auf der einen seite sein gemälde salvator mundi für 450 millonen dollar verkauft wurde und verschwunden ist, andererseits jede christliche flüchtlingsfamilie sein letztes abendmahl, das bröckelnde sgraffito, an der wand hat, dass es auch so eine klaine nachtmusik/air/kreuz im gebirge/vocalise geworden ist. nimmt man die mona lisa und den vitruvianischen mann von der krankenkassenkarte dazu, dann sind es schon vier bildnarrative, die leonardo uns geschenkt hat und die noch lange nicht verschlissen sind. sein code lautet: mach dich nicht abhängig, auch wenn du notgedrungen abhängig bist, besser eine feier organisieren als gar nicht zu feiern, abmalen kann jeder, habe den mut zur eigenen mona lisa. anagramme schaffen dabei nur scheingeheimnisse, keine lösungen. leonardo hat bestimmt den computer vorausgedacht, solche geheimnisse konnten ihn nicht ängstigen, dafür die geheimnisse der natur und der natur des menschen um so mehr anziehen. lehrersein ist nicht die schlechteste möglichkeit, sich den menschen forschend zu nähern. man sieht sie, nicht wie der arzt nur in angst und schrecken, sondern auch in freude und wissbegier, in der lust des lernens und der geistigen hingabe.
apropos kreuz im gebirge: gespannt sein darf man auf euer haus im gebirge, einerseits von hohen ansprüchen gezeichnet, andererseits mit großem geschick gebaut? so könnte es kommen. was bleibt zu wünschen übrig? ich finde es wunderbar, dass du so viel liest und noch wunderbarer finde ich es, wenn wir beide die gleichen bücher lesen. ich weiß gar nicht, wann du liest, mir fällt es schwer zu lesen, nicht weil ich zu viel zu tun habe, sondern weil ich zu viel im internet oder irgendwo bin. ich war entzückt, wie lange wir im städelmuseum in frankfurt waren, dann sogar noch das architekturmsueum nachgeschoben haben. theater versteht sich von selbst. aber was ist mit der musik: ich wünsche dir, dass du viel üben musst, weil du auftritte hast, dass du viel klavier spielst und dir den spielerischen umgang mit der musik jetzt noch mehr bewahren kannst als früher, wo auch immer ernst und angst wie silberfäden eingewoben waren.
die kinder werden es mögen, wenn du lustige sachen am klavier machst und wenn du dann eine taschentrompete hervorzauberst und auf ihr einen esel – oder irgend jemand anderen – nachahmst. auch in der schule wirst du es merken: es ist schön, wenn die kinder dankbar sind, aber noch schöner und noch wichtiger ist es, wenn wir ihnen danken, was wir von ihnen und mit ihnen – oder für sie – lernen, weil wir durch sie gute laune behalten und nicht zu griesgrämigen greisen werden, weil sie selbst meist fröhlich sind oder gut drauf, ein eigenes kind – obwohl es einem nicht gehört – wäre nicht schlecht, aber das könnt ihr nur alleine wissen, die liebe zu deiner frau ist zu pflegen, und schließlich und letztlich muss man auch hin und wieder an sich denken.
beste grüße und wünsche
dein vater
der specht ist die percussion
des waldes so ein rhythmus je
der konstruktion die höhle
als gleichnis wie sähen
wohl die jungen spechte
die welt wenn sie die
welt nicht sähen als
zwang und mühsal
kein verlangen hätten
sie nach freiheit wenn
ihre eltern ihnen die
freiheit nicht als paradies
zeigten voller würmer
und bäume und maden
voller gesang und mit
schönheit und percussion
gedicht aus: haus im fluss, grille-verlag 2018