indiviDUALITÄT

 

Nr. 256

 

Wohlstand war das Ziel unserer Gesellschaft. Dieses Ziel verloren wir aus den Augen, als wir merkten, welche Freude Wachstum bereitet. Das wurde zum Fortschritt erklärt. Wenn man sich die alte Welt als eine vernebelte Landschaft vorstellte, dann klärte sich der Nebel immer weiter auf. Jedoch warteten wir vergeblich auf die Sonne, denn statt des Nebels verstellten nun Rauchschwaden und Potemkinsche Dörfer unseren Blick.

I

Die Eisenbahn und das Automobil haben uns zwar die Freiheit der Fortbewegung gegeben. Wir sind nicht mehr an den Punkt oder Raum gebunden, an den uns ein blindwütiges Schicksal gestellt hat. Wir alle kennen viele Menschen, die ihr Dorf, ihre Kleinstadt oder aber auch die Großstadt hassten. Sie alle können jederzeit und auch für immer dorthin gehen, wo ihr Traum ist. So gesehen ist fast jeder Traum verwirklichbar. Die deutsche Sprache schenkte den Menschen weltweit das Wort für die Kehrseite der Traumverwirklichung: Heimweh. Wanderungen wurden früher stigmatisiert. Migranten galten als nicht verlässlich. Tatsächlich fehlten sie ja meist in ihrem Herkunftsort. Daran erinnern nicht nur das als Pejorativ benutzte Wort Zigeuner oder die Verfolgung aller Fahrenden (Roma, Sinti, Jenische, Traveller, Juden), sondern auch die ständige Forderung rechter Propagandisten, dass die gegenwärtigen Migranten lieber in ihrer Heimat bleiben sollen und dort kämpfen oder für den Wohlstand arbeiten. Aus der Sicht der Natives wird der Wohlstand aber gerade dadurch behindert, dass es zu viele Menschen gibt. Migration ist so gesehen immer auch ein demografisches Ventil. Die Auswanderung der europäischen Übervölkerung ist erinnerungsmäßig allerdings und leider in den Nebel geraten. Weiter übersehen wir unsere Wallfahrten in den Süden: Jedes Jahr sieht im Sommer die A 9 von oben wir ein endloser Zug von Dieselameisen aus, erst in die eine Richtung, dann in die andere. Während die Eisenbahn die Gesellschaft in drei Klassen abbildete und sie insgesamt auf Räder stellte, hat das Automobil die einzelnen Familien und Einzelpersonen isoliert. Man könnte leicht übertrieben von mentalen Faradayschen Käfigen sprechen. Zudem sind die Autos natürlich auch ein Statussymbol. Der Überfluss an Geld wird gern in solche Luxusgüter transferiert. Wir Deutschen sparen zum Beispiel, indem wir Küchenschwämme, obwohl sie bis zu fünfzig Milliarden Bakterien pro Kubikzentimeter Schwamm beherbergen, immer wieder auswaschen und damit für pathogene Mikroben umso attraktiver machen, kaufen uns aber alle paar Jahre ein neues Auto. Das ist wahrlich keine Leitkultur.

Der Wohlstand führte also tatsächlich zu einer Individualisierung, Vereinzelung, aber auch Sorgenfreiheit, Freizeit, Freiheit und dem Abbau der Menschenmenge. Erfreulicherweise traten auch alle Menschen, langsam und Schritt für Schritt in das Spektrum dieser neuen Betrachtungsweise: erst das Kind, dann die Frau, dann der Schwarze (‚woman is the nigger of the world’*), dann die Schwulen und die Linkshänder. Wieder traten wir aus einem Nebel. Aber wo ist die Sonne?

II

Auf der anderen Seite ist die Vereinzelung des Menschen auch ein Trugschluss. Der Mensch ist auf den Dialog angewiesen. Ohne diesen Dialog verkümmert er, auch wenn er biotisch überleben kann. Wir haben dafür traurige Beispiele in den wilden Kindern, die von fürsorglichen Tieren, oft Wölfen, aufgezogen wurden, aber auch in Kaspar Hauser, der von bösen oder irregeleiteten Menschen isoliert und nur materiell versorgt wurde. Sein Auftauchen und seine Beschreibung durch Anselm Ritter von Feuerbach brachte übrigens einen beträchtlichen Schub der Emanzipation des Individuums. Der Mensch ist eben nicht Eigentum und/oder Kopie der Eltern oder gar des Fürsten. Feuerbach schloss mit diesem Grund die Folter aus dem Rechtsraum aus und die Beachtung der Täterpersönlichkeit ein. Das ist nicht nur die Begründung des modernen – positiven – Rechts, sondern auch ein wesentlicher Beitrag zur Loslösung des Individuums von genetischen, politischen und religiösen Fesseln.

Die Vereinzelung ist auch ein Ausdruck der notwendigen Verzerrung unseres Weltbildes. So bezweckt das Abschließen unserer Haustüren nicht den Abbruch der Kommunikation, sondern den Ausschluss von Dieben. Immer wieder wird die Zunahme oder wenigstens die Konstanz von Wohnungseinbrüchen beklagt. Jeder, der schon einmal bestohlen wurde, weiß, dass es sich um ein traumatisches Erlebnis handelt, das auch lange noch im Traum verarbeitet wird. Materiell dagegen schädigt uns heutige Menschen Diebstahl nicht besonders. Für die meisten in unserem Teil der Welt ist Diebstahl kein existenzieller Eingriff. Der kommunikative Preis, den wir für unsere Sicherheit zu bezahlen bereit sind, ist also zu hoch.

Das Smartphone wird in beide Richtungen überschätzt. Auf der einen Seite ist der kommunikative Gewinn in einer ohnehin nach allen Seiten abgesicherten Welt nicht so hoch. Man muss im deutschen Schilderwald nicht alle paar Minuten Googlemaps einschalten. Aber es gibt Länder, in denen Schilder mit einer Frequenz von fünfzig oder hundert Kilometern stehen. Nach wie vor kann man sich einfach um vierzehn Uhr an einer Kirche verabreden und muss sich nicht alle zwei Minuten versichern, dass man auf dem richtigen Weg ist. Das Smartphone führt uns aber auch nicht in eine schreckliche Isolation, wie es von so vielen Menschen – verzerrt – vorausgesehen wird. Es gibt keinen Jugendlichen, der nicht sofort seine Ohrhörer zieht, wenn er angesprochen wird! Im Gegenteil: dadurch dass sie alle an ihren Smartphones hängen, sind sie nicht nur weltweit vernetzt, sondern auch mit einem großen Teil des Allgemeinwissens. Geschrieben wird heute weitaus mehr als früher.

In der Zeit, als die Bevölkerung eines Dorfes sich auf seiner einzigen Postkarte versammelte, war eine einzige Postkarte oft auch das einzige kommunikative Zeugnis des damaligen Kollektivwesens Mensch. Der heutige Mensch dagegen, so vereinzelt er in seinem Automobil und mit Kopfhörern auch erscheinen mag, ist immer in Verbindung mit seinesgleichen, auf dem Landweg, zur See, in der Luft oder im Äther, wie man früher zu Funkverbindungen sagte. heute sagt man noch nicht einmal mehr Funkverbindung, sondern einfach nur Netz. Das Bild des Netzes kommt aber doch von der Spinne oder vom Fischer. Es beinhaltet nicht nur die Verbindung, sondern auch die Erdung und den Dialog.

III

Es gibt keine dauerhafte Identität. Wir wissen sicher, dass, aber nicht, wer wir sind. Wir sind wie ein Haus, das einmal gebaut, nicht von alleine stehen bleibt. Ein Schiff wechselt nicht nur seine geografische Position ständig, sondern – durch Korrosion oder Kollision – seinen Aggregatzustand. Dieses Schiff, sich selbst überlassen, würde sich nicht nur in seine Einzelteile auflösen, sondern sogar in die Elemente des Periodensystems. So gesehen sind wir zu einem Hundertstel vielleicht Deutscher oder Franzose oder Slawe. Aber die anderen neunundneunzig Hundertstel oder neunhundertneunundneunzig Tausendstel würden zugunsten dieses einen Aspektes vernachlässigt. Jeder Mensch ist auch Links- oder Rechtshänder oder Beidhänder, links oder rechts oder beides, wie Frau Wagenknecht, Mann oder/und Frau, schwarz oder/und weiß, gläubig oder nichtgläubig, intellektuell oder/und emotional. Und/oder so weiter. Die bessere Beschreibung sind die Schnittmengen nach Euler und/oder Venn. Beide waren übrigens beinahe Pfarrer und/oder Mathematiker.

 

 

*John Lennon

Ein Gedanke zu “indiviDUALITÄT

  1. klaus kirstein schreibt:

    Hallo, mein Freund! Aus Griechenland zurück konnte ich zum wiederholten Male-immer wenn ich mit dem Bus fahre-ein Fahrzeug Deiner Schwester in Grünau feststellen. Wir, Deine Schwester und ich, sind uns in unserer alten Schule begegnet. Kann das sein, dass sie nach Grünau verschlagen wurde ?
    Keine Antwort auf Deine Kolumne, die mir immer gefällt. Wo nimmst Du das Wissen in jeder Woche her ?Hast Du noch Zeit zum Essen? Hut ab, bin Stolz Dich zu kennen ! Herzlichst Klaus

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