manifest der falschschreibung

seid nicht wie die blinden / die den stock suchen / aber nicht den weg

dieser rotstiftkult des falschschreibens führt zum nichtschreiben und zum fehlersuchen. es geht nicht um rechtschreibung, sondern um das rechte schreiben. es geht nicht um die falschschreibung, sondern um das falsche schreibenlernen.
jahrelang wird den kindern gedroht: wenn du zum stift greifst, greife ich zum rotstift. und kaum eine drohung wird wahrer gemacht als diese.
dabei leiden beide seiten unter diesem selbst verschuldeten terror. die schüler schwitzen und zittern vor jedem wort, es könnte falsch sein, und die lehrer leiden unter ihrer eigenen kleinlichkeit, die sie für recht und gerechtigkeit, ja für ein denkmodell halten. man denke nur an die großschreibung etwa der substantivierten interjektionen! das ist der punkt, an dem ein normal denkender mensch weghören muss!
dagegen weiß jedes kind, dass rechtschreibung fast nichts zum rechten schreiben beiträgt. umgekehrt aber würde kreatives schreiben sehr viel für die rechtschreibung tun, denn welches kind, welcher jugendliche, welcher erwachsene wollte nicht, dass seine geschichte gewählt würde.
rechtschreibung ist ein bloßes und zeitweiliges ordnungsmittel. wichtiger ist es, aus jeder möglichen schreibung sinn zu gewinnen.
das argument der rechtschreiber, dass falsch geschriebenes in der not nicht erkannt werden könnte, kehrt sich gegen sie selbst: selbst in der not bestehen sie darauf nicht zu helfen, weil sie, die angeblich weiseren, die zeichen nicht erkennen konnten. man hilft einem ertrinkenden nicht dadurch, dass man ihn auf das schild hinweist, das er übersehen haben soll: ertrinken verboten!
nicht die rechtschreibung ist falsch, sondern der absolute glaube an ihre kraft, die sie nicht haben, ihre herrlichkeit, die es nicht geben kann. es gibt keine flächendeckende rechtschreibung mehr, weil mehr geschrieben wird als je zuvor, weil es zeitungen und dichter gibt, die die alte rechtschreibung beibehalten haben, weil es sms und emails gibt, weil es die schweiz und österreich gibt, weil es rechtschreibprogramme gibt, ja, ja, wir müssen es einsehen, rechtschreibprogramme sind sehr nützlich, aber nicht unfehlbar. auch deutschlehrer sind sehr, sehr nützlich, aber auch sie: nicht unfehlbar, nicht allwissend. es ist eine verklärung der alten zeit, zu behaupten, früher hätten alle richtig geschrieben.
es geht nicht darum, zum falschschreiben aufzurufen, sondern die relative wertlosigkeit der rechtschreibung zu erkennen. all die vielen tausenden stunden, die die lehrer damit zubringen, rote tinte sinnlos in texte zu klexen, könnten sie besser dazu benutzen, mit jedem einzelnen schüler dessen texte zu verbessern, vor allem inhaltlich, aber auch schreiblich. wir sollten schwimmlehrer werden, die neben ihren schülern schwimmen, nicht solche, die am ufer stehend höhnen. wir sollten schwimmschüler werden, die nur in begleitung ihrer besser schwimmenden lehrer schwimmen wollen. uferhöhner werden von uns verlassen.
lasst uns in jedem vierteljahr gemeinsam ein buch lesen, lasst uns in jedem vierteljahr gemeinsam einen textwettbewerb ausrichten: die deutsche sprache wird es uns danken, die bücher werden besser, die schüler rennen in die schulen, um an den anschlagsäulen ihre namen zu lesen, wenn sie gewonnen haben. es darf auch einen kleinen nebenpreis für den kleinsten fehlerquotienten geben. die lehrer ernten die früchte ihrer schweißtreibenden arbeit: keine diktate, also auch keine diktatur der rechtgläubigkeit, keine klausuren, nur noch essays und geschichten. ein lehrer ist ein lehrer, kein richter.
wenn wir eingesehen haben, dass die rechtschreibung ein hilfsmittel ist – und das wort rechtschreibung ist ja nicht zufällig verwandt mit rechtgläubigkeit – dann können wir in einem zweiten schritt über die textbeschreibungen und anleitungen zur anfertigung von texten nachdenken. auch sie sind keinesfalls starre lehrsätze, sondern bestenfalls anregungen.
ein text muss einerseits sachlich nachvollziehbar sein. seine argumentation sollte mit dem durchschnittsverstand und der hochsprache verständlich sein. warum sich der deutschunterricht nicht auch mit rap beschäftigen kann, dafür gibt es keinen grund, überhaupt sollte jugendsprache viel mehr einbezogen werden. erst vor diesem hintergrund wird ja klar, warum wir die hochsprache überhaupt brauchen.
kleine kinder, solange sie nicht mit regeln überfüttert sind, liefern immer phantasievolle texte ab, die wirkungsvoll bleiben, weil ihre schönheit überzeugt. je mehr die kinder auf teils unsinnige regeln gedrillt werden, desto weniger phantasie und schönheit  können sie einsetzen. überhaupt ist schule immer noch viel zu sehr konditionierung auf die immer unwichtiger werdende arbeitswelt. unsinnige regeln sind großschreibung, ß, dass und das, eine erörterung hat immer drei pro- und drei contraargumente. wem das zu radikal ist, der sollte wenigstens das ß abschaffen oder uns den unterschied von reis und reiß erklären.
diese sofort umsetzbare veränderung betrifft weniger die geschriebene sprache, als vielmehr den umgang mit ihr in der schule, wo das fundament für eine lebenslange abneigung genau so gelegt werden kann wie für eine lebenslange liebe und aktivität. wer schreibt, bleibt nicht nur, sondern sieht weniger fern, spielt weniger gern am computer, nimmt mehr am gesellschaftlichen leben, zum beispiel im internet, teil.

wenn wir aber schon einmal dabei sind, endlich, endlich die bildung statt immer nur die schule zu reformieren, dann sollten wir auch gleich noch über die folgenden zehn punkte, die sich selbstverständlich überschneiden, nachdenken. überflüssig zu sagen, dass eine bildungsreform nur bundesweit sinn macht.

1 dialog statt ranking

die hierarchische unterscheidung in lehrer und schüler wird zugunsten eines gleichberechtigten dialogs aufgegeben. lehrer und schüler arbeiten gemeinsam in und an projekten.

2 empathie statt emphase

nicht der schüler muss sich in den lehrer, sondern der lehrer in den schüler einfühlen. es entfallen alle emphatischen vor- und einwürfe wie lob und tadel, schuld und sühne. das leben bestraft den schüler, nicht der lehrer.

3 emanzipation des wahnsinns

das vorherrschen von gefühl, bewegung, phantasie, spiel bei kindern und jugendlichen wird durch die schule unterstützt und nicht unterdrückt.

4 abschaffung der konditionierung

wichtigstes konditionierungmittel sind die zensuren. sie werden ersatzlos gestrichen. auch verbale notizen der lehrer dienen nicht der beurteilung, sondern der veränderung von verhalten, wissensaneignung und produktion. die prüfung ist das leben, vertreten durch ein praktikum.

5 enterprise statt entertainment

in der schule muss man genauso wenig stunden verbringen, absitzen wie im leben jahre. deshalb sollte weniger unterhaltung den schulalltag bestimmen, so amüsant sie heute sein mag, sondern selbst gewählte unternehmungen. der lehrer wird, das klingt beinahe schon wie ein gemeinplatz, immer mehr zum moderator.

6 konzentration auf kernfächer

jeder, der einen neuen bildungsgegenstand zu entdecken glaubte, will ein neues unterrichtsfach, beispiele sind awt oder ler. statt dessen sollten wir uns auf kernkompetenzen und demzufolge auf vier kernfächer besinnen: deutsch, englisch, mathematik und naturkunde, musik/kunst/sport.

7 kommunikationszentren statt schulen

schulen sind tag und nacht geöffnete einrichtungen, die von jedem menschen ungeachtet seines alters oder seiner fähigkeiten genutzt werden können. jeder erhält, wenn er es wünscht, hilfe und anleitung.

8 kreativität durch kompetenz / kompetenz durch kreativität

kinder werden in ihrer kreativität gefördert. für jedes jahr werden kompetenzen angestrebt, über deren erwerb man gemeinsam rechenschaft ablegt.

9 wissen oder gewissen

nicht durch ein bestimmtes fach, sondern durch die gesamte schule, die ein laboratorium ist, sollte das gewissen, die moral, die verantwortung der nächsten generation gestärkt werden. das kann man vor allem durch kunst, philosophie und religion tun.

10 lehrer als generalisten

lehrer sollten sich an ihre vorgänger, die dorfschullehrer, erinnern, die ein instrument spielen, bäume bestimmen, aufsätze schreiben, geschichte erforschen, talente entdecken und vielleicht noch tausend andere sachen…konnten.

2 Gedanken zu “manifest der falschschreibung

  1. hach … wie schön wäre das doch …
    du sitzt nicht zufällig in der nähe der hebel, mit denen solch künftiges schülerparadies geschaffen werden könnte?

    (in die österreichische schulzeit meines sohnes beispielsweise fielen relativ kurz nacheinander alte rechtschreibung, rechtschreibreform und neue rechtschreibung. da verzweifelten sogar die deutschlehrer, und einer weigerte sich überhaupt, „den wahnsinn“ so knapp vor seiner pensionierung noch mitzumachen, was es den nachfolgern und natürlich den kids auch nicht gerade erleichterte … )

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  2. ich gehöre leider auch nur zu den rufern in der wüste. aber lies dazu den heutigen blog, dann wirst du sicherer: jeder ruf wird irgendwie erhört… vielen dank für deinen kommentar!

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