Nr. 166
Es ist immer ein Wähnen, wenn man glaubt, Wahrheit, Lösung, Wissen gefunden zu haben. Trotz zunehmender Bildung ist der Wahn weiter verbreitet, dass es für alles kurzfristige, einfache und plausible Lösungen gibt, die von System, Systemverbrechern, alteingesessenen Fremden, von der Geldgier der anderen, überhaupt: von anderen verhindert werden. Bücher haben Millionenauflagen, in denen geschrieben steht, dass Deutschland sich abschafft, wenn es so weiterlebt. Niemandem fällt auf, dass es diese Angst schon immer gibt. Vor dem ersten Weltkrieg waren fast alle Menschen in Deutschland, merkwürdigerweise auch sehr viele Intellektuelle, der Meinung, dass Deutschland verschwände, würde es sich nicht präventiv seiner Feinde erwehren. Aber selbst nach dem zweiten Weltkrieg, der so viele Menschen und Länder, darunter auch Deutschland, in den Orcus des Verderbens gerissen hatte, gab es Deutschland noch. Man sprach damals von Zusammenbruch und meinte den Hitlerwahn, der wie ein Kartenhaus zusammengebrochen war, weil er aus nichts bestand und trotzdem leider nicht von heute auf morgen verschwand, und man bemerkte nicht, dass die Kinder in den Schulen schon wieder und immer noch Goethegedichte lasen und ‚Kein schöner Land‘ sangen.
In anderen Büchern, die sich ebenso gut verkaufen, steht, dass ein bestimmtes Ereignis im Jahre 1953 in Persien der Ausgangspunkt für die heutigen Auseinandersetzungen sei, an denen demzufolge die Amerikaner allein Schuld hätten. Als vorsichtige Argumente seien erwähnt: der Streit zwischen Schiiten und Sunniten dauert schon 1400 Jahre, der zwischen dynastischem und selektivem Prinzip, ob also ein Anführer genetisch oder nach seinen tatsächlichen Fähigkeiten bestimmt wird, währt schon hunderttausende von Jahren, geht man noch einen Schritt zurück, so ist es die Auseinandersetzung zwischen Schwarmintelligenz und zeitweiliger Führerschaft (Aberglaube vom Alphatier). Das alles ändert sich ohnehin, wenn ein harter Winter kommt: Ein sehr harter Winter ist, wenn ein Wolf den andern frisst. Das heißt, Prinzipen überschneiden sich, Paradoxien sind weder leicht erkennbar noch plausibel, man folgt aus Gewohnheit oder aus Gruppensolidarität, weniger und seltener aus rationalen Gründen. Alleine über Gruppensolidarität lässt sich immer wieder nachsinnen: wir folgen den Gruppen gleicher Religion, gleicher Nation, aber zum Schluss folgen wir immer der Gruppe des gleichen Geschlechts, das sind mehr als dreieinhalb Milliarden Menschen.

SED-Kreisleitung in Strasburg
In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entwickelten sich drei Grundgedanken, um die Gesellschaft, die, vielleicht entfernt vergleichbar mit den heutigen Erscheinungen, aus einem fragilen, allerdings auch glitschigen Zustand wieder herauszuführen. Die vom Land in die Stadt drängenden Elenden, die dort hofften, ihr Elend abschütteln zu können, sahen sich getäuscht, mussten nun auch unter traurigsten äußeren Verhältnissen schuften. Der Wohlstand, den diese Arbeitermassen erwirtschafteten, kam erst ihren Enkeln zugute. Man nannte das die soziale Frage. Der erste Grundgedanke war, die Verhältnisse umzustürzen, in denen solch ein Leid für so viele Menschen genauso produziert wurde, wie all die Lebensmittel und Gegenstände, die es vorher nicht gegeben hatte. Sowohl die Menge der Lebensmittel als auch die Menge der Gegenstände wuchsen exponentiell. Dass sie schneller wachsen würden als die Menge der Menschen, die nur in eine hohe Sterblichkeit und nach Amerika ausweichen konnten, war nicht absehbar. Der linke Mythos, dass der Umsturz der Verhältnisse die kurzfristige, einfache und plausible, wenn auch schmerzhafte Lösung sei, war geboren und wurde erprobt. Ihr Scheitern war ebenso schmerzhaft wie ihre Geburt, bedeutete aber nicht das Ende des Mythos. Er lebt fort in den Forderungen linker Parteien überall auf der Welt und in tödlichen Karikaturen linker Diktaturen und Diktatoren, wie zum Beispiel in Nordkorea. Dort hat sich auch das dynastische mit dem selektiven Prinzip verbunden. Es herrscht eine Art Baby Doc, der Enkel des Staatsgründers. Von allen Ideen, die links und plausibel gewesen sein mögen, sind nur der absurde Traum von Autarkie und ein ebenso absurder Militarismus geblieben. Unter Militarismus soll hier nicht nur die relativ zur Bevölkerung größte Armee der gegenwärtigen Welt verstanden werden, sondern auch die militaristisch-gleichförmige und totale Bewegung großer, wahrscheinlich sogar der meisten Bevölkerungsteile, die ganz sicher auch dem Nationalhymnenwahn erlegen sind, dass sie im besten aller Länder leben. Sie kennen allerdings nur ein Land, und das ist durch die Leere gekennzeichnet.
Barmherzigkeit ist dringend notwendig, aber auch nicht die Lösung großer sozialer Spannungen, wie sie in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Europa auftraten. Wichern und Kolping, zwei religiös fundamentalistische, sozial aber revolutionäre Denker, haben den Adventskranz und den Wahn hervorgebracht, die Rückkehr zur frommen Idylle könnte die einfache, relativ kurzfristige und plausible Lösung sein. In dem Maß, wie sich Religion als soziale oder nationale Sprengkraft versteht, wird sie weiter scheitern. Sie scheitert, indem sie in der Säkularisierung untergeht, und sie scheitert, indem sie immer wieder bewaffnete Mörderbanden toleriert, um nicht zu sagen: billigt oder gar losschickt. Der Versuch ist sträflich und schändlich. Es gibt keinen Grund zum Töten.
Sobald der dritte Grundgedanke auch nur erwähnt wird, winken die Realisten beider Lager, des linken und des rechten, des Umsturzes und der Bewahrung, ab. Die Zunahme des Wohlstands muss von einer gleichen Zunahme an Bildung, Kultur und Moral begleitet werden. Die Lösung des Problems ist langfristig, komplex und nicht leicht, fast gar nicht einzusehen: sie besteht in der Produktion von Dingen und Gedanken, die sich schnell ausbreiten können und auch tatsächlich schnell verbreiten. Auch Gerechtigkeit unterliegt dem Gesetz der großen Zahl und ist nur asymptotisch zu haben.
Im Theater dagegen sind hin und wieder die alten Mythen zu sehen. Während Ovid sein altes Ehepaar durch die Götter belobigen lässt, sie dürfen zusammen sterben und leben als Bäume vor ihrem Haus weiter, schauderte es Goethe und vor allem Brecht vor soviel Gutem. Goethe lässt am Ende von Faust II Philemon und Baucis, jenes alte Ehepaar, durch Mephisto umbringen, der den Geist des blinden Aktionismus gepaart mit Skrupellosigkeit verkörpert. Brecht lässt seine Shen Te, seinen guten Menschen von Sezuan, auflaufen, scheitern und hinter der Maske des kalten und bösen Kapitalisten verbergen. Das Böse maskiert sich immer mit dem Guten, das Gute hingegen ist immer nackt. Das Böse scheitert immer so wie Macbeth und Hitler gescheitert sind: in Schande, Verachtung und Ekel. Das Gute triumphiert immer, und sei es am Kreuz oder Galgen.
Es ist genau umgekehrt: der Kapitalismus erzeugt jenen Wohlstand, der für Demokratie und Wohlfahrt Voraussetzung und Rückhalt ist.
Es ist genau umgekehrt: das Scheitern des guten Menschen in widrigen Verhältnissen ist die Zeugung des Keims besserer Verhältnisse in den Herzen vieler Menschen und dann später in der Wirklichkeit.
[Das Titelbild zeigt die Kleiderbörse für Arme im ehemaligen französischen Pfarrhaus in Strasburg in der Uckermark.]