JUDAS oder der Marathon des Verrats
Eine Betrachtung zum Dritten Osterfeiertag
Im antiken Griechenland wurde der Bote für die Nachricht bestraft, die er überbrachte. Das entspricht dem Rachebedürfnis, dem nachzugeben wir uns seit der Aufklärung nicht mehr gestatten. Den Impuls dazu gaben Buddha und Jesus, aber wir haben noch 1800 Jahre gebraucht, um ihn umsetzen zu können. deshalb ist es verwunderlich, dass gerade Jesus gemeint haben soll, dass Judas als Verräter tausende von Jahren in einem wahren Marathon – verfolgt werden soll.
Statt der auf dem Interpretationsmonopol beruhenden bieten sich vielmehr zwei anders lautende Deutungen an.
Wollen wir einmal annehmen, dass Judas im letzten Moment vor dem Verrat zurückgeschreckt hätte wie wohl viele potenzielle Verräter haben dann wäre Jesus (erstens) nicht ausgeliefert worden und die Welt nicht zur Rettung freigegeben worden oder es hätte sich herausgestellt, dass der Sohn Gottes gar nicht der Sohn Gottes ist.
Zweitens gäbe es dann aber diese immerhin bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen dem alten und dem neuen Testament nicht, kurz: die Voraussagen wären nicht eingetroffen. Dann könnte man allein daran die Glaubwürdigkeit der gesamten Bibel anzweifeln.
Wenn wir das nicht wollen, müssen wir annehmen, dass der Verrat des Judas unumgänglich für den weiteren Verlauf der Geschichte war, und es ist unerheblich, ob wir mit Geschichte story oder history meinen. Man kann übrigens auch bezweifeln, dass ein allweiser Gott seinen Sohn opfern muss, um die Welt zu erlösen, aber wenn es so sein sollte, dann ist es ganz und gar ungerecht, falsch und böse, die Schuld dafür dem Boten anzulasten.
Vielleicht war Judas der Übereifrige, der nicht verstehen wollte, dass Jesus auch menschliche Schwächen, wie einen Lieblingsjünger, eine reuige Prostituierte und eine Salben verschwendende Verehrerin, hatte. Man stellt ihn sich ja – nach dem Meinungsmonopol als einen bösen, missgünstigen, immer und wenigstens aber merkwürdigen Menschen vor, seinen Selbstmord nimmt man wie ein Kleinstadtkommissar als Schuldeingeständnis.
Aber vielleicht war es ja ganz anders. Jesus, der sein Schicksal kannte und vorausahnen konnte (auch wenn er nicht Gottes Sohn war), bat denjenigen Jünger um den Verrat, von dem er annehmen konnte, dass er die Prinzipien und Voraussagen auf keinen Fall verletzt sehen wollte. Es tat Judas nicht um die Salbe leid, die verschwendet wurde, sondern um die Prophezeiung, die ohne ihn nicht eingetreten wäre. Dann aber zweifelte er mit Recht am Sinn der Prophezeiung. Warum muss der Messias, oder der ihm am nächsten kömmt, sterben? Er verehrte Jesus, aber er glaubte auch an den allweisen Gott. Er glaubte, dass jemand, der die Erde erbeben lassen könnte, auch das Gute im Menschen erretten können würde, noch dazu aus den Händen plebejischer, roher Söldner. Pontius Pilatus erwies sich als weise, aber feige, seine Frau dagegen war vorausschauend, aber ohnmächtig. Die Priester und Hohenpriester glaubten wie heute eher an sich selbst als an Gott. Judas dagegen glaubte an Prinzipien, zum Beispiel die Allgüte. Hatte Jesus nicht genau diese gelehrt? Nur wer ohne Sünde ist, greife zum ersten Nagel. Niemand würde Jesus kreuzigen können, meinte Judas. Über die beiden Mörder neben Jesus machte sich dagegen ohnehin außer Jesus keiner Gedanken.
Aber dann geschah es doch. Die Erde erbebte wie immer. Die Felsen schwankten wie immer. Jesus starb.
Judas hat sich nicht erhängt, weil er Jesus verraten hat, denn damit erfüllte er die Bitte seines Meisters, sondern weil Gott das Gute sterben ließ, wie schon so oft davor, wie so oft danach, wie immer. Aber genauso oft, ein kleines bisschen mehr sogar, hat das Gute überlebt.
Verrat kann also durchaus im Dienst eines Prinzips stehen, das der Menschheit zwar nicht direkt nutzt, aber zur Glaubwürdigkeit verhilft. Denn würden wir die Botschaft des Jesus so gerne hören, wenn wir wüssten, dass er hoch geehrt an Altersschwäche im Bett starb? Die Antwort lautet natürlich ja, denn wir verehren ja auch Albert Schweitzer und Mutter Teresa, obwohl sie nicht gekreuzigt wurden. Alle drei werden auch genauso heftig kritisiert wie verehrt. Der Märtyrertod wirkt aber ganz sicher verstärkend auf Glaubwürdigkeit und Verehrung.
Verrat ist menschliche Schwäche, wie Rache, wie Zorn, wie Neid. Die sieben Todsünden, und Verrat gehört ja noch nicht einmal dazu, sind das Psychogramm einer schwachen Menschheit. Gelobt sei, wer ihr aufhilft! Das gute Beispiel hilft viel, aber das böse noch besser. Denn je mehr wir uns ekeln vor unsresgleichen, desto besser könnten wir werden. Wenn nicht diese Verachtung schon wieder ein Gut verletzen würde: die Würde des Menschen. Die Würde ist das am schwersten zu verstehende, aber am leichtesten zu verletzende Menschenrecht!
Niemand soll zum Verrat ermutigt oder gar aufgerufen werden, aber auch niemand soll verachtet werden. Wir müssen mit den Verrätern leben, wenn wir nicht zu Verrätern werden wollen. Nicht zu denunzieren ist genau so schwer wie die Denunziation selbst. Wir müssen nicht über die dreißig Silberlinge nachdenken, weil es sich weder lohnt, dafür jemanden zu verraten, noch später darüber Betrachtungen anzustellen. Für sie gilt im übrigen Kants großer und merkwürdiger Satz, dass alles entweder einen Preis oder eine Würde habe.
Judas hat sich geopfert, einer der prominentesten und verachtetsten Verräter zu werden. Ihm ist zu danken, dass wir gründlich, aber auch endlich über den Verrat nachdenken können:
Kein politisches System darf den Verrat oder die Denunziation fördern oder gar fordern. Für eine Übergangszeit könnte und müsste man Mord oder andere schwere Vergehen gegen die Würde des Menschen ausnehmen. Aber dann, nach dieser Zeit, muss die liebende Fürsorge allein das schlechte Gewissen bewegen, Buße und Wiedergutmachung selbst einzuleiten. Das klingt naiv und töricht. Aber klang die Aufforderung, ohne Rache zu leben, nicht genau so naiv und töricht und wurde Jahrhunderte lang verlacht: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein?
Ich bin weniger sündig als mein Nachbar, deshalb kann ich den Stein werfen. Der Stein muss geworfen werden, also kann ich auch der erste seine, der ihn wirft. Wenn ich der erste bin, bin ich nicht der letzte, der den tödlichen Stein wirft. Steine wurden immer geworfen, der Mensch ist böse, er kann nicht ohne Strafe auskommen.
Und glauben nicht noch heute viele Menschen, dass man ohne die Todesstrafe nicht auskommen könnte? Allerdings gibt es nur noch neunzehn von 190 Regierungen, die das annehmen.
Da wir gerade dabei sind, die Strafen abzuschaffen, fangen wir mit den Strafen für die Boten an!
Es gibt da übrigens eine sicherlich von der Autorin nicht zufällig gewählte Paralelle zu der Beziehung von Severus Snape und Albus Dumbledore in den Harry Potter Bänden, aber das nur am Rande 😉
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an anderen rande: könntest du mir die stelle näher bezeichnen, band, kapitel wäre gut. ich finde überhaupt, dass frau rawling unterschätzt wird. allenthalben redet man über ihren (in der tat einmaligen) erfolg und über ihr geld (1.000.000.000 was auch immer, ich sehe gerade hier ist kein zeichen für pfund sterling, aber bei der summe ist die währung wohl gleich gültig), nicht aber über ihre fabulierkunst und (bisweilen) philosophische tiefe.
gruß
r.
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Oh je! Eine bestimmte Stelle wird schwierig. Bist du denn vertraut mit der Geschichte, sonst verrate ich am Ende noch etwas, das der Leser normalerweise mit detektivischem Genuss herausfindet.
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es ist ja auch nicht so wichtig. ich muss nur noch band 7 lesen.
vielleicht kommst du mal durch zufall auf/an eine bestimmte stelle. mir ist die ambivalente haltung und wirkung von snape bewusst, aber ich kann mich an keinen ‚verrat‘ erinnern. aber bei judas sehe ich ja auch keinen verrat. ich hoffe nur, die denunzianten sehen sich durch meinen artikel nicht ermutigt.
beste abendgrüße
r.
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