ALTE ZEITEN. BRIEF ÜBER NANOPARTIKEL

Erstens bin ich Rentner, zweitens ist es Winter, drittens befinde ich mich seit längerem in einer grippalen Endlosschleife, so dass es gerechtfertigt ist, sich auch einmal einen völlig blödsinnigen Film anzusehen. Manchmal reizt auch das Lokalkolorit, wie zum Beispiel die am meisten fotografierte U-Bahn-Brücke Eberswalder Straße, die damals allerdings Dimitroff Straße hieß. Der Film[1], den ich heute erwischte, war aber so idiotisch, dass auch die schönen Fotografien vom Berlin vor der Mauer nicht als Trost ausreichten. Der Film ist die Mischung einer missglückten Satire und einer lächerlichen Agitation über einen äußerst dummen Westberliner Staatsanwalt. Der Film unterstellt, dass Westberlin die umgekehrte Projektion der Ostberliner Verhältnisse wäre, etwa nach der Negativformulierung der Goldenen Regel: was ich selber denk und tu, das trau ich auch andern zu.

Aber dann entdeckte ich Horst Schönemann in einer Nebenrolle. Beim nebenbei-Nachblättern sah ich, dass er als Regisseur des Dresdner Staatsschauspiels dem damals frisch eingetroffenen Jungschauspieler Ahmad M. begegnet sein kann, laut Wikipedia aber nicht in einem gemeinsamen Projekt. Aber woher kannte ich Horst Schönemann?

Als ich ein kleiner Junge war (so der Titel der Erich-Kästner-Autobiografie aus Dresden), lebte ich mit meiner Großmutter in deren Elternhaus. Ihr Vater, also mein Urgroßvater, war ein self made man aus Bellinchen an der Oder gewesen, der einst mit seiner Gitarre losgezogen war, um dem elterlichen und lehrherrlichen Wahn zu entkommen. Er wurde ein wohlhabender Malermeister in Senftenberg. Nun lebten wir bei seinem Enkel Günther Wendt, der, obwohl auch Malermeister, den Beruf und das Geschäft aufgegeben hatte, Kunstmaler, Sgraffiteur und Museumsdirektor geworden war, gemeinsam mit seiner Frau, nachdem diese aus der zehnjährigen GULAG-Haft zurückgekehrt war, ganze Ausstattungen für das Theater der Bergarbeiter[2] gefertigt hat, sie die Kostüme, er das Bühnenbild. Dieses Theater, übrigens in einem wunderschönen Bruno-Taut-Bau, war eine Art Modellbühne für das Deutsche Theater und das Maxim-Gorki-Theater in Ostberlin. Viele Biografien später berühmter DDR-Schauspieler, aber auch des Kreisredakteurs der Lausitzer Rundschau, Erwin Strittmatter, gingen durch das Wohnzimmer meines Onkels Günther. Und die angetrunkenen Gäste wankten zur Toilette durch das Atelier, in dem ich als riesige Kohlezeichnung an der Wand hing, sie war eine Vorlage für irgendeine Zeitung. Leider ist sie verloren gegangen. Damals erkannten mich die illustren Gäste auf dem Hof wieder, der heute bei Wikipedia als mustergültiges Denkmal abgebildet ist.

Beim Überfliegen der Wikipedia-Seiten fiel mir ein Film auf, an dem Sven D. als Redakteur und Ahmad M. in einer Nebenrolle mitgewirkt hatten: UNSICHTBAR, ein MDR-Tatort. Der Film ist als überladen kritisiert worden, ich finde, dass er, im Gegenteil, die Komplexität des Lebens zeigt, wobei die unsichtbaren Nano-Partikel gleichzeitig auch Metaphern für unsere Angst vor dem Verschlungenwerden sind: eines Tages werden wir perfekt verschwunden worden sein, der Traum aller Diktatoren und Geheimdienste und der Alptraum von uns armen Bürgerinnen und Bürgern. Lediglich für den Schluss hätte man noch einmal neunzig Minuten ausgeben müssen. Obwohl ich schon lange kein Fernseh- und Tatortkonsument mehr bin, war mir doch aus früherer Zeit der Name des MDR-Redakteurs aufgefallen. Was mich mit ihm verband, weiß ich nicht mehr, auch nicht die Klasse, in der er war. Jedenfalls war er eines Tages bei mir zuhause, und das Gespräch hatte meiner Erinnerung nach zwei Inhalte. Der erste Punkt war die Geschichte von der Stasi-Falle, in die ich nicht tappte. Ich war mit jener Klasse, in der Ahmad M. war, an der Müritz und wir zählten dort Graugänse und sahen uns alte Gebäude an, manche – so in Waren – waren kurz vor dem Einsturz, wie auch die Seitenkapelle einer sehr schönen Stadtkirche. In dieser Stadt kann man noch deutlich die Teilung in den einst slawischen und den dazugekommenen deutschen Teil sehen. Die Pastorin erklärte uns, dass die Rettung der Seitenkapelle gar nicht so sehr am fehlenden Material, sondern an der – wie man damals sagte – fehlenden Kapazität scheiterte: kurz, es gab keine Maurer, keine Firma und auch kein Geld. Da sagte einer der Schüler, vielleicht war es auch eine Schülerin, warum machen wir das eigentlich nicht? Einige Wochen lang wurde alles vorbereitet, eine neue Klassenfahrt beantragt, die Pastorin besorgte Quartiere, Essen und Material. Aber an dem Sonntag, nach dem es losgehen sollte, kam eine Schülerin zu mir und sagte mir, dass ihr Freund, ein Volkspolizei-Offiziersschüler, bei der Stasi sei und unsere Pläne verraten habe. Wir würden, sagte sie, ins offene Messer laufen und an der Tür zur Kapelle von den ‚Genossen‘ begrüßt werden. An diesem Sonntagnachmittag musste alles zurückgedreht werden. Die Klasse hatte einen Alarmplan mit teils telefonischer, teils persönlicher Information. Die Pastorin konnte aus – wie man damals so schön sagte – Sicherheitsgründen nicht angerufen werden, denn sie wurde garantiert abgehört, meine Schwester musste mit mir, weil ich kein Auto und keinen Führerschein hatte, in die kleine Stadt fahren, und am Montag früh musste ich dem Schulleiter meinen Fehler eingestehen. Der fand es richtig, dass ich ihm die Wahrheit sagte oder wusste er sie schon? Denn 1990 stellte sich heraus, dass auch er bei der Stasi war. Den Schülern habe ich nicht die Wahrheit gesagt. Bei der Zeugnisausgabe sagte trotzdem der Großvater eines Schülers, dass ich mich nur an ihn hätte wenden müssen, um das Unheil abzuwenden. Angeblich war er ein Stasi-General. Aber später, nach Erscheinen etlicher Handbücher suchte ich ihn vergeblich. Er stand in keiner Liste der Stasi-Generäle. Vielleicht war er beim KGB, dafürspricht, dass auch sein Enkel, mein damaliger Schüler, 1990 Deutschland verlassen hat. Ich erzählte Sven D. diese Geschichte unter der Maßgabe der Verschwiegenheit, so wie damals üblich. Aber er, wahrscheinlich der geborene Redakteur, bemerkte die Schleifspuren meiner Erzählung, was mich doch ein bisschen ritzte, obwohl es für seine Fähigkeiten sprach. Das zweite Thema kratzte noch mehr an meiner Konfidenz. Er fragte mich, warum ich eigentlich nur Lehrer an einer nicht besonders herausragenden Schule bin, um es freundlich auszudrücken. Je wortreicher meine Erklärungen waren, desto peinlicher wurden sie von Satz zu Satz. Erkläre mal deine Faulheit und Trägheit, deinen mangelnden Ehrgeiz und die Sucht nach dem schnellen Beifall! Andererseits bin ich froh, dass ich kein DDR-Schriftsteller geworden bin, auch kein DDR-Pädagoge, dass ich das gut und als Auszeichnung gemeinte Angebot zum Promovieren und Forschen abgelehnt habe, weil ich meine mittelmäßige Schule dafür verlassen und an die von Margot Honecker kontrollierte Forschungsschule der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften hätte wechseln müssen. Erst Ahmad M. erklärte mir, viel später, im vorigen Jahr nach einer Aufführung von Lessings NATHAN DER WEISE mit ihm als Titelfigur die Vergänglichkeit auch des längerfristigen Beifalls. Auch der Künstler, der das geworden ist, was er hatte werden wollen, leidet und dem Mangel an Mehr. Trotzdem hatte Sven D. damals recht. Ich habe ihn nie wiedergesehen, nur seinen Namen manchmal im Abspann von irgendwelchen Fernsehfilmen. Aber sind nicht die beiden und zum Glück noch einige andere die lebenden Beweise dafür, dass es nicht schlecht ist, wenn an einer, wie ich damals gerne sagte, gewöhnlichen Dorfschule gute Lehrer sind, denn ich war nicht der einzige. Auch nach der Wiedervereinigung konnten wir noch gut zwei Jahrzehnte den humanen genius loci unserer Schule beibehalten, dann fielen wir dem Versetzungs- und Verschiebewahn der eher unfähigen Berliner Schulverwaltung zum Opfer. Der Preis dafür war aber ein wunderschöner Schulneubau von Reimar Herbst[3], ein Beispiel für das Theseus-Paradoxon: es wird so lange repariert und reformiert, bis nichts mehr da ist.      


[1] Fackelträger, DEFA 1957

[2] jetzt Neue Bühne Senftenberg

[3] damals Seniorchef von herbst architekten

VERSCHWUNDEN

Wir müssten wohl lange suchen, um einen geeigneteren Ort für ein Drama über Flucht und Vertreibung zu finden, als das ‚intime theater‘ im Hugenottenpark in Schwedt. Schon die Lage direkt an der Oder, dem kleinsten unserer großen Flüsse, der, anders als der gegenüberliegende Rhein, erst spät zum Grenzfluss wurde. Aber hier kreuzten sich die Wege von Slawen und deutschen Kolonisten, Juden siedelten sich, so der Plan, auf Dauer an, dann kamen die Hugenotten und brachten Tabak und Spargel mit, und mit dem Ende des, wie wir dachten, letzten Krieges fanden, obwohl alle Brücken zernichtet waren, die Deutschen von zuhause nach zuhause. Jetzt erfreuen wir uns an einer fleißigen und gewinnbringenden polnischen Einwanderung, die nicht die erste ist. Und es kommen Ukrainerinnen, die auf das Ende des nun wirklich letzten Krieges oder auf die zweite Chance warten.

In diesem ‚intimen theater‘ gab es im März 2023 als deutsche Erstaufführung Elise Wilks Spektakel ‚Verschwinden‘ über das Verschwinden der Rumäniendeutschen in den achtziger Jahren und vor allem um 1990, nach dem Sturz der Ceauşescu-Diktatur. 

Uns ‚aus dem Reich‘, wie die alten Siebenbürger Sächsinnen und Sachsen uns benannten, waren Sprache, Religiosität und Bräuche in Siebenbürgen und im Banat altertümlich und idyllisch, vertraut und fremd zugleich, heimelig allzumal. Mir erschien diese wunderschöne Kultur, von der Sprache  einmal abgesehen, eher wie Folklore, wie die Sorben in der Lausitz, deren Leben damals auch noch etwas kohärenter um Sprache, Tracht und Religion kreiste. Heute gibt es nur noch winzige Inseln, wie zum Beispiel den Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner in Roşia (ehemals Rothberg), den ich vor einigen Jahren, sozusagen als Abschied vom deutschen Siebenbürgen besucht habe. Unser Auto, ein unspektakulärer Ford Escort Kombi, war von etwa 50 Romajungs umringt, die jede Funktion des Wägelchens erklärt und vorgeführt haben wollten. Ihre Familien haben mit Schlattners Unterstützung das ehemals vollständig deutsche Dorf besiedelt, er organisierte ihnen eine Waldorfschule. Unser langes Gespräch mit ihm über seine drei höchst lesenswerten Romane aus einer zeitlich und räumlich fernen, aber dennoch deutschen Inselwelt wurde durch das Erscheinen von vielleicht hundert Pfadfindern beendet, mit denen wir dann in seiner 800 Jahre alten Kirche DONA NOBIS PACEM sangen.

Zeitgleich verschwanden Elisa Wilks Verwandten und Freunde und verdichteten sich später und sukzessive zu dem lesens- und hörenswerten Theatertext ‚VERSCHWINDEN‘. Er zeigt das Leben und die Remigration einer rumäniendeutschen Familie. Dieses Prisma – die Familie – überdeckt aber die politischen oder historischen Zusammenhänge. Eine große Menge von Rumäniendeutschen musste in der Sowjetunion, nämlich in Kriwoi Rog, im Donbas oder in Sibirien, den Preis des Tickets für deutschen Größenwahn und deutsche Grausamkeit bezahlen. Eine ehemals Banater Punklady hat später einen Roman* darüber geschrieben und prompt den Nobelpreis für Literatur dafür bekommen.  In den Familien wurde darüber nur geflüstert. Auch über die Bestechungssummen für die Securitateverbrecher, die den Weg zum Verkauf der Häuser an sie und der Hausbewohner an Deutschland organisierten, wurde nur geflüstert. Der arme Junge (Lennart Olafsson), der, weil er schwul war und erpresst wurde, sich in einer höchst anrührenden Szene als Denunziant outen muss, muss ebenso flüstern. Aber das Mädchen (Adele Schlichter), das ihn bis dahin liebte, liebt ihn trotz des nun verdoppelten  Hindernisses weiter und weiter. Alle Schauspieler, auch Ines Venus Heinrich als Kathi, müssen ihre Rollen tauschen. Dadurch entstehen ganz nebenbei fast Brechtische Etüden für Schauspieler, die alle als Meisterin und Meister bestehen. Zur Hilfe für uns Zuschauer sind die Koffer wie universelle Migrantenmetaphern und wirkmächtige Requisiten mit Namen beschriftet. Migration ist Rollentausch. Die Wanderung von Mensch zu Mensch hat ein neues Modewort hervorgebracht: Empathie, das Einfühlen in die Mitmenschen. Die auf Individuation gerichtete Wohlstandsgesellschaft tut sich schwer damit, doch die Migration aus Osteuropa, aus dem Nahen Osten, aus Afghanistan und mehreren afrikanischen Ländern erinnert uns an diese grundmenschliche und grundanständige Fähigkeit, die uns allen innewohnt, auch ihren Leugnern. Leugnen hilft weder vor dem irdischen noch beim Jüngsten Gericht. Wenn das Haus brennt, können wir nicht nach der Herkunft seiner Bewohner fragen, so kann man es schon in einem berühmten zweihundert Jahre alten Großrührstück** lesen, das für mich in den Olymp des Theaters und der Weltnarrative gehört.

Das Prisma der Familie schluckt die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Wir sehen und hören eine Familie, die einen Weg zum Glück (?) sucht. Das ewige Dilemma zwischen Hierbleiben oder Weggehen hat zwei gleichschlechte Lösungen: hierbleiben oder weggehen. Das ist überall so, nur in Migrationsgruppen ist es verstärkt wie in einem Brennglas. In einem ehemals pommerschen Dorf dagegen sprach alles für Hierbleiben, und trotzdem gingen immer einzelne weg und rannten in ihr Glück oder Unglück. Wie in einem Mikroskop deckt die Familie und ihr er Einzelne seine einzige wirkliche Identität auf: das Menschsein. Als die Siebenbürger Sachsen aus Deutschland verschwanden, fehlten sie nicht. Als sie achthundert Jahre später aus Rumänien verschwanden, fehlten sie ebenso wenig. Wir sind im wesentlichen doch eben nur Menschen, nicht Deutsche oder Russen, nicht Frauen oder Männer, nicht Alte oder Junge, nicht Muslime oder Christen, nicht Rechte oder Linke. In jeder Familie der Welt gibt es die gleichen Probleme, und, was noch verwunderlicher ist, die gleichen Lösungen. Mein Vorfahr kam aus demselben Grund aus der Wallonie nach Deutschland, aus dem mein Freund aus Eritrea hierher kam. Aus wieder dem gleichen Grund gingen Verwandte von mir nach Amerika, andere Eritreer nach Israel, Israelis nach Berlin, obwohl das einst die Hauptstadt des Rassismus und der Mörder war. Auch die Siebenbürger Sachsen gingen und kamen. Beinahe möchte man sagen: und so weiter und so fort. Natürlich gibt es Unterschiede, aber sie sind marginal. Natürlich gibt es Fortschritt, aber er ist nicht so gigantisch wie die Anhänger von Hegel glaubten oder jedenfalls an die Häuserwände schrieben. Leider wird auch jeder noch so kleine Fortschritt immer wieder durch Krieg und Autoritarismus zunichte gemacht. Und das findet sich dann in der vom Unglück verfolgten Familie wieder, auch in dieser Theaterfamilie. Das Bühnenbild zeigt sowohl die Vereinzelung in den sechs Kabinen. Sie sind zwar mit Mikrofonen ausgerüstet, aber die helfen nicht gegen Schwerhörig- und Hartherzigkeit. Demgegenüber bleiben die Koffer zwar benannt, aber beweglich.

Wenn wir nach einem Sinn für unser Leben suchen, so werden wir ihn nicht in unserer Herkunft finden, so edel sie uns auch beschrieben worden sein mag und wie heroisch unsere Ahnen auch auf den Fotos winken mögen. Der Sinn findet sich, wenn überhaupt, in der über uns selbst hinauswachsenden Tat. Und der Markt für Taten ist groß und überall.      

*ATEMSCHAUKEL von Herta Müller aus Niţchidorf (ehemals Nitzkydorf) im Banat

**NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing aus Kamenz in Sorbien

HEIMATLOSE NATIONALISTEN UND NUTELLAFARBENE GELIEBTE

Nr. 253

Die Weltbürger wissen, wo sie hingehören, während die Nationalisten immer und immer ihre Heimat suchen, und sie ist immer verloren, weil heute nichts ist, wie es gestern war. Oft hört man diesen emphatischen Satz: nach dem und dem Ereignis ist nichts mehr, wie es war. Das gilt auch für Tage, an denen nichts passierte, nur da merken wir es nicht oder weniger. Das Altern beginnt am Tag der Geburt. Das Meer beginnt in der kleinen Gebirgsquelle. Die Stadt fängt mit ihrer skyline an.

Der Nationalist sucht also eigentlich keinen Ort, sondern eine verlorene Zeit. Seine Aggressivität speist sich aus einer notwendigen Erfolglosigkeit, denn die Suche nach einer verlorenen Zeit ist nicht sinnlos zwar, aber auch nicht zielführend. Vergangenheit kann man produktiv machen, indem man ihre Erfahrungen nutzt, oder man kann sie als durchlöchertes Schutzschild vor sich her tragen. Ein Ort ist immer seine Geschichte und sein Fluch und seine Flucht.

In der kleinen Stadt Cottbus steht eines der schönsten Theater Deutschlands. Es ist ein Jugendstilbau auf einem weiträumigen Platz, der mit schönen Bürgerhäusern aus eben der Zeit umstellt ist. Jugendstil ist ja eine gutgelaunte, verspielt-barocke und doch aber auch schon moderne Stilrichtung, die freundlich und hell in die Welt gestellt scheint. Wenn man genau hinsieht, erkennt man auch klassizistische und ägyptisierende Formelemente. Klassizismus ist eigentlich nie aus der Mode gekommen. Wenn man sich die neue Nationalgalerie in Berlin ansieht, dann kann man leicht erkennen, wie der Neumeister Gropius Anleihen beim Altmeister Schinkel aufnahm. Und so kann man auch im Stadttheater Cottbus die Verwurzelung des Jugendstils in seinen Ahnen erkennen. Zwei Querstraßen weiter und drei Jahre später wurde das erste Kino Brandenburgs mit architektonischen Anleihen beim Theater gebaut und es erhielt den passenden Namen ‚Weltspiegel‘ und das sind Theater und Kino auch wirklich: Spiegel und abgekürzte Chronik der Jahrhunderte, wie es im Hamlet heißt.

Der Reisende aus Frankfurt am Main oder Hamburg oder München mag glauben, dass er in die tiefste Provinz gelangte, wenn er nach Cottbus kam. Der aufmerksame Wanderer sieht, dass Cottbus neben Dannenberg, Havelberg, Bautzen, Lübbenau und Usedom einer der Schmelzpunkte slawischer und deutscher Kultur ist. Zwar gab es 948 den großen Slawenaufstand, aber wir wissen nicht, ob der Aufstand oder die jahrhundertelange Assimiliationsgeschichte kulturbildender gewesen ist. Der Widerspruch zwischen Freiheit und Ordnung hat sich auch in den Niederungen zwischen Elbe, Havel und Spree als Kampf und Anpassung zugetragen. Während die eine Interpretationsgeschichte immer nur die Konkurrenz und den Überlebenskampf betont, weiß die andere Linie schon lange von der evolutionsfördernden Kraft der Kooperation. Der Fitteste, der angeblich nur überlebt, ist also keinesfalls der körperlich stärkste, vielmehr kann der körperlich schwächste alle die empathischen Kräfte in sich vereinen, die er durch seine Schwäche angezogen hat. Darwin hat die Metapher vom surviving of the fittest von Herbert Spencer übernommen und sich im Vorwort zur fünften Auflage seiner ‚Entstehung der Arten‘ dafür entschuldigt, dass er nichts besseres gefunden hat. In der Natur herrscht, wenn überhaupt jemand, Reichtum, nicht Armut, wusste schon der aufmerksame Leser Nietzsche, der auch herausfand, dass fit sein und lesen sich nicht widersprechen.

Der zweite Punkt, der Cottbus zur Weltstadt macht, ist der berühmteste Bewohner, der Fürst von Pückler-Muskau. Er war einerseits ein damals hochberühmter Weltreisender, den Goethe befragte und der sich mit dem Freiherrn Alexander von Humboldt – von dem ihn aber Millionen von Thalern trennten – weltläufig über die Welt austauschte. Andererseits war er ein absolut bodenständiger Parkgestalter und Landschaftsarchitekt, dessen Markenzeichen, riesige Rotbuchen, wuchtig und lieblich zugleich, seine teils französischen, mehr aber englischen Parks zu Inseln der Geborgenheit inmitten einer als Heimat empfundenen Welt wurden. Dieser Fürst, der immer pleite war und sich Geld borgen musste, brachte von einer seiner Reisen die erste freie Afrikanerin mit, Machbuba aus Äthiopien, die in Europa, nämlich als seine Geliebte, lebte. Er hatte sie auf dem Sklavenmarkt in Kairo gekauft, sie war wahrscheinlich aus dem Volk der Oromo. Aber ist man als Geliebte oder Geliebter frei? Ist man als AfrikanerIn in Europa frei? Ist man als EuropäerIn in Afrika frei? Ist der Gläubige frei? Ist der Gläubiger frei? Vielleicht heißt Freiheit nur Unkenntnis der Bindungen. Andererseits, schreibt Hegel, ist der Unwissende unfrei, denn er lebt in einer Welt, die er nicht gemacht hat. Je mehr man weiß, desto mehr weiß man auch, dass es keinen Ort und keine Zeit gibt die stehenbleiben.

Das alles wusste man oder hätte man in Cottbus wissen können. Doch trotzdem schrieb man im Jahre 1908 an das weltläufige Theater: DER DEUTSCHEN KUNST. War es also ein Theater gegen die Hälfte der Einwohner, die Sorben? War es ein Theater gegen den Fürsten von Pückler-Muskau, der in dem von ihm geschaffenen Park Branitz in einer undeutschen Pyramide begraben liegt, nicht weit von seiner nutellafarbenen Geliebten, die an Heimweh starb? War es ein Theater, in dem kein Shakespeare gespielt wurde, ohne den kein Theater denkbar ist, so wie keine Musik ohne Bach und kein Bild ohne Michelangelo denkbar ist? War es ein Theater ohne Ibsen, der ewige nationalistische Asylant oder asylsuchende Nationalist, dessen letztes Wort ‚im Gegenteil‘ war? Das Theater selbst kommt in seiner heutigen Form aus Griechenland, in seiner allgemeinen Form aus jedem Kinderherzen. War es also ein Theater ohne Theater?

Wer aus der Kunst eine ‚deutsche‘ Kunst zu machen glaubt, glaubt auch an eine ‚deutsche‘ Leitkultur, an Menschen, die sich nur in Deutschland die Hand geben. Wir sind alle Unwissende, die in einer fremden Welt leben, die wir nicht gemacht haben. Aber uns ist ein Verstand gegeben, Augen zu sehen, Ohren zu hören. Wir alle leben von und durch Vertrauen und Kooperation, nicht und niemals von Neid und Geiz, Hass und Missgunst.

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