THESEUS IN PASEWALK

Theseus war ein sagenhafter König in Athen, und seine Heldentaten waren derart übergreifend und groß, dass man sein Schiff, das Medium seines Handelns, als Museum aufbewahrte und verehrte. Allerdings machten sich im Laufe der Jahrtausende Restaurationen und Erhaltungsmaßnahmen notwendig, so dass nach einiger Zeit nicht mehr erkannt werden konnte, was alt und echt und was neu und synthetisch war. Plutarch machte aus diesem Streit ein philosophisches Paradoxon.

Die Marienkirche zu Pasewalk, deren älteste Bauformen auf das Jahr 1178 zurückgehen, gotische Gestalt nahmen sie vielleicht um das Jahr 1350 an, prangt als übergroßes Mahnmal der Verwandlung. Am 7. August 1630 beschlossen kaiserliche, also katholische Soldaten, die Kirche niederzubrennen. Das geht nur, wenn man den Dachstuhl, der wahrscheinlich aus Eichenbalken besteht, zum Brennen und Einstürzen bringt, nur so zerstört man sicher das darunter liegende Gewölbe. Zum Schluss bleiben nur die Grund- und Umfassungsmauern stehen. So geschah es. Das Wüten der katholischen Soldaten ist als ‚Pasewalker Blutbad‘ in die unrühmliche Geschichte eingegangen. Erst 1734 begann der Wiederaufbau, der um 1850 mit der neogotischen Instandsetzung des Innenraums abgeschlossen wurde. Der große Baumeister Friedrich August Stüler bemerkte bei dieser Gelegenheit die künftigen statischen Probleme und ließ die Stützwerke aller Joche noch heute sichtbar verstärken. Das hielt fast 150 Jahre. Aber in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1984 brach die Nordwestecke des Turms, am nächsten Tag der gesamte Turm zusammen. Bei der anschließenden Sprengung der Reste des Turms, die aus Sicherheitsgründen notwendig erschien, stürzten die westlichen beiden Joche mitsamt aller Einbauten, einschließlich der größten Kaltschmidt-Orgel Mecklenburgs und Pommerns, ein. Im März 1986 deckte ein Orkan das Dach des ungesicherten Bauwerks ab. Das schien das Ende der Kirche zu sein. Die Hoffnung kam jedoch schon am 9. November 1989 aus Berlin. Der Zusammenbruch der DDR könnte die Auferstehung der Marienkirche sein, so dachten die Pasewalker Aktivisten. Tatsächlich bildete sich bald ein Freundeskreis, der Gelder generierte, und die bauliche Lösung für die nächsten 500 Jahre wurde ein Gleitkern aus Beton, mit Feld- und historisierenden Backsteinen ummantelt. Nun sieht man wieder von fern und nah: die viel zu große und überaus schöne Marienkirche. Aber ist es noch die Marienkirche? Und sind die Pasewalker noch die Pasewalker?

Allein das Trauma des Einsturzes eines jahrhundertealten äußerst stabilen Gebäudes muss die Menschen, die rings um dieses Gebäude wohnten, verändert haben. Hinzu kommt, dass 1989 nicht nur eine staatliche Ordnung, sondern auch eine durch lange Traditionen gestützte Lebensweise zerbrach. Viele Menschen wurden haltlos. Ihr Strohhalm ist fortan nicht die Kirche, denn die ist selbst eine Ruine.

Viele Menschen starben seither, nicht so viele wurden geboren. Viele sind weggezogen, einige kamen hierher. Aber auch schon vorher gab es drastische demografische Verschiebungen. Wenn man sich die heute zum großen Teil leerstehende Kürassierkaserne ansieht, ein schöner und monumentaler neogotischer Bau, dann kann man erahnen, welchen demografischen Einfluss die tausenden von Soldaten auf die weitgehend unverheiratete und unbefriedigte Bevölkerung hatte. Gerade also das traditionalistische Element, das oberflächliche Beobachter als Stabilisator der Kontinuität ansahen, hat die scheinbare genetische Homogenität aufgelöst. Überhaupt erwiesen sich die Garanten der Ordnung Monarchie, Kirche und Militär als Katalysatoren der Zerstörung. Oswald Spengler mag dies in seinem umfänglichen und symbolisch beachteten Untergangswerk gemeint haben. Aber damit trafen weder er noch seine Nachbeter den Kern der Sache.

Ein Kern der Sache ist das Theseus-Paradoxon: Identität löst sich auf, Definition ist immer provisorisch, die Gestalt wandelt sich, das Wesen wird Schatten, Herkunft verblasst gegen Zukunft. Selbst die festen Felsen beben, wusste schon Goethe. Hier gleichen sich, um bei Goethe zu bleiben, auch Natur und Kultur, beide verändern sich und lassen sich verändern. Das Einzige, was bleibt, ist der Wechsel. Das ist inzwischen Binse.

Aber warum bildet sich der doch recht einfache Zusammenhang nicht in der Politik ab und was macht das Problem der Demokratie mit uns?  Auch in der Politik gibt es, mit wechselnden Prioritäten und großen Schnittmengen, die Bewahrer und die Beweger. Die Bewahrer haben es leichter, weil sie verkünden, dass das Gestern, was jeder kennt, besser ist als das Morgen, was keiner kennt. Die Beweger dagegen wirken unsicher. Das Unbekannte verunsichert. Nur, wer zurück geht, kennt die Straße. Uns bestärkt zudem ein einfacher biologischer Umstand: mit neunzehn Jahren waren wir alle schön und stark. Unser Ideal liegt so gesehen immer hinter uns. Hinzu kommt: vieles ist bewahrenswert wie das Schiff des Königs Theseus, in Pasewalk die Marienkirche. Schnell aber wird man Pygmalion[1], auch er ein König, und verliebt sich in eine selbst geschaffene Statue. Wir beten seit altersher die selbst geschaffenen Symbole, Ikonen und Statuen an. Wir lieben auch im andern gern uns selbst. Wir sehen im Heute oft das Gestern. Selbst der Computer meldet: Ihr Endgerät wurde wiedererkannt. Thesaurus ist eine nach dem König der Veränderung benannte Schatzkammer oder Sammlung. Das Leben ist eine Sinuskurve, aber oben und unten heißt hier nicht gut und schlecht – wie beim Vermögen -, sondern bewahren und bewegen, jegliches zu seiner Zeit. Im Idealfall ist das eine ausgeglichene Pendelbewegung, die sich als Sinus abbilden lässt. Aber wann gibt es den Idealfall? Eher fällt das Ideal in sich zusammen.

Das Gestern dagegen ist immer sagenhaft, nie real. Wir erinnern uns lieber und öfter an unser Ideal als an die unliebsamen Fakten, die wir zudem weder wissen, noch recherchieren können. Auch die objektivsten Geschichtsbücher wurden von Subjekten geschrieben. Der König liebt sein Schiff, an dem tausend Arbeiter in tausend Jahren tausend Planken ausgetauscht haben. Der Christ und der Architekturliebhaber in Pasewalk, sie lieben ihre Kirche, obwohl kein Stein auf dem andern blieb, nur die Idee blieb erhalten: Die Idee heißt Halt. Wir suchen immer einen Halt, Leitplanken, Sicherheitsgurte, Baugerüste, Garantien, Versicherungen. Und trotzdem überleben so viele von uns das Blutbad, das es neben dem Ideal auch gestern gab. Danken wir dem König, der uns diese schöne Legende, dieses kraftvolle Paradoxon schenkte, über das man noch weitere mehrere tausend Jahre wird nachdenken können. Aber, fahren wir wie Brecht fort, dem Arbeiter sei auch gedankt, der das Schiff und das Kirchenschiff immer wieder aufbaut. Und nun stellen wir uns wie Albert Camus Sisyphos als glücklichen Menschen vor.


[1] Ovid, Metamorphosen

APOKALYPSE IN PASEWALK

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Die Welt ist nicht voller Teufel, die noch Luther an  die Wand malte, sondern voller Dystopien. Man kann vermuten, dass sie Hochkonjunktur haben, weil so viele Menschen nicht nur an Adipositas und Bluthochdruck, sondern auch einfach an Überdruss leiden. Die Inflation an Menschen, Geld, Dingen und Informationen hat zu dem falschen Schluss geführt, dass es gar keine Botschaften mehr gibt, sondern nur noch Medien. Dieser legendäre, aber keineswegs zutreffende Satz stammt von Marshall McLuhan, der wenig spektakuläre Roman über die ausgefallene Apokalypse in Pasewalk dagegen rührt aus dem Laptop von Daniel Marschall[1], das höchstwahrscheinlich mit einem automatischen Storyteller versehen ist. Die Hälfte des apokalyptischen Potentials von Pasewalk, die Verwandlung des Gefreiten Hitler in den ersten Trommler Deutschlands, wurde wenigstens erwähnt, ohne jedoch Bezug zum Geschehen zu erhalten. Die andere Hälfte, der Einsturz der Sankt Marienkirche am 3. Dezember 1984 dagegen wird ignoriert. Es gibt also im Plot des Romans keinen erkennbaren Grund, warum das Ende des aztekischen Kalenders ausgerechnet in Pasewalk ausgesetzt und gerade deshalb dort gefeiert werden soll. Die Schlusspointe, dass die ganze Apokalypse dann als Volksfest in den auf Anordnung des Bürgermeisters errichteten Bratwurstbuden stattfindet, lässt das Buch wenigstens als Farce oder Groteske konsequent erscheinen. Die beiden Hauptfiguren, der von seinem Alkoholismus verfolgte einstige Starreporter Konrad Fall und sein Gegenspieler, der Volontär Andrej Fischer, sind ziemlich schematisch in einen strikten Generationskonflikt verstrickt, der zum Teil über die Technik abgewickelt wird. Das ist reichlich langweilig. Viele Menschen haben Angst vor der Künstlichen Intelligenz, von der sie längst umgeben sind. Es ist müßig, auf die einstige Angst vor der Eisenbahn zu verweisen, da die Informationstechnik tatsächlich näher am Menschen ist, als es damals die Eisenbahn war. Andererseits vollzieht sich der technische Fortschritt auch ohne die ausdrückliche Zustimmung jedes einzelnen Menschen. Jedoch ist dieser technische Fortschritt auch wieder nicht zwangsläufig, sondern kann bei Bedarf auch zurückgenommen werden, wie die Atombombe und die Plastiktüte anschaulich beweisen.

Dass Nachrichten, Kommentare und Interviews über Ereignisse produziert werden, die nicht stattgefunden haben, befürchten viele Menschen und diese werden durch die ausbleibende, aber medial durchaus existierende Apokalypse bestätigt. Wie aber jede Kapitalismuskritik, so blendet auch diese als Medienkritik getarnte den Konsumenten aus. Das Streben nach Maximalprofit, hier durch maximierte News erzeugt, hat auch die Kehrseite der – wenn auch verführten, so doch – mitspielenden Konsumenten. Das Fleisch wird immer billiger und immer schlechter, weil es gekauft wird, nicht nur weil der Produzent nach Maximalprofit giert. Der Konsument giert genauso wie nach Billigfleisch auch nach extraordinärer Nachricht. Man kann es gut in der jetzigen Krise beobachten. Sie wäre weitaus leichter zu überstehen, wenn wir nicht viertelstündlich an sie erinnert würden. Das ist aber nicht nur den Journalisten, ob nun mit Textbausteinen oder nicht, sondern vor allem  auch jenen  Nervenkitzel suchenden Zuhörern, Zuschauern und Kommentatoren geschuldet. Wir erleben eine Revolution des Kommentars, zu dem sich jeder berufen fühlt. Wir erleben eine Inflation der Meinung, zu der die Demokratie ermutigt hat und vor der sie jetzt zurückschreckt. Diese persiflierenden Passagen des Romans sind durchaus belustigend und damit unterhaltend. Es gibt sogar auch berührende Momente, etwa die erotische Annäherung des armen Konrad Fall an die mollige und Abenteuern zugewandte Gattin des Bestattungsunternehmers, der einst beinahe Skisprungweltmeister geworden wäre. Auch die erneute Annäherung an die beiden Krankenschwesternazubis in der Kneipe, die übrigens ein Atavismus ist, solche Kneipen gibt es gar nicht mehr, hat kurz einen durchaus verständlichen und liebenswerten Impuls, der aber dann sofort wieder in die groteske Schieflage kippt. Der polnische Philosophiestudent, dessen Deutsch aus Kochbüchern gespeist ist, hätte den Karrieresprung zur wirklichen und bleibenden Romanfigur geschafft, wenn nicht auch er in die Farce umgeleitet worden wäre. Es ist ein Roman aus lauter Kasperlefiguren.

Auch das Potenzial der nach Pasewalk importierten Ernst-Thälmann-Siedlung aus Viereck ist leider etwas verschleudert worden.

Über diese Siedlung, die nach dem Arbeiterführer benannt wurde, der niemals gefallen sein soll, gibt es schon ein merkwürdiges kleines Büchlein aus dem Mitteldeutschen Verlag[2], das zwar nur die jetzt abgerissene Schule beschreibt, aber die gleichnamige Siedlung meint. Das Gespenstische dieses verlassenen Ortes wird in lyrisch-lapidaren Texten geradezu besungen. Die Fotos betonen das Dokumentarisch-Unwirkliche. Unserem Roman dagegen hilft noch nicht einmal die nicht ausgedachte Kunstaktion in den leeren Wohnblocks. Sie war ein tatsächlicher Versuch der Belebung des Verblichenen.

In diesem Büchlein wird in dem längsten Text geschildert, wie es einer ganzen Schulklasse aus dieser Militärsiedlung in Wochen nicht gelingt, gleichzeitig zu marschieren und zu singen. Wir müssen nicht im Gleichschritt und Gleichklang mit all unseren Raum- und Zeitgenossen sein. Wir müssen nicht ununterbrochen Billigfleisch von gequälten Tieren in uns hineinfressen. Wir müssen nicht Tag und Nacht Nachrichten über nicht stattfindende Ereignisse schlürfen. Jedes Endgerät hat eine Powertaste. Wenn man ihm die Power entzieht, schweigt es. Man muss auch nicht zu all und jedem seinen Kommentar abgeben. Man muss sich auch nicht über jeden Kommentar empören. Überhaupt ist empören leichter als verstehen oder verzeihen.

Von all dem  steht in dem Roman, in dieser teils albernen, teils düsteren Dystopie nichts. Er ist in das Jahr 2023 vorverlegt, bleibt aber der Vergangenheit (Kneipe!) weit mehr verhaftet als der zum Glück nicht voraussehbaren Zukunft.

Meine Schlusspointe ist genauso traurig: in Pasewalk, dieser durch und durch – bis auf die zwei Ausnahmen – unapokalyptischen Stadt, gibt des den Roman, auf dessen Titel sich Verlag und Autor wohl nicht einigen konnten, nicht zu kaufen. Das ist eigentlich schade, denn sein Lokalkolorit ist besser als sein schabloneus-unglückliches Personal.


[1] Daniel Marschall, TONIATIUH ODER APOKALYPSE IN PASEWALK, Periplaneta Berlin, 2019

[2] Katrin Heyer, ERNST-THÄLMANN-SCHULE. Eine deutsche  Erinnerung, Mitteldeutscher Verlag Halle, 2006

danielmarschall.de