DIE NEUE DREIEINIGKEIT

oder

Wenn man jemandem den Schlüssel zum Schloss gibt…

Wenn man jemandem den Schlüssel zum Schloss gibt, muss man gute Gründe haben, denn, wie groß der erwartete Erfolg auch sein mag, das Risiko ist größer. Vor einigen Jahren zeigte mir ein Leser meines blogs, dass meine Vorstellung von Gott exakt der Definition der neuronalen Netze entspreche, dergestalt, dass man, wenn es Gott gäbe, ihn nicht um etwas bitten kann, das in der Zukunft liegt, sondern dass man ihm nur danken kann für etwas, das vergangen ist. Neuronale Netze lernen durch Bestätigung, und lernen ist besser als regeln. Vor einigen Tagen lachte ein guter Freund von mir über meine Bemerkung, dass Putin schon deshalb nicht siegen wird, weil das Böse nicht siegt und nicht siegen kann. Selbst wenn uns die Welt zunehmend böse erscheint – was sie nun bestimmt nicht ist -, müssen wir zugeben, dass letztendlich, auch unter Einbeziehung hartnäckig böser Beispiele wie Hitler, Trujillo, Amin, Kim Il Sung, Kim Jong Il, Kim Jong Un, Ceaucescu, Afewerki, Stalin-Putin, das Böse sich nicht durchsetzt, denn sie sind alle tot oder werden sterben, für wie tausendjährig sie ihre Herrschaft immer auch erklären mögen. Es gibt in Deutschland bestimmt mehr als hundert Stauffenberg-Straßen, aber nicht eine einzige Hitler-Straße. Über Thälmann müsste man streiten.

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Dem alten Wettstreit zwischen Freiheit und Ordnung setzte als erstes die Globalisierung seit 1444 zu. In diesem Jahr landete das erste Schiff mit afrikanischen Sklaven in Portugal. Um diese neuen Universalarbeitskräfte und deren schonungslose Ausbeutung zu rechtfertigen, musste man ihnen das Menschsein, die christliche Qualität absprechen. Aber das ist nicht der einzige Makel des Christentums: zusammen mit den anderen Religionen vermochte es nicht, die einfachen Botschaften ‚Du sollst nicht töten‘ oder ‚Liebe deine Feinde‘ auch nur annähernd zu verallgemeinern. Stattdessen glauben Milliarden Christen und Nichtchristen, so als ob Yesus nie gelehrt hätte, weiterhin, dass der Stärkere Recht hätte, dass Geld die Welt regiere und – vielleicht am schlimmsten – dass es ein hierarchisches Gefälle zwischen Menschen gebe.

Auf diesem Aberglauben, der nicht zuletzt durch die Religionen gestützt wurde, baut der gegenwärtige Trend zu einem neuerlichen Autoritarismus, den seine Befürworter – die Antiglobalisten – für die Rückkehr zur Ordnung, seine Gegner aber – die Globalisten – für die Abkehr von der Freiheit halten. Merkwürdig dabei ist, dass die Globalisten die Globalisierung für irreversibel halten, die Autoritären dagegen wollen sie rückgängig machen. Der Slogan dafür stammt von Donald Trump ‚….first‘, vor dem das jeweilige Land eingesetzt werden muss. Höcke, der Rechtsaußenführer der AfD in Thüringen, versucht, das alles immer wieder in Beziehung zu setzen mit der Sprache der Nationalsozialisten, von denen er sich dann aber distanziert.

2

Während jedem Befürworter und jedem Gegner klar ist, dass Globalisierung Öffnung bedeutet, glauben viele die Demokratisierung auf Verfassungen und Wahlen begrenzt. Aber Demokratie und der Weg zu ihr hin bedeutet zuallererst einmal Emanzipation. Erst die großen Gruppen der Kinder, Frauen und Afrikaner, sodann die kleineren Gruppen der Menschen mit Behinderungen und Homosexuellen, der unehelichen Kinder und geschiedenen Frauen mussten in die universell gültigen Menschenrechte heimgeholt werden. Wenn wir die Demokratisierung mit der französischen Revolution beginnen lassen, so ist das einerseits präzise, verkennt aber Alternativen, wie zum Beispiel die vergessene Verfassung von Korsika,  das Erdbeben vom 1. November 1755 in Lissabon, das Wirken des Königs Friedrich II. in Preußen 1740-1786 oder das Erscheinen von Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘ 1762. Emanzipation und Aufklärung wurden zudem überschattet von der viel unmittelbarer wirkenden Industrialisierung, die wir hier der Globalisierung subsumieren. Die Bewohner Europas, später auch Amerikas, Asiens und Afrikas, zogen in die Städte, wo die Eltern Arbeit und die Kinder Bildung fanden. In Lagos, einer der größten Städte der Welt und der Welthauptstadt des Chaos, gibt es riesige Slums auf dem Wasser (Makoko), in denen privat initiierter Unterricht stattfindet! Hunger und Bildung gaben sich ein reziprokes Rennen.  Global gesehen ist der Hunger ebenso wie der Analphabetismus auf ein Zehntel der stark angewachsenen Weltbevölkerung reduziert. Die Pforte der Demokratisierung ist also die Bildung, die Öffnung ist die Aufklärung. Selbst wer nicht lesen und schreiben kann, profitiert, denn ihm wird vorgelesen und vorgeschrieben. Sprichwörtlich ist der Vorwurf, dass die Aufklärung sich nur an die Stelle der alten Götter gesetzt hat und nun mit dem gleichen totalitären und allwissenden Anspruch auftritt. Dies zeigt aber nur, dass sowohl Demokratie als auch Aufklärung keine statischen  Zustände sind, sondern Prozesse.  

3

Alexis de Tocqueville beschreibt den Anfang aller Demokratie mit der Installation von Briefkästen, deren englische Bezeichnung ‚mail box‘ aber auch gut zum dritten Element der neuen Dreieinigkeit passt, der Digitalisierung. Vielleicht könnte man den Beginn der Verschlüsselung mit der Entschlüsselung des höchstwertigen mechanisch, also analog erzeugten Codes benennen. Die Wehrmacht wollte Land, Ressourcen und politische wie mentale Hegemonie gewinnen. In einem riesigen, aber letztendlich stark überdehnten Angriffs- und Zweifrontenkrieg bediente sie sich sowohl der Überraschung (‚Blitzkrieg‘) als auch der strikten Geheimhaltung. Alle Befehle wurden mit mechanischen Maschinen, der Enigma und der Lorenz, verschlüsselt, vereinfacht gesagt wurden die Buchstabenreihen mehrfach zufällig ausgetauscht. Die Gegenseite hatte nun die Aufgabe, mittels elektronischer und digitaler Technik den Code für immer zu entschlüsseln. Dabei entstand das, was wir heute Computer nennen, der das nächste Zeitalter einläutete. Alan Turing, der großen Anteil an dieser mathematischen und technischen Großleistung hatte, starb, weil er nach moralischen Grundsätzen (auch des Christentums) des neunzehnten Jahrhunderts verurteilt wurde, und er starb in Verwirklichung eines Märchens und eines Märchenfilms an einem vergifteten Apfel.   

Je mehr Schlüssel verteilt werden, desto höher sind die Risiken; das ist das Argument der Demokratiefeinde, die ihre Herrschaft immer auf Loyalität und Korruption aufbauen. Dagegen ist Demokratie immer nur mit ansteigender Kompetenz verbunden und überhaupt vorstellbar. Selbst in den beiden schrecklichen Kriegen, die zurzeit geführt werden, ist der Metakampf intellektueller Art zwischen digitalisierter und konventioneller Herangehensweise, zwischen sozusagen antiker und moderner Kriegführung, zwischen autoritären, stark zentralisierten Befehlsketten und demokratischer, dezentraler Handlungsstruktur. Der mündige Bürger, sogar auch in Uniform, ist in Israel und in der Ukraine zuhause.

Wir dürfen uns das alles niemals ohne Friktionen vorstellen, Reibungen, die Carl von Clausewitz in seinem großen philosophischen Werk ‚Vom Kriege‘, aus dem immer nur ein einziger Satz zitiert wird, beschrieb. Jede Absicht wird im Stadium der Verwirklichung verzerrt, verwandelt, in ihr Gegenteil verkehrt. Nichts ist so verwirklichbar, wie es gedacht wurde. Wer losgeht, kommt nicht am gedachten Ziel an, man steigt nicht zweimal in denselben Fluss…Das gehört alles zu den Basics der mittleren Bildung, wird aber trotzdem von uns gern und mit Inbrunst vergessen. Mit Inbrunst hoffen wir auf Ordnung und Sicherheit, verschlüsseltes Wissen geheimer Führer, Treue und Loyalität bis in den Tod. Und der Tod ist genau der Lohn dafür. Nur lernen und lieben ist leben und dazu gehört mehr Freiheit als Ordnung, mehr lernen als regeln, mehr Sinn und verstand als Hierarchie und Tradition.     

DIE NEUE DREIEINIGKEIT

oder

Wenn man jemandem den Schlüssel zum Schloss gibt…

Wenn man jemandem den Schlüssel zum Schloss gibt, muss man gute Gründe haben, denn, wie groß der erwartete Erfolg auch sein mag, das Risiko ist größer. Vor einigen Jahren zeigte mir ein Leser meines blogs, dass meine Vorstellung von Gott exakt der Definition der neuronalen Netze entspreche, dergestalt, dass man, wenn es Gott gibt, ihn nicht um etwas bitten kann, das in der Zukunft liegt, sondern dass man ihm nur danken kann für etwas, das vergangen ist. Neuronale Netze lernen durch Bestätigung, und lernen ist besser als regeln. Vor einigen Tagen lachte ein guter Freund von mir über meine Bemerkung, dass Putin schon deshalb nicht siegen wird, weil das Böse nicht siegt und nicht siegen kann. Selbst wenn uns die Welt zunehmend böse erscheint – was sie nun bestimmt nicht ist -, müssen wir zugeben, dass letztendlich, auch unter Einbeziehung hartnäckig böser Beispiele wie Hitler, Trujillo, Amin, Kim, Stalin-Putin, das Böse sich nicht durchsetzt.

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Dem alten Wettstreit zwischen Freiheit und Ordnung setzte als erstes die Globalisierung seit 1444 zu. In diesem Jahr landete das erste Schiff mit afrikanischen Sklaven in Portugal. Um diese neuen Universalarbeitskräfte und deren schonungslose Ausbeutung zu rechtfertigen, musste man ihnen das Menschsein, die christliche Qualität absprechen. Aber das ist nicht der einzige Makel des Christentums: zusammen mit den anderen Religionen vermochte es nicht, die einfachen Botschaften ‚Du sollst nicht töten‘ oder ‚Liebe deine Feinde‘ auch nur annähernd zu verallgemeinern. Stattdessen glauben Milliarden Christen und Nichtchristen, so als ob Yesus nie gelehrt hätte, weiterhin, dass der Stärkere Recht hätte, dass Geld die Welt regiere und – vielleicht am schlimmsten – dass es ein hierarchisches Gefälle zwischen Menschen gebe.

Auf diesem Aberglauben, der nicht zuletzt durch die Religionen gestützt wurde, baut der gegenwärtige Trend zu einem neuerlichen Autoritarismus, den seine Befürworter – die Antiglobalisten – für die Rückkehr zur Ordnung, seine Gegner aber – die Globalisten – für die Abkehr von der Freiheit halten. Merkwürdig dabei ist, dass die Globalisten die Globalisierung für irreversibel halten, die Autoritären dagegen wollen sie rückgängig machen. Der Slogan dafür stammt von Donald Trump ‚….first‘, vor dem das jeweilige Land eingesetzt werden muss. Höcke, der Rechtsaußenführer der AfD in Thüringen, versucht, das alles immer wieder in Beziehung zu setzen mit der Sprache der Nationalsozialisten, von denen er sich dann aber distanziert.

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Während jedem Befürworter und jedem Gegner klar ist, dass Globalisierung Öffnung bedeutet, glauben viele die Demokratisierung auf Verfassungen und Wahlen begrenzt. Aber Demokratie und der Weg zu ihr hin bedeutet zuallererst einmal Emanzipation. Erst die großen Gruppen der Kinder, Frauen und Afrikaner, sodann die kleineren Gruppen der Behinderten und Homosexuellen, der unehelichen Kinder und geschiedenen Frauen mussten in die universell gültigen Menschenrechte heimgeholt werden. Wenn wir die Demokratisierung mit der französischen Revolution beginnen lassen, so ist das einerseits präzise, verkennt aber Alternativen, wie zum Beispiel den 1. November 1755 in Lissabon, das Wirken des Königs Friedrich II. in Preußen 1740-1786 oder das Erscheinen von Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘ 1762. Emanzipation und Aufklärung wurden zudem überschattet von der viel unmittelbarer wirkenden Industrialisierung, die wir hier der Globalisierung subsumieren. Die Bewohner Europas, später auch Amerikas, Asiens und Afrikas, zogen in die Städte, wo die Eltern Arbeit und die Kinder Bildung fanden. In Lagos, einer der größten Städte der Welt und der Welthauptstadt des Chaos, gibt es riesige Slums auf dem Wasser (Makoko), in denen privat initiierter Unterricht stattfindet! Hunger und Bildung gaben sich ein reziprokes Rennen.  Global gesehen ist der Hunger auf ein Zehntel der stark angewachsenen Weltbevölkerung reduziert. Die Pforte der Demokratisierung ist also die Bildung, die Öffnung ist die Aufklärung. Selbst wer nicht lesen und schreiben kann, profitiert, denn ihm wird vorgelesen und vorgeschrieben. Sprichwörtlich ist der Vorwurf, dass die Aufklärung sich nur an die Stelle der alten Götter gesetzt hat und nun mit dem gleichen totalitären und allwissenden Anspruch auftritt. Dies zeigt aber nur, dass sowohl Demokratie als auch Aufklärung keine Zustände sind, sondern Prozesse.  

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Alexis de Tocqueville beschreibt den Anfang aller Demokratie mit der Installation von Briefkästen, deren englische Bezeichnung ‚mail box‘ aber auch gut zum dritten Element der neuen Dreieinigkeit passt, der Digitalisierung. Vielleicht könnte man den Beginn der Verschlüsselung mit der Entschlüsselung des höchstwertigen mechanisch, also analog erzeugten Codes benennen. Die Wehrmacht wollte Land, Ressourcen und politische wie mentale Hegemonie gewinnen. In einem riesigen, aber letztendlich stark überdehnten Angriffskrieg bediente sie sich sowohl der Überraschung (‚Blitzkrieg‘) als auch der strikten Geheimhaltung. Alle Befehle wurden mit mechanischen Maschinen, der Enigma und der Lorenz, verschlüsselt, vereinfacht gesagt wurden die Buchstabenreihen mehrfach zufällig ausgetauscht. Die Gegenseite hatte nun die Aufgabe, mittels elektronischer und digitaler Technik den Code für immer zu entschlüsseln. Dabei entstand das, was wir heute Computer nennen, der das nächste Zeitalter einläutete. Alan Turing, der großen Anteil an dieser mathematischen und technischen Großleistung hatte, starb, weil er nach moralischen Grundsätzen (auch des Christentums) des neunzehnten Jahrhunderts verurteilt wurde, und er starb in Verwirklichung eines Märchens und eines Märchenfilms.   

Je mehr Schlüssel verteilt werden, desto höher sind die Risiken; das ist das Argument der Demokratiefeinde, die ihre Herrschaft immer auf Loyalität und Korruption aufbauen. Dagegen ist Demokratie immer nur mit ansteigender Kompetenz verbunden und überhaupt vorstellbar. Selbst in den beiden schrecklichen Kriegen, die zurzeit geführt werden, ist der Metakampf intellektueller Art zwischen digitalisierter und konventioneller Herangehensweise, zwischen sozusagen antiker und moderner Kriegführung, zwischen autoritären, stark zentralisierten Befehlsketten und demokratischer, dezentraler Befehlsstruktur. Der mündige Bürger sogar auch in Uniform ist in Israel und in der Ukraine zuhause.

Wir dürfen uns das alles niemals ohne Friktionen vorstellen, Reibungen, die Carl von Clausewitz in seinem großen philosophischen Werk ‚Vom Kriege‘, aus dem immer nur ein einziger Satz zitiert wird, beschrieb. Jede Absicht wird im Stadium der Verwirklichung verzerrt, verwandelt, in ihr Gegenteil verkehrt. Nichts ist so verwirklichbar, wie es gedacht wurde. Wer losgeht, kommt nicht am gedachten Ziel an, man steigt nicht zweimal in denselben Fluss…Das gehört alles zu den Basics der mittleren Bildung, wird aber von uns gern und mit Inbrunst vergessen. Mit Inbrunst hoffen wir auf Ordnung und Sicherheit, verschlüsseltes Wissen geheimer Führer, Treue und Loyalität bis in den Tod. Und der Tod ist genau der Lohn dafür. Nur lernen und lieben ist leben.

    

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DU HAST DIE WAHL

Nr. 349

In vielen Megastädten gibt es weder Straßennamen noch Stadtpläne und nicht jeder benutzt Google. Also stehen Jungs am Straßenrand und geben gegen geringes Entgelt Auskunft. In Europa dagegen hatten zuerst die Häuser Namen, dann die Straßen, dann führte Napoleon die Nummerierung der Häuser ein, schließlich entstanden Stadtpläne und Navigationssysteme. Die Vor- und Nachbereitung von Reisen und Fahrten kann die Reisen und Fahrten ersetzen. Was früher die Vorstellungskraft und die Erinnerung leisteten, haben uns die digitalen Denksubstitute abgenommen. Google Maps verhält sich zur Wirklichkeit wie der Liebigsche Brühwürfel zum Sonntagsbraten.

Und auch die Demokratie entstand nicht durch eine blutige Revolution aus der Asche der Barrikaden, sondern wie ein Brühwürfel nach dem anderen: Dreiklassenwahlrecht, Frauenwahlrecht, Achtstundentag, passives Wahlrecht für alle, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit, die Ersetzung aller Rassismen und Hierarchien, Vegetarismus, Rückbesiedlung des Landes als zigste Reformbewegung, Abschaffung der Kriege und Emanzipation der Verhandlungen. Jede|r mag für sich entscheiden, welche oder wessen Ideale damit verwirklicht wurden. Entscheidend ist nicht, ob beispielsweise eine Forderung aus der Bergpredigt des Großpropheten Yesus oder ein Satz aus Rousseaus Gesellschaftsvertrag wirklich wurde, sondern dass sich zum Schluss herausstellt, dass es keine signifikanten kulturellen Differenzen gibt, dass also der fiktive Großprophet Nathan recht hatte, als er diese immer wieder angenommenen und betonten Differenzen in den Bereich reiner und zufälliger Äußerlichkeiten verlegte. Demokratie und Sozialstaat sind also keine Herkunfts-, sondern Zukunftsfragen.

Was aber alle Visionäre, Propheten und Philosophen nicht vorausgesehen haben oder nicht voraussehen konnten, ist die Ermüdung am Guten. So wie die intensive Landwirtschaft, vielleicht beginnend mit dem friderizianischen Erdapfel, step by step den Hunger beseitigte und nicht ahnen konnte, dass dann nicht nur sattzufriedene, sondern auch adipöse Menschen, überdüngter Boden, Monokulturen und Artensterben das Ergebnis sein werden, so ergeht es auch der Demokratie. Sie schüttet Wohltaten aus und erntet Undank und Widerstand. Demokratie ist aber selbst auch ein Kind des Widerstands und muss sich also nicht über die Umkehrung der Verhältnisse wundern. Ist es nicht eigenartig, dass eines der häufigsten Argumente gegen die etablierte Demokratie deren Geldverschwendung ist und die nationalistischen Alternativen mit eben dieser Geldverschwendung beginnen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch enden werden? In den Kinderzeiten der Demokratie zeigte sich, dass der abgeordnete und seiner Erwerbstätigkeit entfremdete Bürger alimentiert werden muss. Im heutigen Deutschland wurde diese Alimentierung wie die Altersrenten an den Inflationsausgleich gekoppelt, gleichzeitig aber durch jährliche Parlamentsbeschlüsse von der Regierung unabhängig gemacht. Und genau das wird nun von denjenigen Menschen kritisiert, die vom Sozialstaat abhängen. Aber das erste, was die Alternative für Deutschland im Bundestag getan hat, war für 10.000 Steuerzahler-€ Schnittchen bestellen. Marie Le Pen machte ihre Leibwächter zu vom Europäischen Parlament bezahlten Assistenten. Finanzskandale sind die Normalität dieser Alternativen, die in Wirklichkeit Karikaturen sind.

Die Alternative zur etablierten und erstarrten Politik ist der Bürokratieabbau, die Abschaffung der immer unverständlicheren Juristen-, Bürokraten- und Zeitungssprache, die Beendigung der permanenten Verrechtlichung aller Dinge und Prozesse. Wer über die Straße geht oder in einen Fluss springt, muss sich des Risikos für sein Leben bewusst sein, und es ist nicht nur die unmittelbare Gefahr, sondern auch die drohenden Gefahr durch die ständige Veränderung, die gerade auf Straße und Fluss gut angezeigt wird. Ganz im Ernst wurde schon davor gewarnt, dass, wenn der Individualverkehr durch Elektroautomobile leiser wird, die Unfallgefahr steigt. Jede Verbesserung wird durch Verrechtlichung und Bürokratisierung zur Verwässerung oder Verschlechterung. Der Rechtsstaat hat sich vor die Demokratie und vor den Sozialstaat gedrängt, dabei war er doch nichts anderes als ein Assistenzsystem der beiden. Der Rechtsstaat ist nur die Garantie, dass Demokratie und Sozialstaat für jede|n erreichbar sind, dass Gerechtigkeit für alle angestrebt wird. Der Rechtsstaat ist kein Polizeistaat, wie es jetzt auch die CDU, in nachjagendem Gehorsam plakatiert, aber sie jagt nicht dem Recht nach, sondern dem Rechts. Wenn Angela Merkel Ziele verfehlt hat, dann die Modernisierung der CDU, der Antimerkelismus, die Grundtorheit dieser Partei, gebiert solche rechtskonservativen Ungeheuer wie Kramp-Karrenbauer, Spahn, Ziemiak (‚da hilft kein Integrationskurs, sondern nur Gefängnis‘), Kuban, deren Namen man sich hoffentlich nicht merken muss. Auch die CSU jagt der autoritären Karotte nach und bleibt im Kreis der Ewiggestrigen. Nicht zufällig wurde die Erneuerung Deutschlands auf wichtigen Gebieten eben nicht verschlafen, sondern aus Angst verdrängt, Digitalisierung, Bildung, Globalisierungspolitik mit Weltmarkt und Migration. Die CDU ist genauso unrettbar verloren wie die SPD, aber die Karikatur- und Schnittchenpartei Gaulands und Höckes (‚wir brauchen eine neue Männlichkeit‘) ist auch nichts weiter als die Vergreisung des Autoritarismus. Die Erneuerung kommt aus der Jugend und aus der Technik.

Diese Erstarrung von Reformbewegungen oder Willkür verselbstständigter Assistenzsysteme ist natürlich nicht neu. Der Großprophet Salomo beklagte sie genauso wie der Renaissanceriese Shakespeare: ‚and strength by limping sway disabled‘*. Der erste Weltkrieg ist das grandiose und tragische Missverständnis eines solchen Paradigmenwechsels. Die lange Friedensperiode wurde als Stillstand interpretiert und die Voraussage überhört.** Der Fluch der Wende ist, dass man nicht weiß, was kommt. In der Nichtwende weiß man es auch nur durch Gewohnheit und ewige Wiederholung. Eigentlich also weiß man nie, was wirklich kommt. Die Verunsicherung führt zu Angst, Missgunst und Krieg. Wenn man, wie wir, den Krieg nicht mehr zu den praktikablen Mitteln zählt, zeigt sich, wie mächtig die verbleibenden Faktoren Angst und Missgunst sind. Das Neue, für das wir noch keinen Namen haben, eine Mischung vielleicht aus Demokratie, Sozialstaat und Digitalisierung, setzt sich genauso wie einst die Demokratie aber nicht in einer Revolution, sondern in einem schleichenden und damit nicht weniger beängstigenden Prozess durch. Digitalisierung darf man sich aber nicht nur allzu technisch vorstellen. Die Verkleinerung und Verkomplexisierung der Geräte ist nur die eine Seite. Die andere Seite aber ist die immer höhere Zugriffsgeschwindigkeit zu Wissen und Kunst. Das ist die unterschätzte Seite. Auf der dritten Ebene muss also die Intensivierung von Ethik, Sinn, Transparenz und Transzendenz, Abstraktion und die Bevorzugung von simply truth vor simplicity*.

Wir stehen nicht nur am Ende einer alten Welt, sondern auch am Beginn einer neuen. Haben wir eine Wahl?

 

 

*Sonett 66

**Rathenau