INSTABILBAUKASTEN

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Viele Menschen haben Sprüche darüber, wie es kommt, immer anders als man denkt oder wie es kommen muss oder wie es eben kommt. Aber hinter leicht dahingesagten und oft wiederholten Sprüchen verbergen sich Welt- und Lebensanschauungen.

Schon als Kinder sagten wir empört: das ist doch ungerecht! Und noch als Alte glauben wir an eine, wenn nicht überbordende, so doch übersinnliche Gerechtigkeit. Alle linken Bewegungen und der Sozialstaat versprechen sie bedenkenlos, alle rechten Bewegungen wollen sie dadurch erreichen, dass sie einen Teil der Menschheit von vornherein ausschließen. Der Staat, diese Megamaschine aus Klammeraffen, Aktenordnern und Ausführungs-bestimmungen, der sich am liebsten mit sich selbst und der Versorgung seiner Beschäftigten beschäftigt, hat sich immer mehr an die Stelle der alten Institutionen Religion, Zünfte oder Allmende gedrängt. Und wir glauben ihm gerne. Aber: man kann den Staat nur aushalten, wenn man an die Freiheit glaubt und weiß, dass es Gerechtigkeit nicht geben kann.

Von Kindesbeinen an sind wir mit der Konstruktion von Artefakten beschäftigt. Der Konstruktion geht eine Destruktionsphase voraus, in der wir sozusagen Strukturen, Naturgesetze und Adhäsionen studieren. Aber indem wir jetzt das Bild des Kindes reproduzieren, das mit großer Geduld immer wieder aufgehäufte Bausteintürme kippt, wird uns klar, wie sehr wir dieses Spiel und diese Phase perfektioniert haben. Fröbel war noch stolz auf seine geometrischen Holzklötzchen, dann kamen hundert Jahre Anker- und Stabilbaukästen und schließlich konnte LEGO sein perfektionistisches Weltbild verbreiten. Wir dürfen nicht übersehen, dass während dieser letzten zweihundert Jahre immer wieder versucht wurde, die Mädchen auf das Spiel mit Puppen, Puppenwagen und Puppenstuben zu reduzieren. Aber das ist gründlich misslungen. Was heute so vehement gefordert wie bekämpft wird, ist damals schon immer sichtbar gewesen: Konstruktions- und Pflegespiele sind nicht an Geschlecht, Hautfarbe oder sozialen Status gebunden.

Auch die in der Schule gelehrten Kulturtechniken sind nicht nur analytisch, sondern immer auch konstruktiv, wenn nicht holistisch. Wenn auch bedauert werden kann, dass viel zu wenig kreativ geschrieben wird, so wird doch geschrieben. Schreibend setzen wir uns immer eine kleine, neue Welt zusammen. Wenn wir auf einem Dachboden eines alten Hauses ein Schulheft, einen Kalender, eine Briefsammlung oder gar ein Tagebuch finden, so finden wir auch immer eine Welt von gestern. Immer erkennen wir in den Dingen und Ereignissen einen konstruktiven Sinn, weil wir uns vorstellen, wir hätten die Dinge und Ereignisse gemacht. Hegel geht in seinem berühmten, aber leider auch sehr unsinnigen Satz[1], dass der Unwissende die Welt ablehnt, weil er sie nicht gemacht hat, sogar so weit, einen Teil der Menschheit von vornherein auszuschließen. Und auch da gehen heute noch genauso viele Menschen mit wie bei seinem Fortschrittsgedanken[2]. Der Satz ist trotz seiner rhetorischen Stärke und seiner bewundernswerten Konstruktion deswegen unsinnig, weil wir in seinem Sinne alle unwissend sind und die Welt, auch die kleine uns unmittelbar umgebende, nicht gemacht haben. Wer ein Haus gebaut hat, weiß, wie viel vom Grund abhängt, vom Material, vom Entwurf, vom Wetter, vom Geld von der Tagesform und von tausend Zufällen. Da aber das Haus heute noch steht, glauben wir an uns und unsere konstruktive Stärke und überschätzen unseren Anteil an Struktur und Wissen der Welt.

Durch die Konstruktion von Artefakten kommt also unser Glaube an die universelle Machbarkeit. Die Welt, meinen wir zu wissen, ist genauso gemacht worden wie die Legowelt im Kinderzimmer, wie das Kinderzimmer und auch wie die Kinder selbst.

Die andere Seite ist die Ablehnung des Zufalls. Da wir in allem Sinn suchen und vermuten, müssen wir das sinnlose Walten der Natur hinterfragen. Letztlich lehnen wir es ab. Wir glauben nicht daran, dass es zwar Zusammenhänge, aber keine Kausalzusammenhänge geben soll, dass es zwar Kausalzusammenhänge geben soll, die aber nicht mit uns zusammenhängen. Fast jeder Mensch ist zum Beispiel davon überzeugt, dass er sich den Partner oder die Partnerin bewusst, sehenden Auges, vielleicht sogar ästhetisch oder utilitaristisch ausgesucht hat. Viele erinnern sich an den ersten Schritt aufeinander zu und halten die Verbindung für gewollt und gemacht. Tausend biotische und psychische, soziale und lokale Zusammenhänge werden nicht ignoriert, sondern sind uns unbekannt, weil wir eben auch in unseren persönlichsten Zusammenhängen Unwissende sind.

Neuerdings liest man sehr oft, dass die Freiheit des einen dort ende, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das setzt voraus, dass zwei Nachbarn entgegengesetzte Konstruktionen wären, die auch noch dazu ein entgegengesetztes Freiheitsideal hätten. Tatsächlich stimmen wir aber – glücklicherweise – zu bis zu 99% überein, wenn uns das auch bei einem unbeliebten Nachbarn weit anders erscheint. Es geht sehr oft um das Rechthabenwollen und nicht um das Recht oder um die Gerechtigkeit. Solche dichotomischen Ausschließungen – an meinem Gartenzaun endet dein Recht! – ignorieren die von Euler beschriebenen Schnittmengen zwischen den Dingen, Ereignissen und Menschen. Vieles ist sich ähnlicher, als es denkt. Jeder Wettbewerb beruht mindestens auf dem Konsens der Vergleichbarkeit. Und in jedem Wettbewerb regieren nicht nur das Können, der Verstand oder der Selbstwert, sondern auch immer das Glück und der Zufall. Aber trotz aller Konkurrenz, trotz allen Streits und Wettbewerbs, trotz aller Kämpfe sind wir immer auch eingehüllt und eingelullt vom Grundkonsens der Menschheit, der Großgruppe, der Kleingruppe, des Paars und etwa des Gartens, in denen wir uns befinden und ohne die wir nicht wären.

Es ist doch merkwürdig, dass gerade diejenigen, die die Freiheit einschränken wollen, sich bei der Entfernung vom Grundkonsens der Menschheit auf Freiheit berufen. Niemand aber entfernt sich ungestraft von diesem Grundkonsens. ‚Du sollst nicht töten‘ [Exodus 20,13] etwa ist nicht ein frommer Wunsch, der sich durch widrige Wirklichkeiten zu behaupten hätte, sondern eine conditio sine qua non[3] des Zusammenlebens. Wer sie missachtet, wird missachtet. Die Strafe ist die Entfernung aus dem Grundkonsens. Eine Umkehr ist immer möglich. Nichts muss, alles kann, aber es wird immer kommen, wie es kommt.

Schild der sowjetischen Besatzungstruppen Foto: rochusthal

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Der Satz von Hegel, dass der Unwissende unfrei sei, weil er die Welt nicht gemacht habe, scheint auch umgekehrt zu gelten: Weil er oder sie an einem Wendepunkt dabei war, glaubt er oder sie, ihn gemacht zu haben und hält sich deshalb – allerdings nur für sich selbst – für wissend. Wer zum Beispiel 1989 gegen die Erstarrung der DDR demonstrierte – was sehr mutig war, weil man nicht wissen konnte, wie die senile und wankende Führung reagieren würde – glaubt, die DDR zu Fall gebracht zu haben. Dasselbe glauben Egon Krenz oder Gregor Gysi von sich, der eine wollte die Macht, der andere das Geld retten, beide nannten das, was sie retten wollten, Partei. Wahrscheinlich wurden am Abend des 9. November 1989 aber zwei Zettel vertauscht und der Überblick endgültig verloren. Ein Schlagbaum öffnete sich, hunderttausend Ostberliner strömten nach Westberlin, Bundeskanzler Kohl kam eilends aus Warschau zurück. Es war etwas passiert, das niemand gewollt hatte, obwohl es sich fast alle wünschten. Ein vereinsamter Stasimann pfiff vielleicht auf der Bornholmer Brücke ‚Geschichte wird gemacht‘, ein Lied aus der FDJ-Singebewegung der sechziger Jahre. Nur selten hört die Geschichte, die Summe unserer Taten, auf die Intentionen von uns Menschen. Vielmehr ist sie von tausenden Faktoren abhängig, die sich weder Zeitzeugen oder Visionäre, Politiker oder Wissenschaftler, Ideologen oder Mafiabosse ausdenken können. Oft erst viel später – in Geschichtsbüchern heißt es oft: nach Öffnung der Archive – kommt Klarheit in das Knäuel von Absichtserklärungen, wahren Absichten und tatsächlichen Geschehnissen. Die Mauer fiel, die DDR brach zusammen, Kohl, der das nicht planen konnte, ergriff die Chance, der Ostblock verschwand wie ein Kartenhaus, die Sowjetunion übrigens zuletzt, erst am 31. Dezember 1991, und niemand wusste, wie es weitergehen sollte, könnte oder würde. Von nun an waren alle Akteure ahnungslos.

Mehr als dreißig Jahre danach, also jetzt, 2023, erscheinen drei Bücher[4], die den Eindruck erwecken, als ob die Wiedervereinigung Deutschlands im Gefolge des Zusammenbruchs der DDR (oder des Ostblocks) ein bewusster Akt der Demütigung des Ostens durch den Westen gewesen wäre. Oschmann, der kein Soziologe oder Historiker ist, versteigt sich zu der These, dass die von 1945-1975 geborenen ostdeutschen Männer die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe sei. Es ist, und das steht nicht in seinem Wut- und Jammerbüchlein, auch die Gruppe, die im Osten Firmen aufgebaut hat, die Schulen und Krankenhäuser am Laufen hielt, die Kommunalpolitik dominierte. Mehrfach wird Habermas zitiert, der dem Osten den Zugang zur Öffentlichkeit absprach. Aber Oschmann müsste wissen, dass es unverhältnismäßig viele Schriftsteller und Maler[5] aus dem Osten in die Öffentlichkeit und in den wohlverdienten Ruhm geschafft haben. Saša Stanišić wird als Beispiel für die Skandalisierung alles dessen, was noch weiter aus dem Osten kam, beschrieben. Dagegen beschreibt Stanišić in seinem Buch HERKUNFT[6], wie sein hochkompetenter und wohlwollender Deutschlehrer im Westen des Westens (Heidelberg) ihm zu seiner literarischen Berufung verhalf. Verschwiegen wird auch, dass eine Million ostdeutscher Frauen nach 1990 in den Westen wechselte.

Der Wissenschaftsbetrieb mag extrem ungerecht und voller eigensüchtiger Netzwerke sein. Wer im Norden des Ostens lebte, keine Ausbildung hatte und zudem immobil war, hatte schlechte Karten und wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit so genannter Wendeverlierer. Aber gab es denn das Versprechen der Egalisierung? Der Westen erschien vielen Wählern im Mai 1990 als omnipotentes Heilsversprechen. Er war eine Erfindung ostdeutscher Träume. Er bestand nicht nur aus Engeln und Heilanden à la Brandt und Kohl, sondern auch aus Glücksrittern, drittklassigen Chefs, Hausierern und Manchesterkapitalisten. 

Dem Trend dieser drei Bücher, der beiden Parteien, die das Ostklischee bedienen und einem aus all dem folgenden Diskurs sollen ich vier Thesen entgegengestellt werden:

  1. Jammern ist eine äußerst retrospektive Tätigkeit. Sie mag Trost geben, aber sie schadet letztlich dem Jammerer mehr als dem Adressaten. All das, was im Osten Deutschlands zurecht oder zu unrecht beklagt wird, verstärkt sich durch das fortwährende Jammern darüber. Wir haben im Osten etwas verloren, sicher, aber wir haben doch viel mehr gewonnen. Das Scheitern der Linkspartei ist der lebendige Beweis, dass jammern und die Verstärkung des Jammerns nichts als den eigenen Untergang bewirkt. Jammern beachtet zudem nicht, dass jedes Ticket einen Preis hat.

2. Warum sich Jammern nicht lohnt, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass es keine Gerechtigkeit gibt und geben kann. Gerechtigkeit ist (wie Freiheit oder Liebe) ein Ideal und keine Beschreibung. Wenn Armut der Normalzustand ist[7], dann ist jede Bereicherung beglückend. Leider können wir Glück nur im Vergleich erleben, und so gesehen sind wir in einer Art Parallelverschiebung an den von uns Westen genannten Süden Deutschlands gefesselt. Denn wenn wir erkennen könnten, dass der Süden das Zentrum des Reichtums ist, würden wir Retardierung als jahrhundertealte Schwäche begreifen, die auch einen langen Zeitraum ihrer Überwindung benötigt. Nicht alles, was wir überwinden wollen, ist überwindbar. In Mannheim wurden der musikalische und literarische Sturm und Drang erfunden, das Fahrrad, das Automobil, der Traktor, nimmt man die jenseits des Rheins im Nachbarbundesland gelegene Stadt Ludwigshafen mit dem Sitz der BASF[8] hinzu, so ergibt sich ein Gigant, ein Goliath der Innovation und Technik. Vergleicht man es mit dem ebenso als barocke Planstadt errichteten Neustrelitz, so zeigt sich dieses nicht etwa als David, sondern als Zwerg, als schöner Schein und etwas besseres Nichts. 

3. Auf jede Neuordnung folgt eine Revision. Aber beides, Neuordnung und Revision, sind keine Konsumartikel, auf die Garantie gewährt wird. Wir müssen immer mit den Folgen unseres Tuns leben, in unserer Biografie und in unserer Geografie, in unserer Zeit und in unserem Raum. Dabei spielt der Staat, diese Megamaschine aus Klammeraffen, Aktenordnern und Ausführungsbestimmungen, manchmal eine größere, manchmal eine kleinere Rolle. Die Revision kann ebenso wie die Neuordnung ‚berechtigt‘ sein oder unsinnig, erfolgreich oder scheiternd.

4. Die wichtigste Schlussfolgerung aus dem Jahr 1989 und aus dem Dreikrisenjahr 2022[9] ist jedoch: man sollte jeden Bruch als Aufbruch erkennen und nutzen. Das ist schwer, weil wir an unseren Gewohnheiten kleben wie die Klimaaktivisten am Asphalt. Wir sind nun einmal neophob wie die Ratten, aber wir sollten auch so clever, so sozial und so überlebensstark sein wie sie. Die beiden Geschwindigkeiten der Welt und des Individuums sind nicht synchron. So gesehen laufen wir uns selbst hinterher und ziehen uns wie einst der Baron Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Moor. Zopfabschneiden erscheint deshalb vielen als Selbstmord und war doch im Sturm und Drang die Metapher für den Fortschritt, der immer auch ein Fortschreiten von sich selbst ist. Aber: je reicher wir werden, desto behäbiger sind wir auch. Deshalb appellieren die beiden Ostparteien so oft an die vermeintliche oder wirkliche Armut, reden allzu gern Katastrophen, Bürgerkriege und die Apokalypse herbei. Die Marschmusik der AfD ist der Apokalypso, das anachronistische Lieblingslied der Linken ‚Auf zum letzten Gefecht‘.

Lasst uns den Aufbruch selbst schon als Reichtum erkennen!


[1] „Der Unwissende ist unfrei, denn ihm gegenüber steht eine fremde Welt, ein Drüben und Draußen, von welchem er abhängt, ohne dass er diese fremde Welt für sich selber gemacht hätte und dadurch in ihr als in dem Seinigen bei sich selber wäre.“ HEGEL. Ästhetik, Berlin und Weimar 1984, Band 1, Seite 105

[2] vergleiche: DIE HEGELSCHE TREPPE, Blog Nr. 240

[3] Bedingung, ohne die nichts (ist, geht)

[4] Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung; Steffen Mau, Lütten Klein; Katja Hoyer, Diesseits der Mauer

[5] Gerhard  Richter, Neo Rauch, Norbert Bisky, Georg Baselitz; Ingo Schulze, Helga Schubert, Jenny Erpenbeck, Julia Franck, Judith Schalansky, Lutz Seiler

[6] Saša Stanišić, Herkunft, 2019, ab Seite 209

[7] Hanno Sauer, Moral, 2023, S. 216

[8] dabei war die Isolation von Anilin aus Steinkohlenteer 1834 Friedlieb Ferdinand Runge im verwahrlosten Oranienburger Hohenzollernschloss gelungen

[9] Klima, Corona, Ukrainekrieg

ANTIKRIEG IN WODDOW

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht.[1]

Carl von Clausewitz schrieb einst in seinem berühmten und philosophischen Buch, dass im Krieg keine Absicht so verwirklicht wird, wie sie gedacht war. Die Absicht wird von den Friktionen unseres Tuns aufgefressen.

„So wenig man imstande ist, im Wasser die natürlichste und einfachste Bewegung, das bloße Gehen, mit Leichtigkeit und Präzision zu tun, so wenig kann man im Kriege mit gewöhnlichen Kräften auch nur die Linie des Mittelmäßigen halten.“[2]

Viele Jahre lang saß gegenüber dieser vom Krieg geschändeten Kirche ein alter Mann auf einem weißen Plastikstuhl. Und er erzählte seine Geschichte:

Als im April 1945 die Großen des Reiches und des Dorfes sich schon auf den Weg weg von der Verantwortung machten, erließ der Reichsverteidigungskommissar Goebbels die Verordnung zur Verpflichtung der alten Männer und der sogenannten Hitlerjugend in die letzte Schlacht. Den Brief der Kreisleitung Prenzlau der Hitlerjugend in der Hand befahl der Vater des Mannes, der damals ein vierzehnjähriger Junge war, die Sachen zu packen, den Handwagen zu holen, und er nahm ihn an die Hand und floh mit ihm in Richtung Westen, weg von der nahenden Front. ‚Mein Vater‘, sagte der alte Mann, ‚hat mir so das Leben gerettet, denn alle, die hier noch mitgemacht haben, sind umgekommen, verdorben und gestorben.‘

„…denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.“[3]

Die Schlacht um Berlin, in deren Verlauf auch die Kirche in Woddow zernichtet wurde, begann am 16. April 1945 diesseits der Oder, an ihr nahmen zweieinhalb Millionen sowjetische und eine Million deutsche Soldaten teil, eine gigantische Sinnlosigkeit, denn der Krieg war längst verloren. Die Parallele zu heute – am 30. Juli 2023 –  ist unübersehbar, nur merkwürdigerweise streiten wir heute, die wir gar nicht beteiligt sind, darum, wer verlieren wird. Ich glaube, dass schon immer in der Geschichte das Böse nicht gewinnen kann und auch letztlich nicht gewinnt. Wenn das Böse die Summe aller falschen Entscheidungen ist, dann zeigt sich das auch in jedem Krieg, denn jeder Krieg ist falsch. Das ist keine Ermutigung des Angreifers, sondern allenfalls des Verteidigers.

So war es auch 1945 in Woddow. Stalin hatte kurzfristig entschieden, die 2. Belorussische Front unter Marschall Rokossowski im Eilmarsch an die Elbe zu schicken und nicht an der Schlacht um Berlin teilnehmen zu lassen, die von da ab von den Marschällen Shukow (1. Belorussische Front) und Konjew (2. Ukrainische Front) allein geführt wurde. Die deutsche Seite ließ dagegen, offensichtlich in Unkenntnis der veränderten Lage, von den alten Männern und den Hitlerjungen Stellungen bauen, vielleicht so ähnliche wie in den Gemälden vom BRUCHWALD an der Westwand der Kirche zu sehen sind. Diese Stellungen, teils Sperren, teils Gräben, wurden von Panzerarmeen Rokossowskis einfach überrollt. Wo sich Wehrmachts- oder SS-Soldaten etwa in den Kirchtürmen positioniert hatten und widersinnigen Widerstand leisteten, wurden sie samt dem Kirchturm hinweggeblasen, um erneut einen biblischen Ausdruck zu zitieren. Das war am 27. April[4]. In der Nacht davor hatte die dritte deutsche Panzerarmee unter General von Manteuffel mangels Materials und Muts und Möglichkeiten den Kampf aufgegeben. Die angestaute Randow und die hilflosen Gräben wurden in schönster NAZI-Überheblichkeit WOTANSTELLUNG genannt. Sie sind sang- und klanglos untergegangen. Die Menschen flohen oder starben. Der Kirchturm war zerstört. Die Kirche stand in Flammen. Die Panzer wälzten sich und ihre tödliche Last weiter durch das Land, aber bereits am 25. April waren die sowjetischen Sieger auf ihre amerikanischen Verbündeten in Torgau an der Elbe getroffen.

Karin Christiansen, o.T.

Das Gemälde von Karin Christiansen zeigt einen menschlichen Reflex und Überlebensversuch: eine Mutter mit mehreren Töchtern, die zu Puppen erstarrt sind, schläft in einem Nest aus Möbeln und Müll. Sie liegen zusammengerollt und imitieren Geborgenheit. Denn eine wirkliche Geborgenheit, das Nest, die Wärme, den Schutz, kann es im kalten, leeren Raum nicht geben. Die Trümmer, Ruinen und Reste zeigen vielmehr, wo das vermeintliche Nest sich befindet. Es ist irgendwo im Krieg, in jedem Krieg. Im Krieg zerbersten die Zitadellen, stürzen die Kirchtürme und verlieren sich die Menschen im leeren Raum. In jedem Krieg sind die Kinder die bedauernswertesten Opfer: durch Ostpreußen huschten die verhungerten und verwaisten Wolfskinder, in Afrika – so einige Bilder von Christiansen – werden Kinder als billige und willige Soldaten missbraucht. Aber waren nicht auch die Hitlerjungen missbrauchte Kindersoldaten? Putin lässt ukrainische Kinder stehlen, um der russischen demografischen Katastrophe aufzuhelfen. Selbst dieses grausige Detail hat er Hitler und Himmler abgeschaut.

Als wir Kinder waren, wurden nach den Nachrichten im Radio Meldungen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes verlesen:

GESUCHT WIRD ERIKA, BLONDES HAAR, BLAUE AUGEN, DAMALS SIEBEN JAHRE ALT,

ZULETZT GESEHEN IN TAUROGGEN

Heute finden wir in den Suchmaschinen des Riesenkraken Google alles. Aber alles ist unwichtiger als die damals verloren gegangene Erika, die vielleicht ihre letzte Nacht in imitierter Geborgenheit in diesem Nest mit ihrer Mutter, ihren Schwestern und ihren Puppen verbracht hatte, das dann später, in besserer Zeit, von Karin Christiansen gemalt wurde. Und wie schon das berühmte Sonett von Andreas Gryphius aus dem dreißigjährigen Krieg oder das nicht weniger berühmte Gedicht `S IST KRIEG UND ICH BEGEHRE NICHT SCHULD DARAN ZU SEIN von Matthias Claudius oder wie das noch berühmtere Picassobild vom zerstörten Guernica, so will uns auch diese Sammlung von Bildern und Installationen sagen, was wir tun können: Menschen helfen, Kriegsrhetorik ächten, die richtige Partei wählen oder jedenfalls nicht die falsche, glauben, dass das Böse nicht siegen kann, hoffen, dass immer letztlich das Gute sich durchsetzt, die Menschen auch dann noch lieben, wenn sie offensichtlich irren[5].    


[1] 1. KORINTHERBRIEF, 1312

[2] CLAUSEWITZ, Vom Kriege, Leipzig 1935, S. 88

[3] MATTHÄUS, 2652

[4] KIESELBACH, Aufzeichnungen über die Stadt Brüssow, S. 131ff.

[5] 1.KORINTHERBRIEF, 1313

INSTABILBAUKASTEN

Viele Menschen haben Sprüche darüber, wie es kommt, immer anders als man denkt oder wie es kommen muss oder wie es eben kommt. Aber hinter leicht dahingesagten und oft wiederholten Sprüchen verbergen sich Welt- und Lebensanschauungen.

Schon als Kinder sagten wir empört: das ist doch ungerecht! Und noch als Alte glauben wir an eine, wenn nicht überbordende, so doch übersinnliche Gerechtigkeit. Alle linken Bewegungen und der Sozialstaat versprechen sie bedenkenlos, alle rechten Bewegungen wollen sie dadurch erreichen, dass sie einen Teil der Menschheit von vornherein ausschließen. Der Staat, diese Megamaschine aus Klammeraffen, Aktenordnern und Ausführungs-bestimmungen, der sich am liebsten mit sich selbst und der Versorgung seiner Beschäftigten beschäftigt, hat sich immer mehr an die Stelle der alten Institutionen Religion, Zünfte oder Allmende gedrängt. Und wir glauben ihm gerne. Aber: man kann den Staat nur aushalten, wenn man an die Freiheit glaubt und weiß, dass es Gerechtigkeit nicht geben kann.

Von Kindesbeinen an sind wir mit der Konstruktion von Artefakten beschäftigt. Der Konstruktion geht eine Destruktionsphase voraus, in der wir sozusagen Strukturen, Naturgesetze und Adhäsionen studieren. Aber indem wir jetzt das Bild des Kindes reproduzieren, das mit großer Geduld immer wieder aufgehäufte Bausteintürme kippt, wird uns klar, wie sehr wir dieses Spiel und diese Phase perfektioniert haben. Fröbel war noch stolz auf seine geometrischen Holzklötzchen, dann kamen hundert Jahre Anker- und Stabilbaukästen und schließlich konnte LEGO sein perfektionistisches Weltbild verbreiten. Wir dürfen nicht übersehen, dass während dieser letzten zweihundert Jahre immer wieder versucht wurde, die Mädchen auf das Spiel mit Puppen, Puppenwagen und Puppenstuben zu reduzieren. Aber das ist gründlich misslungen. Was heute so vehement gefordert wie bekämpft wird, ist damals schon immer sichtbar gewesen: Konstruktions- und Pflegespiele sind nicht an das Geschlecht gebunden.

Auch die in der Schule gelehrten Kulturtechniken sind nicht nur analytisch, sondern immer auch konstruktiv. Wenn auch bedauert werden kann, dass viel zu wenig kreativ geschrieben wird, so wird doch geschrieben. Schreibend setzen wir uns immer eine kleine, neue Welt zusammen. Wenn wir auf einem Dachboden eines alten Hauses ein Schulheft, einen Kalender, eine Briefsammlung oder gar ein Tagebuch finden, so finden wir auch immer eine Welt von gestern. Immer erkennen wir in den Dingen und Ereignissen einen konstruktiven Sinn, weil wir uns vorstellen, wir hätten die Dinge und Ereignisse gemacht. Hegel geht in seinem berühmten, aber leider auch sehr unsinnigen Satz*, dass der Unwissende die Welt ablehnt, weil er sie nicht gemacht hat, sogar soweit, einen Teil der Menschheit von vornherein auszuschließen. Und auch da gehen heute noch genauso viele Menschen mit wie bei seinem Fortschrittsgedanken**. Der Satz ist trotz seiner rhetorischen Stärke und seiner bewundernswerten Konstruktion deswegen unsinnig, weil wir in seinem Sinne alle unwissend sind und die Welt, auch die kleine uns unmittelbar umgebende, nicht gemacht haben. Wer ein Haus gebaut hat, weiß, wie viel vom Grund abhängt, vom Material, vom Entwurf, vom Wetter, vom Geld von der Tagesform und von tausend Zufällen. Da aber das Haus heute noch steht, glauben wir an uns und unsere konstruktive Stärke und überschätzen unseren Anteil an Struktur und Wissen der Welt.

Durch die Konstruktion von Artefakten kommt also unser Glaube an die universelle Machbarkeit. Die Welt, meinen wir zu wissen, ist genauso gemacht worden wie die Legowelt im Kinderzimmer, wie das Kinderzimmer und auch wie die Kinder selbst.

Die andere Seite ist die Ablehnung des Zufalls. Da wir in allem Sinn suchen und vermuten, müssen wir das sinnlose Walten der Natur hinterfragen. Letztlich lehnen wir es ab. Wir glauben nicht daran, dass es zwar Zusammenhänge, aber keine Kausalzusammenhänge geben soll, dass es zwar Kausalzusammenhänge geben soll, die aber nicht mit uns zusammenhängen. Fast jeder Mensch ist zum Beispiel davon überzeugt, dass er sich den Partner oder die Partnerin bewusst, sehenden Auges, vielleicht sogar ästhetisch oder utilitaristisch ausgesucht hat. Viele erinnern sich an den ersten Schritt aufeinander zu und halten die Verbindung für gewollt und gemacht. Tausend biotische und psychische, soziale und lokale Zusammenhänge werden nicht ignoriert, sondern sind uns unbekannt, weil wir eben auch in unseren persönlichsten Zusammenhängen Unwissende sind.

Neuerdings liest man sehr oft, dass die Freiheit des einen dort ende, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das setzt voraus, dass zwei Nachbarn entgegengesetzte Konstruktionen wären, die auch noch ein entgegengesetztes Freiheitsideal hätten. Tatsächlich stimmen wir aber – glücklicherweise – zu bis zu 99% überein, wenn uns das auch bei einem unbeliebten Nachbarn weit anders erscheint. Es geht sehr oft um das Rechthabenwollen und nicht um das Recht oder um die Gerechtigkeit. Solche dichotomischen Ausschließungen – an meinem Gartenzaun endet dein Recht! – ignorieren die von Euler beschriebenen Schnittmengen zwischen den Dingen, Ereignissen und Menschen. Vieles ist sich ähnlicher, als es denkt. Jeder Wettbewerb beruht mindestens auf dem Konsens der Vergleichbarkeit. Und in jedem Wettbewerb regieren nicht nur das Können, der Verstand oder der Selbstwert, sondern auch immer das Glück und der Zufall. Aber trotz aller Konkurrenz, trotz allen Streits und Wettbewerbs, trotz aller Kämpfe sind wir immer auch eingehüllt vom Grundkonsens der Menschheit, der Großgruppe, der Kleingruppe, des Paars und etwa des Gartens, in denen wir uns befinden und ohne die wir nicht wären.

Es ist doch merkwürdig, dass gerade diejenigen, die die Freiheit einschränken wollen, sich bei der Entfernung vom Grundkonsens der Menschheit auf Freiheit berufen. Niemand aber entfernt sich ungestraft von diesem Grundkonsens. ‚Du sollst nicht töten‘ [Exodus 20,13] etwa ist nicht ein frommer Wunsch, der sich durch widrige Wirklichkeiten zu behauptet hätte, sondern eine conditio sine qua non*** des Zusammenlebens. Wer sie missachtet, wird missachtet. Die Strafe ist die Entfernung aus dem Grundkonsens. Eine Umkehr ist immer möglich. Nichts muss, alles kann, aber es wird immer kommen, wie es kommt.

* „Der Unwissende ist unfrei, denn ihm gegenüber steht eine fremde Welt, ein Drüben und Draußen, von welchem er abhängt, ohne dass er diese fremde Welt für sich selber gemacht hätte und dadurch in ihr als in dem Seinigen bei sich selber wäre.“ HEGEL. Ästhetik, Berlin und Weimar 1984, Band 1, Seite 105

** vergleiche: DIE HEGELSCHE TREPPE, Blog Nr. 240

*** Bedingung, ohne die nichts (ist, geht)

DER PREIS DES TICKETS

Offener Brief an der Bürgermeister der Kleinstadt P.

Die Bundesregierung versucht, uns, das Volk, durch diverse Krisen zu navigieren, auch indem sie die eine oder andere finanzielle Förderung verteilt. Aber es gibt dann auch Kommunen, die das konterkarieren, indem sie einfach bei ihrem alten Trott bleiben, egal was draußen in der Welt passiert.

Ich wollte also mit dem Deutschlandticket in die nächste Mittelstadt fahren und stellte mein Auto, mit dem man in einer ländlichen Gegend nun einmal zum Bahnhof fahren muss, auf dem Parkplatz einer Kleinstadt ab. Der Parkautomat erwies sich für mich als etwas schwierig, nach zwei Versuchen hörte ich den Zug pfeifen und gab es auf, da der Preis für einen Tag nur 4 € war, so dachte ich, könnte die Strafe nicht über zehn Euro liegen. Parkplatzmangel gibt es in dieser Stadt auch nicht, schon deshalb, weil es Mangel an Menschen gibt, an Einheimischen und an Touristen.

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Nach zwei Wochen kam aber die Überraschung: das Parken auf dem leeren Parkplatz eines ziemlich verwahrlosten Bahnhofs kostete stolze 40 €, also fast soviel wie das Deutschland-Ticket in einem Monat. Als Beweis diente ein Foto meines Autos, das weder die Uhrzeit noch den fehlenden Parkschein zeigte. Und das finde ich in zweifacher Hinsicht unangemessen, unverhältnismäßig.

Erstens müsste die Stadt, die solche Preise nimmt, samt ihrem Bahnhof einige Attraktionen haben. Wir alle wissen, dass für die verfallenden Bahnhöfe die Bahn zuständig ist. Kann sich also der Bürgermeister zurücklehnen und warten, bis alles zu Ruinen zerfiel? Man sieht, dass der Bahnhof einst groß und bedeutend war. Nun schützen Bauzäune den Zerfall. Alles ist zu, nichts gibt es mehr. Der ortsüblichen Ausrede, dass mangelnde Nachfrage und nächtlicher Vandalismus Laden, Café und WC verhindern, wird ausgerechnet durch eine Spielhalle widersprochen. Es gibt übrigens im 100-km-Umkreis mehrere Kulturbahnhöfe, dieser Bahnhof hier bietet ungewöhnlich viel Platz für multiple Nutzungen, die überregional bekannt werden könnten.

Aber nicht nur der Bahnhof verfällt. Auch an der langen Bahnhofstraße stehen Ruinen. Der Weg zum musealen, sehenswerten Lokschuppen ist sozusagen mit Ruinen gepflastert. Die traurigste Ruine dürfte wohl der einst schöne Tabakspeicher sein. Für diese ganze Straße gehören die Bahn und die Stadt ins Guinnessbuch des Rückschritts und der Hässlichkeit.  

LEERER, TEURER PARKPLATZ

In der Stadt selbst gibt es bemerkenswerte Beispiele für Rekonstruktion und Neubau, wie zum Beispiel den Anbau des Gymnasiums oder das St. Spiritus-Ensemble, aber auch weitere Ruinen, so eine Kirche, zwei Schulen, Wohn- und Geschäftshäuser, ehemalige Produktionsstätten. Selbst die Stolpersteine für die ermordeten Mitbürger sind in einem beklagenswerten Zustand. Genug zu tun also für Politessen! Für 40 € dagegen müsste die Stadt die Qualität mindestens von Starnberg am gleichnamigen See haben.

Zweitens, und so ist es auch in großen Städten, kann die Strafgebühr das Doppelte, aufgerundet das Zweieinhalbfache der Parkgebühr betragen, aber doch nicht das Zehnfache, zumal der Parkplatz immer leer ist. Es gibt im Bereich der RE-Linien 3 und 5 keine Nachbarstadt, die überhaupt Parkgebühren am Bahnhof verlangt. Es ist also dreist, aber Dreistigkeit kann ja durchaus ein Geschäftsprinzip sein. Jedoch  ist es auch dumm, denn es schreckt unnötigerweise ab. Und so werde auch ich in Zukunft diesen Parkplatz und diese Stadt meiden. Aber es gibt natürlich noch weitere Möglichkeiten, zum Beispiel, dass die Kleinstadt sich darauf besinnt, dass sie Kleinstadt ist. Dann muss sie nur noch freundlicher werden.    

UNFIT

aus:  HUNDERT TAGE MEINES LEBENS

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Ein Freund lud mich ein, mit ihm die Touristenstrecke, die früher meine Schüler-Geschichts-Meile war, vom Reichstag bis zum Jüdischen Museum, mit dem Elektroroller zu befahren und fragte mich vorsorglich, ob ich dafür fit genug wäre. Als ich in der Tiefbauschule anfing, also 1979, stand an der Straßenbahnhaltestelle der 70, in der Pistoriusstraße in Weißensee, vor der Volksbuchhandlung, die nun ein Dönerladen ist, ein Mann in meinem jetzigen Alter, an dessen Nase stets ein ekler Tropfen hing. Er hatte schäbige Sachen an und trug eine schäbige, ganz dünne, wahrscheinlich leere Aktentasche, die ihn zum Büroarbeiter machte. Er erinnerte mich merkwürdigerweise an meine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt ihre letzte, aber dann noch Jahrzehnte währende Arbeit bei der Berliner Domkantorei unter Kirchenmusikdirektor Herbert Hildebrandt begann. In der Tiefbauschule war ich, wahrscheinlich nur für kurze Zeit, der jüngste Lehrer, und wurde auf der Freitreppe zum Hof von Schülern gefragt, seit wann die Ordnungsschüler hier etwas zu sagen hätten. Der damals älteste Kollege war ein legendärer Zimmermann, der im Unterricht aber nur noch seine Legenden erzählte, wie zum Beispiel, dass er einen Nagel mit der flachen Hand oder mit der Faust in einen Balken einschlagen konnte. Ich glaube es heute noch nicht. Wenn er aus der Lehrertoilette kam, hatte er an seiner Hose vorne einen großen Urinfleck. Er war zu jener Zeit zehn Jahre jünger als ich jetzt.

Mein kleiner Patenenkel Nathan wird bald fünf Jahre alt und soll ein neues Fahrrad und ein neues Bett bekommen. Zuerst fahren wir also zu Fahrrad-Stadler, dem größten Zweiradgeschäft Deutschlands, auch mein geliebtes FOCUS ist aus diesem Laden. In die U-Bahn stieg am Sophie-Charlotte-Platz ein alter Mann, sicher schon über achtzig, groß, schwer, und er wäre sogar stattlich zu nennen gewesen, wenn er nicht mitsamt seinem Fahrrad beim Anfahren der U-Bahn so schwer gestürzt wäre, dass er selber nicht mehr hochkam. Wir halfen ihm, mehrere Leute waren besorgt und gaben ihm gute Ratschläge. Am Kaiserdamm stiegen wir aus. Plötzlich hörten wir hinter uns einen lauten Schlag und ein rhythmisches Weiterschlagen: bam-bambam-bam-bambam: Der alte Mann war auf der Rolltreppe wieder schwer gestürzt, sein Fahrrad schlug unten immer gegen die nächste Stufe. Ungeachtet der äußerst gefährlichen Lage versuchte der alte Mann nun, die Treppe rückwärts hinunterzugehen, was ihm natürlich nicht gelingen konnte. Das ist ein Sport für junge Burschen. Nathans Vater rannte nach unten, Nathans Mutter und ich hoben den 100-Kilogramm-Mann auf, der erneut gestürzt war. Wir vermuteten nach getaner Rettung, dass er möglicherweise betrunken sei, dass er nichts mehr hört, einigten uns dann aber auf meine Formel, dass er die Welt nicht mehr versteht. Er versteht nicht, dass er nicht mehr schafft, was er früher spielend schaffte. Wenige Minuten später raste Nathan mit seinen Proberädern die langen Gänge des tatsächlich außergewöhnlichen Ladens auf und ab, übervorsichtig betreut von seinem Vater. Die Fahrräder in diesem Laden sind nicht gerade billig, aber sein Vater ist ein fleißiger Mann, der keine Sonderschicht auslässt, um Überstunden und Feiertage extra bezahlt zu bekommen. Er war bei mir 2015, im ‚WIR-SCHAFFEN-DAS‘-Flüchtlingsjahr im Deutschkurs, daher kennen wir uns. Es war das Jahr, in dem die Nazis annahmen, dass die Flüchtlinge wegen des christlichen Nächstenliebesatzes der CDU-Kanzlerin Merkel aus Templin gekommen wären. Nathans Vater und andere, die ich kenne, haben Jahre gebraucht, haben in Khartum und Tripolis monatelang gearbeitet, und haben von Frau Dr. Merkel zu ersten Mal in Eisenhüttenstadt gehört, dem damaligen Zentralaufnahmelager für die östlichen Bundesländer.  

2

In meinen letzten beiden regulären Arbeitsjahren hatte ich jeweils eine Fachabiturklasse und - damit ich es ein bisschen leichter hätte - zwei oder drei Berufsvorbereitungsklassen. Das sind junge Menschen ohne Schulabschluss, die durch die Jobcenter - bei Androhung von Strafen – aufgefordert werden, sich wenigstens für einen Beruf zu interessieren. Die Arbeit ist insofern leicht, dass nie alle da sind, dass aber die da sind, dankbar jede Hilfe annehmen, soweit ihre Konzentrationsfähigkeit reicht. Es kamen zu Beginn des Schuljahres also vielleicht 50 Jugendliche mit einem Schreiben vom Jobcenter. Sie saßen in der Aula und meine Kollegin D., die stellvertretende Abteilungsleiterin, liest laut die Klassenbezeichnung und die dazugehörigen Namen vor. Sowohl Lehrer als auch Schüler können aber auch Wünsche äußern, in welche Klasse wer aufgenommen werden soll. Da stutzt sie bei einem für sie schwer auszusprechenden Namen. Ich sehe auf das Blatt: es ist der Name des islamischen Gelehrten und Lehrers von Mehmet II., dem Eroberer Konstantinopels. Jahrelang stand an meiner Bibliothekstür in Türkisch und Deutsch der Satz, den Mehmet II., damals zwanzig Jahre alt, gesagt haben soll, nachdem er die Stadt eingenommen hatte und man ihm Rosen überreichte, die er an seinen Lehrer weitergab: ICH BIN DER EROBERER, ABER DAS IST MEIN LEHRER. Ben fatihim ama bu benim öğretmenim.
Der Junge, der so hieß wie dieser berühmte Lehrer, beobachtete unser leises Gespräch, in dem ich meiner Kollegin die Bedeutung dieses Namens erklärte. Mit einem Lächeln nahm er auf, dass ich ihn ausdrücklich in meiner Klasse haben wollte. Es war vielleicht das erste Mal, dass ihn jemand haben wollte. Später erfuhr ich, dass der Vater, ein hochreligiöser Mann, die Familie verlassen und die Mutter mit den beiden Kindern zurückgelassen hatte. Die Mutter schlug sich als Reinigungskraft durch und konnte sich damit nur eine kleine Wohnung im Osten Berlins leisten. Der Junge mit dem schönen und bedeutungsvollen Namen kam auch eine zeitlang zur Schule, aber bald verfiel er in sein altes Bummelschema: nicht aufstehen, die Mutter war längst zum Malochen gegangen, fernsehen, zocken, dann war es zu spät für die Schule.  Er hat mir erzählt, dass er seit vielen Jahren schon nicht mehr mit Lehrern gesprochen hatte. Er antwortete einfach nicht, wenn sie ihn etwas fragten.
Vielleicht war es der letzte sehr warme Spätsommertag, als ich mich entschloss, ihn bei sich zuhause aufzusuchen. Ich fuhr mit dem Fahrrad durch das heiße Berlin, von Weißensee bis Friedrichshain, das ist nicht sehr weit, aber es war sehr warm. Ich schwitzte stark. Es war eine ganz kleine Straße, in der aber die gleichen Neubauten aus den fünfziger Jahren standen, wie in der benachbarten großen Allee mit dem einst widerwärtigen Namen. Ich klingelte mehrmals und musste lange warten. Es war eine Geduldsprobe, aber ich war sicher, dass er zuhause wäre. Dann kam ein ganz leises JA, beinahe verstört aus der Sprechanlage. Er öffnete mir. Oben an der Wohnungstür stand ein staunender Schulschwänzer, der es nicht glauben konnte, dass ihn jemand suchte.  Er brachte mir sofort ein Glas Wasser und hörte sich dann meine Sermone zu seinem Verhalten an. Wir saßen im Wohnzimmer, in dem aber auch das ungemachte Bett seiner Mutter war, eine Ausklappcouch. Sein Zimmer wollte er  mir nicht zeigen. Aber das und meine Reden waren nicht wichtig. Er hatte seinen Entschluss gefasst und kam von dem Tag an tatsächlich regelmäßig zur Schule. 

Diese Klassen werden regelmäßig vom Berliner Fußballklub Hertha BSC zu einer workshop-Woche eingeladen. Trainer und Mitarbeiter arbeiten dann mit den Jugendlichen. Am Sporttag kam mich unser Sozialarbeiter besuchen, dem wir wohl diesen Kontakt zum berühmten Verein verdankten. Wir saßen also beide auf der Zuschauertribüne der großen Halle und sahen zu, wie unsere nicht so sonderlich glücklichen Schüler Sport trieben. Plötzlich aber sahen wir: den Jungen mit dem berühmten Namen. Er machte eine ausgezeichnete Figur. Wir beobachteten ihn eine Weile zu unserem größten Erstaunen. In der Pause besprachen wir uns mit dem Trainer, der unseren Eindruck und die Begabung des Jungen bestätigen konnte. Unser Sozialarbeiter ließ seine Verbindungen spielen, und es gelang uns, für den sportlich hochbegabten Jungen eine Ausbildung als Rettungsschwimmer mit anschließendem Arbeitsplatz zu organisieren. Noch einige Jahre schrieb er mir, dass er immer noch da arbeite. Inzwischen aber, das ist alles mehr als ein Jahrzehnt her, ist der Kontakt abgebrochen. Wir können nicht das Leben anderer Menschen leben. Wir können nur helfen und Angebote machen.

3

Dann kam bei mir die Phase der Deutschkurse. Hin und wieder habe ich auch einen oder einige Nachhilfeschüler. Manche wollen nur ihre Zensur verbessern, oft von den Eltern angetrieben. Andere sind wirklich hoffnungslose Fälle. Sie entsprechen vielleicht dem Vorurteil. Aber auch hier geschehen Wunder.

Drei Stunden pro Woche bekommt ein 15jähriger Schüler der achten Klasse, vom Jobcenter bezahlt, weil seine Eltern nicht genug verdienen. Er geht nicht gern in die Schule, schläft manchmal im Unterricht ein, den Kopf auf den Armen, die Arme auf dem Tisch. Jeder Lehrer kennt das Bild und ärgert sich über diese Wirklichkeit, die ab und zu vorkommt. Aber, so erfahre ich weiter, er ist auch nicht gerne in dem Land, in das seine Eltern und die gesamte Großfamilie ausgewandert sind. Zwar wohnen sie nur zehn Kilometer von der Grenze entfernt. Er kann jederzeit – sogar mit dem Fahrrad – hinüberfahren. Sie kaufen dort jede Woche ein. Sie haben ein kleines Haus in der Nähe der Ostseeküste und in der Nähe eines einst und jetzt wieder berühmten Badeortes. Er wirkt gar nicht so unzufrieden, eher gelangweilt, desinteressiert. Merkwürdig ist nur, dass er alles ausführt, was man ihm aufträgt, aber, wie wir Lehrer sagen, es bleibt nichts hängen. Morgen hat er es schon wieder vergessen. Er spricht nicht schlecht Deutsch, sein Akzent ist nicht sehr stark. Er hat eine sehr angenehme, tiefe Stimme, und das einzige, was richtig an sein ursprüngliches Land erinnert, ist das kräftige Zungen-R.

Vielleicht in der fünften oder sechsten Woche, die wir zusammen sind, will ich ihm das Leben mit den ewigen Übungen und Grammatik tools erleichtern. Vielleicht will ich es auch mir erleichtern. Leichthin sage ich, ohne selbst an ein Ergebnis zu glauben: Schreib doch mal eine Geschichte, dann können wir die Fehler analysieren. Und er schreibt los. Er schreibt eine Geschichte von einer halben Seite. Das ist für Schüler seiner Art viel. Noch erstaunlicher als die Quantität ist die Qualität der Geschichte. Er lebt auf, als ich sie laut vorlese. Ich befürchte kurz, dass es seine Geschichte sein könnte, denn sie handelt von einem Vater, der trinkt und prügelt und seine Familie schlecht behandelt. Aber er lacht und beruhigt mich: nein, das bin nicht ich. Denn der Sohn in der Geschichte verzeiht seinem Vater und pflegt ihn.

Am nächsten Tag haben wir zwei Stunden und er schreibt eine Geschichte von einer ganzen Seite. Meist ist das selbstständige Schreiben das eigentliche Problem von Problemschülern im Fach Deutsch. Aber er schreibt nach wieder nur kurzem Überlegen eine spannende, sogar ein bisschen provozierende Liebesgeschichte. Auch hier ist es – diesmal leider – nicht seine Geschichte. Er hat sie sich wirklich  ausgedacht. Zufällig finde ich im Internet eine Ausschreibung für einen Jugendliteraturwettbewerb. Es geht darum, eine Geschichte zu schreiben, die dann von einem von der Jury zu bestimmenden Partner ins Italienische zu übersetzen ist. Es gibt fünf Preise, Geld, die Partnerin oder den Partner in Italien, eine Reise dorthin. Das nächste Wunder geschieht: er baut seine Geschichte auf die von der Ausschreibung geforderte Länge hin um, vertieft die beiden Charaktere, erfindet Nebenrollen und Details. Die Geschichte hat zwei anrührende Höhepunkte und einen altersgerecht nebulösen Schluss: wie im Märchen sind die beiden Protagonisten vereint. Geduldig hat er meine Hinweise und – rein sprachlichen – Korrekturen hingenommen und eingearbeitet. So lange, mehrere Tage, hat er noch nie in seinem Leben an einem Text gearbeitet.

Da ich die Ausschreibung nicht genau gelesen hatte, war ich fälschlich davon ausgegangen, dass wir die Geschichte ausdrucken und per Post an die Stiftung schicken würden. Sie musste aber als email eingereicht werden. Das musste und konnte er nur selber tun. Am letzten Tag meldete er sich bei mir und schrieb, dass sein Computer nicht WhatsApp-kompatibel ist. Dann funktionierte seine email-Adresse nicht, weil sie nie benutzt wird. Dann kam alles zurück. Ich habe ihm auf WhatsApp gesagt, was er an seinem Computer machen muss. Und er hat es geduldig alles ausgeführt. Und nun ist die Geschichte – ich kann es nur hoffen – da, wo sie hingehört. Und wir hoffen, dass die Jury die Authentizität des zweisprachigen Denkens erkennt. Er hofft auf einen Preis, muss sich aber noch entscheiden, ob er das Geld oder die Reise besser finden würde.

Ich dagegen hoffe auf die Initialzündung, die ein solcher Erfolg auslösen könnte. Ich hoffe darauf, dass er seine Kraft erkennt, die in seiner Fantasy liegt. Sie lag bisher wahrscheinlich nicht brach, aber sie ist weder von ihm noch von seinen Lehrern mit der Schule verknüpft worden. Jetzt wissen wir, was er geträumt hat, wenn sein Kopf auf der Tischplatte lag. Jetzt weiß er oder jedenfalls kann er wissen, dass das, was er träumt für die Schule und für das Leben nutzbar gemacht werden kann und muss.   

DIE WELT IST AUS DEN FUGEN

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Auf der einen Seite war sie noch nie ‚in den Fugen‘, auf der anderen Seite sagt diesen berühmten Satz eine Kunstfigur, ein Zauderer mit Atemnot, der sich noch nicht einmal für die Frau entscheiden kann, die ihn liebt. Er schickt also sie in den Wahnsinn und die Welt in das Chaos. Aber da ist die Welt schon. In dem berühmten Theaterstück werden Politiker gezeigt, die damals mit Mord und Totschlag, heute mit Filz und Fake ihre kleine Politik besserwisserisch durchsetzen wollen, nicht, weil sie besonders schlecht und böse wären, sondern weil sie Menschen sind wie du und ich. Aber wir, die Konsumenten von Politik, sind andere geworden. Wir sind keine Analphabeten mehr, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn. Wir sind keine unmündigen Elemente eines zwar funktionierenden, aber doch hierarchisch-autoritären Systems. Das nächste ABER muss gleich folgen: und autoritäre und hierarchische Systeme funktionieren nur soweit und solange ihr Zusammenbruch mit drastischen Strafen vorweggenommen und gleichzeitig zu verhindern versucht wird. Wer das System bedroht, wird bedroht. Dadurch verrohen die, wie Rousseau meinte, anfangs idealen Sitten. Die Demokratie versucht nun das Gegenteil, sie macht die Menschen nicht nur mündig, sondern auch zu Produzenten der Verhältnisse. Allerdings stößt sie dabei auf fast gleich erbitterte Widerstände wie seinerzeit und seinesorts der Autoritarismus. Gegen ihn richtet sich der Freiheitswille des Individuums, den man an jeder Stubenfliege am Fenster beobachten kann, an jedem Käfer. Gegen die Freiheit der Demokratie richtet sich der Ordnungszwang, dem wir ebenso unterliegen. Wir glauben, und alle Religionen und Philosophien bestärken uns in diesem Glauben seit Jahrtausenden, dass die Welt ursprünglich oder eigentlich geordnet, aber durch den bösen Willen und Unverstand immer wieder ins Chaos abzurutschen gefährdet sei. Das ist der Grund, warum sich jede Ordnung, sei sie nun autoritär oder liberal, für alternativlos erklärt. Das gilt im übrigen auch für Texte. Man könnte keine Politik machen, wenn man an Alternativen glaubte. Wenn man sich alte Bundestagsdebatten anhört, dann kann man das sehr schön illustriert finden: jeder Redner – zum Beispiel Strauß und Wehner – geht zwar auf die Argumente der anderen Seite ein, aber nur, um festzustellen, dass lediglich die eigene Politik das Problem lösen kann und wird.

Es gibt allerdings zwei Auswege, die sich natürlich, wie alles auf der Welt, überschneiden und nicht etwa unversöhnlich gegenüberstehen. Das Wort unversöhnlich scheint einen gemeinsamen Sohn doch nur auszuschließen, denn praktisch, das weiß jeder, gibt es, wo Menschen aufeinander treffen, immer auch Söhne und Töchter. Der erste Ausweg sind charismatische Führer.

Führer scheuen Diskurs.

[Arbeitshypothese: Könnten die Führer die Lösung sein, wenn sie den Diskurs zuließen?]

Sie demonstrieren ihre Macht und glauben, dass jedes Problem mit ebendieser Macht zu lösen sei. Aber die Macht ist nur eine taube Nuss, ebenso wie das Talent, wenn es keinen Inhalt, keinen Fleiß, kein Abarbeiten der Einzelfälle gibt. Es hilft selbstverständlich nicht, wenn die Menschen nur in Gruppen eingeteilt werden: Freund und Feind, innen und außen, schwarz und weiß, rechts und links. Das Charisma des Führers erlaubt die einfachen, unglaubwürdigen Lösungen. Aus Erfahrung weiß man eigentlich, dass es nicht geht. Alle autoritären Gesellschaften verweisen deshalb auf die Weisheit des Führers oder der führenden Gruppe, denn: bei aller Rechthaberei oder Besserwisserei, wer bezeichnet sich selbst schon als weise? Darauf setzt die Autorität. Sie glaubt, dass sie nur durch Gegengewalt gestürzt werden kann. Tatsächlich aber haben sich alle Diktaturen durch ihre Inkompetenz selbst gestürzt. Das Hitlerreich hat die eigenen Kirchtürme bombardiert, um nicht zugeben zu müssen, dass es zurecht verlor; das zusammenbrechende Sowjetreich hat, hier bei uns, alles was nicht niet- und nagelfest war mitgenommen, wohlwissend, dass es in die Armut zurücktorpediert würde.

Putin bombardierte oder annektierte Tschetschenien, Südossetien, Abchasien, Transnistrien, den Donbass und Luhansk, Syrien, und schließlich die Ukraine um zu verdecken, dass es im eigenen Land durch eigene Schuld für die ländliche Mehrheit weder WCs noch sonst einen Wohlstand gibt. Nationalismus braucht keinen Wohlstand, dafür reicht das Staatsfernsehen. Wohlstand braucht keinen Nationalismus, deshalb sind wir in jenem Staatsfernsehen das Beispiel für Dekadenz und Untergang. Die ganze Misere der Autokratie wird auf uns projiziert, und die genervten Bewohner der Autokratie sind getröstet, dass es den anderen – also uns – wenigstens schlechter geht als ihnen. Leider erleben wir im vorigen und in diesem Jahr als Zeugen einer erbärmlichen Geschichte mit, wie der Tyrann nicht nur seine Nachbarn und den lange herbeidiskutierten Konsens schwer beschädigt, sondern das eigene Land in den Orkus seines Untergangs mitreißt.

Diskurs scheut Führer.

[Arbeitshypothese: Könnte der Diskurs die Lösung sein, wenn er Führer zuließe?]

Der Diskurs demonstriert eher die Unmöglichkeit, ein Problem zu lösen als die Möglichkeit. Den Kompromiss empfinden viele Menschen als Schmach. Es ist schwer einzusehen, dass man selbst nicht recht hatte oder nichts zur Lösung beitragen konnte. Das Ausdiskutieren jedes Problems dauert manchmal Generationen. Deshalb sehnen sich die Menschen in diskursiven Systemen so oft nach Ordnung, Charisma, vielleicht einfach nur Anhaltspunkten. Eine Demokratie ist also schlecht beraten, immer wieder aufs Neue, aus Kostengründen, wegen der Rationalität oder aus anderen Gründen, Ordnungen zu beseitigen. Demokratie ist ohnehin schon schwer zu verstehen, wenn dann auch noch die Kreisverwaltung schließt oder der Name des Heimatortes in eine anonyme Bezeichnung – ORTSTEIL – geändert wird, verlieren die Menschen Vertrauen und Orientierung.

Viele vermuten daher als Urheber von Ereignissen einen Masterplan oder sogar eine Weltherrschaft. Der Prinz in unserem Titelzitat beklagt nicht etwa, dass die Welt aus den Fugen, sondern dass ausgerechnet er dazu berufen sei, sie wieder in Ordnung zu bringen. So gesehen sind wir alle Egoisten. Wir glauben immer und überall, dass wir gemeint sind. Wir können uns nicht für anonym halten, weil wir einen Namen haben. Wir haben einfach vergessen, dass wir, um einen Namen zu haben, uns erst einen Namen machen müssen. Wer aber in der Demokratie seine Namenlosigkeit beklagt, wie will der in der Diktatur glücklich werden? Er kann nur erfolgreich sein durch den Ausschluss anderer, und das verbietet nicht nur die Menschlichkeit, sondern das verbieten auch alle Religionen und Philosophien, allerdings im Kleingedruckten. Der Preis des Sieges ist das, was man nicht hören will. Niemand lässt sich gerne belehren von Menschen, die unter ihm stehen. Wie soll er da verstehen, dass niemand unter ihm steht.

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Sie verbessert sich nur langsamer, als wir gehofft haben. Niemand ist allein berufen, die Welt zu verändern. Keiner kann allein die Probleme der Menschheit lösen. Nur der Diskurs selbst ist alternativlos, allerdings sollte er das Charisma zulassen. Charismatiker sollte man weder erschießen oder ans Kreuz nageln, weil man niemanden erschießen oder kreuzigen darf, noch unterdrücken, weil man niemanden unterdrücken sollte, noch nach ihrem Tod diskreditieren, weil man keinem Toten Schlechtes nachreden muss, denn man kann ihn nicht mehr ändern.

Vielmehr müssen wir lernen, den Diskurs und das Charisma auszuhalten. Unsere Medien sind nicht unsere Kompetenz, sondern nur unser Krückstock.

VERSCHWUNDEN

Wir müssten wohl lange suchen, um einen geeigneteren Ort für ein Drama über Flucht und Vertreibung zu finden, als das ‚intime theater‘ im Hugenottenpark in Schwedt. Schon die Lage direkt an der Oder, dem kleinsten unserer großen Flüsse, der, anders als der gegenüberliegende Rhein, erst spät zum Grenzfluss wurde. Aber hier kreuzten sich die Wege von Slawen und deutschen Kolonisten, Juden siedelten sich, so der Plan, auf Dauer an, dann kamen die Hugenotten und brachten Tabak und Spargel mit, und mit dem Ende des, wie wir dachten, letzten Krieges fanden, obwohl alle Brücken zernichtet waren, die Deutschen von zuhause nach zuhause. Jetzt erfreuen wir uns an einer fleißigen und gewinnbringenden polnischen Einwanderung, die nicht die erste ist. Und es kommen Ukrainerinnen, die auf das Ende des nun wirklich letzten Krieges oder auf die zweite Chance warten.

In diesem ‚intimen theater‘ gab es im März 2023 als deutsche Erstaufführung Elise Wilks Spektakel ‚Verschwinden‘ über das Verschwinden der Rumäniendeutschen in den achtziger Jahren und vor allem um 1990, nach dem Sturz der Ceauşescu-Diktatur. 

Uns ‚aus dem Reich‘, wie die alten Siebenbürger Sächsinnen und Sachsen uns benannten, waren Sprache, Religiosität und Bräuche in Siebenbürgen und im Banat altertümlich und idyllisch, vertraut und fremd zugleich, heimelig allzumal. Mir erschien diese wunderschöne Kultur, von der Sprache  einmal abgesehen, eher wie Folklore, wie die Sorben in der Lausitz, deren Leben damals auch noch etwas kohärenter um Sprache, Tracht und Religion kreiste. Heute gibt es nur noch winzige Inseln, wie zum Beispiel den Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner in Roşia (ehemals Rothberg), den ich vor einigen Jahren, sozusagen als Abschied vom deutschen Siebenbürgen besucht habe. Unser Auto, ein unspektakulärer Ford Escort Kombi, war von etwa 50 Romajungs umringt, die jede Funktion des Wägelchens erklärt und vorgeführt haben wollten. Ihre Familien haben mit Schlattners Unterstützung das ehemals vollständig deutsche Dorf besiedelt, er organisierte ihnen eine Waldorfschule. Unser langes Gespräch mit ihm über seine drei höchst lesenswerten Romane aus einer zeitlich und räumlich fernen, aber dennoch deutschen Inselwelt wurde durch das Erscheinen von vielleicht hundert Pfadfindern beendet, mit denen wir dann in seiner 800 Jahre alten Kirche DONA NOBIS PACEM sangen.

Zeitgleich verschwanden Elisa Wilks Verwandten und Freunde und verdichteten sich später und sukzessive zu dem lesens- und hörenswerten Theatertext ‚VERSCHWINDEN‘. Er zeigt das Leben und die Remigration einer rumäniendeutschen Familie. Dieses Prisma – die Familie – überdeckt aber die politischen oder historischen Zusammenhänge. Eine große Menge von Rumäniendeutschen musste in der Sowjetunion, nämlich in Kriwoi Rog, im Donbas oder in Sibirien, den Preis des Tickets für deutschen Größenwahn und deutsche Grausamkeit bezahlen. Eine ehemals Banater Punklady hat später einen Roman* darüber geschrieben und prompt den Nobelpreis für Literatur dafür bekommen.  In den Familien wurde darüber nur geflüstert. Auch über die Bestechungssummen für die Securitateverbrecher, die den Weg zum Verkauf der Häuser an sie und der Hausbewohner an Deutschland organisierten, wurde nur geflüstert. Der arme Junge (Lennart Olafsson), der, weil er schwul war und erpresst wurde, sich in einer höchst anrührenden Szene als Denunziant outen muss, muss ebenso flüstern. Aber das Mädchen (Adele Schlichter), das ihn bis dahin liebte, liebt ihn trotz des nun verdoppelten  Hindernisses weiter und weiter. Alle Schauspieler, auch Ines Venus Heinrich als Kathi, müssen ihre Rollen tauschen. Dadurch entstehen ganz nebenbei fast Brechtische Etüden für Schauspieler, die alle als Meisterin und Meister bestehen. Zur Hilfe für uns Zuschauer sind die Koffer wie universelle Migrantenmetaphern und wirkmächtige Requisiten mit Namen beschriftet. Migration ist Rollentausch. Die Wanderung von Mensch zu Mensch hat ein neues Modewort hervorgebracht: Empathie, das Einfühlen in die Mitmenschen. Die auf Individuation gerichtete Wohlstandsgesellschaft tut sich schwer damit, doch die Migration aus Osteuropa, aus dem Nahen Osten, aus Afghanistan und mehreren afrikanischen Ländern erinnert uns an diese grundmenschliche und grundanständige Fähigkeit, die uns allen innewohnt, auch ihren Leugnern. Leugnen hilft weder vor dem irdischen noch beim Jüngsten Gericht. Wenn das Haus brennt, können wir nicht nach der Herkunft seiner Bewohner fragen, so kann man es schon in einem berühmten zweihundert Jahre alten Großrührstück** lesen, das für mich in den Olymp des Theaters und der Weltnarrative gehört.

Das Prisma der Familie schluckt die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Wir sehen und hören eine Familie, die einen Weg zum Glück (?) sucht. Das ewige Dilemma zwischen Hierbleiben oder Weggehen hat zwei gleichschlechte Lösungen: hierbleiben oder weggehen. Das ist überall so, nur in Migrationsgruppen ist es verstärkt wie in einem Brennglas. In einem ehemals pommerschen Dorf dagegen sprach alles für Hierbleiben, und trotzdem gingen immer einzelne weg und rannten in ihr Glück oder Unglück. Wie in einem Mikroskop deckt die Familie und ihr er Einzelne seine einzige wirkliche Identität auf: das Menschsein. Als die Siebenbürger Sachsen aus Deutschland verschwanden, fehlten sie nicht. Als sie achthundert Jahre später aus Rumänien verschwanden, fehlten sie ebenso wenig. Wir sind im wesentlichen doch eben nur Menschen, nicht Deutsche oder Russen, nicht Frauen oder Männer, nicht Alte oder Junge, nicht Muslime oder Christen, nicht Rechte oder Linke. In jeder Familie der Welt gibt es die gleichen Probleme, und, was noch verwunderlicher ist, die gleichen Lösungen. Mein Vorfahr kam aus demselben Grund aus der Wallonie nach Deutschland, aus dem mein Freund aus Eritrea hierher kam. Aus wieder dem gleichen Grund gingen Verwandte von mir nach Amerika, andere Eritreer nach Israel, Israelis nach Berlin, obwohl das einst die Hauptstadt des Rassismus und der Mörder war. Auch die Siebenbürger Sachsen gingen und kamen. Beinahe möchte man sagen: und so weiter und so fort. Natürlich gibt es Unterschiede, aber sie sind marginal. Natürlich gibt es Fortschritt, aber er ist nicht so gigantisch wie die Anhänger von Hegel glaubten oder jedenfalls an die Häuserwände schrieben. Leider wird auch jeder noch so kleine Fortschritt immer wieder durch Krieg und Autoritarismus zunichte gemacht. Und das findet sich dann in der vom Unglück verfolgten Familie wieder, auch in dieser Theaterfamilie. Das Bühnenbild zeigt sowohl die Vereinzelung in den sechs Kabinen. Sie sind zwar mit Mikrofonen ausgerüstet, aber die helfen nicht gegen Schwerhörig- und Hartherzigkeit. Demgegenüber bleiben die Koffer zwar benannt, aber beweglich.

Wenn wir nach einem Sinn für unser Leben suchen, so werden wir ihn nicht in unserer Herkunft finden, so edel sie uns auch beschrieben worden sein mag und wie heroisch unsere Ahnen auch auf den Fotos winken mögen. Der Sinn findet sich, wenn überhaupt, in der über uns selbst hinauswachsenden Tat. Und der Markt für Taten ist groß und überall.      

*ATEMSCHAUKEL von Herta Müller aus Niţchidorf (ehemals Nitzkydorf) im Banat

**NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing aus Kamenz in Sorbien

DEUTSCHLAND DAS SIND WIR SELBER

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DEUTSCHLAND, DAS SIND WIR SELBER

Man hätte Deutschland so vereinigen sollen, dass der Osten den Westen domestiziert, aber auch wieder so, als wenn er selber schon der Westen gewesen wäre. Und den Kaptalismus sollte man einfach mit menschlichem Antlitz gestalten. Du gehst in dein Kaufhaus, nimmst dir, was du brauchst, die Kassiererin sagt: schon gut. Auch dein Arbeitgeber winkt müde ab: bleib zuhaus. Da hinten steht Götz Werner und winkt mit 1000-€-Scheinen.

Schon in der DDR, als sie noch gar nicht wackelte, gab es diesen Trend: Neckermannreisen und Sozialversicherungsausweis. Immer mehr Nichtrentner konnten im Laufe der achtzger Jahre in den Westen reisen, und sie berichteten, dass dort in Bochum einerseits die Hölle herrsche, andererseits das Paradies. Und genau so empfanden viele – wahrscheinlich andere – die DDR UNSER HEIMATLAND, so die arhythmisch-rhythmische Variante der FDJ-Sprechchöre, wenn irgendwo ein Politbüromitglied herein getragen oder geschoben wurde. Die bestgepflegten Greise hatten erreicht, wovon sie früher geträumt hatten. Damit muss man gar nicht das Jagdschloss in Wolletz oder das graue Einfamilienhaus in Wandlitz meinen. Sie hatten die Macht. Das war ihr Fetisch. Andererseits ignorierten sie jedes Problem, also glaubten sie ihre Bevölkerung nicht nur wohlverwahrt, sondern auch wohlversorgt. Im GUNDERMANNfilm gibt es diese berüchtigte Begegnung mit Werner Walde, dem Cottbuser Bezirkssekretär, die das zeigt: was wollt ihr denn, ihr habt doch alles, die Schwierigkeiten kommen von außen.

Dieses Erklärungsmuster ist uns geblieben. Irgendjemand muss immer schuld sein. Die Ikone des linken Vereins mit dem schönen proletarischen Namen Wagenknecht tritt immer wieder damit an: Schuld an der Misere sind die Konzerne, ist der kalte Kapitalismus. Die Misere muss erst herbeigeredet werden. Die Gegenüberstellung lautet ja nicht Hartz IV oder unter der Brücke schlafen, und Hartz IV gibt es keinesfalls nur im Osten, sondern auch besonders schlimm in Bochum. Die Gegenüberstellung Wagenknechtscher Prägung lautet: ob es nicht erniedrigend sei, von den Jobcenterbeamten sanktioniert zu werden. Ihre Antwort auf diese Frage lautet immer gleich: Banken enteignen. Unsere gemeinsame Antwort sollte aber sein: Ja, es ist demütigend, besser ist es arbeiten zu gehen. Die Wagenknechtsche Konstellation scheint zudem davon auszugehen, dass alle Menschen im Osten Hartz IV beziehen, besonders die Rentner. Aber weder die Rentner in ihrer Gesamtheit noch der gemeine Ostmensch sind arm. Sie sind – statistisch gesehen – etwas ärmer als ihre, wie man leider nur früher sagte, als wir noch geteilt waren, Schwestern und Brüder im Westen. Gemessen an ihrer eigenen Vergangenheit sind sie aber viel, viel reicher, auch reicher als ihre Schwestern und Brüder jenseits der Oder-Neiße-Grenze.

Man hätte die Wiedervereinigung nicht besser oder auch nur anders gestalten können. Nur selten in der Geschichte kann etwas aktiv und bewusst, rational und vielleicht noch dazu demokratisch ‚gestaltet‘ werden. Meist passiert die Geschichte, weil zuviele Faktoren zu einem Ereignis beitragen, sagen wir (wie immer) 1000 und nehmen wir einen besonders guten Politiker, sagen wir (wie immer) Willy Brandt. Dann kann er ein Zeichen setzen, niederknien, eine neue Ostpolitik machen, nach Erfurt reisen. Aber er konnte – leider, leider – nicht dafür sorgen, dass sein schöner Spruch JETZT WÄCHST ZUSAMMEN, WAS ZUSAMMENGEHÖRT, der uns damals allen das Wasser in die Augen trieb, schneller als, sagen wir, in hundert Jahren verwirklicht werden kann.

Dass am 1. September 1939 alle Menschen in Deutschland, besonders die Männer, aber vor allem auch die Frauen, Mütter, Schwestern, Verlobten, Freundinnen, Krankenschwestern, gesagt hätten: NEIN, NICHT SCHON WIEDER, ist genauso unwahrscheinlich, wie dass alle Menschen an einem Tag ihr Geld als Bargeld von der Bank abholen. Soviel Geld gibt es nicht, soviel Einigkeit gibt es nicht. Es gibt noch nicht einmal eine Schulklasse in Deutschland, die einstimmig beschließt, die Klassenfahrt nach Lloret de Mar zu machen. Wie Geschichte wirklich funktioniert, konnte man viel besser am 9. November 1989 sehen: ein Staat (und nicht ein Land oder eine Heimat) brach zusammen, weil irgendwelche Tattergreise die Zettel verwechselten oder ihre Schlaftabletten nicht finden konnten. Der Staat ist nichts als die Büroklammer einer Gesellschaft.

Es gibt Länder mit enteigneten Banken, es gibt Länder ohne nennenswerte Industrie, es gibt Länder mit Regierungen, die ihre Politik besser erklären als die Bundesregierung MERKEL IV. Aber keines dieser Länder ist insgesamt erfolgreicher. Die USA und China haben größere Volkswirtschaften als Deutschland, aber will wirklich eine signifikante Menge Menschen aus Deutschland dorthin wechseln? Ich erinnere nur an den erschossenen Austauschschüler aus Hamburg. Da ging es um eine Büchse Bier. Auch wenn es mir immer wieder Kritik einbringt: China ist weder die gewünschte noch die tatsächliche Zukunft der Welt. China wird einfach untergehen. Saudi Arabien ist gerade dabei.

Ein funktionierendes und wohlgefälliges Staats- und Gesellschaftssystem (schon das Wort ‚System‘ klingt zu sehr nach Konstruktion) wächst ganz langsam. Das Projekt der deutschen Einheit braucht hundert, vielleicht sogar zweihundert Jahre. Schon vor der deutschen Teilung gab es ein statistisches Gefälle zwischen Nord und Süd, Ost und West. In den ostpreußischen oder uckermärkischen Dörfern gab es vor hundert Jahren Armut, in Bochum dagegen Wohlstand. Gerechtigkeit ist ein Ideal, genauso wie Freiheit, dennoch nehmen sie real in der Gesellschaft zu. Flaschensammler gab es schon in der DDR, man kann bezweifeln, dass sie nur ein Armutszeugnis sind.

1989 waren wir alle überfordert. Ein winziger Fehler hatte zu einem politischen Erdrutsch geführt. Jeder war auf seine Weise desorientiert. Der Kalte Krieg war zuende, die Sowjetunion brach in sich zusammen, Grenzen verschwanden, Völker wanderten ein- und aus. Aber heute verlangen Unrealisten, dass die damaligen Politiker schon damals gewusst hätten, was wir selbst heute nur erahnen können: Zusammenhänge, Netzverflechtungen, Strömungen, Einflüsse. So ungern man es (immer wieder) sagen muss: der Koloss Kohl war ein Pragmatiker der Macht und als solcher der richtige Mensch zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Der Schwachmatiker Lafontaine dagegen hat zurecht alle Wahlen verloren. Wahrscheinlich ist sein Anteil am Untergang der deutschen Sozialdemokratie größer als sein Rache- und Geltungsbedürfnis. Seine Gattin Wagenknecht, mit dem schönen proletarischen Namen und dem rosa Luxemburgkleid, radelt auf ihrem 10.000-€-Fahrrad durch das arme Saarland und überlegt, was man im Osten noch zur Misere erklären könnte. Auch sie hat eine Partei in den Ruin gestürzt. Das alles ist weder schade noch traurig: jegliches hat seine Zeit. Traurig ist, dass im Osten Deutschlands nicht nur das Erklärungsmuster gleich geblieben ist, sondern auch die Parolensucht. Eine Parole müsste doch irgendwann einmal richtig sein, glaubt man hier. Politik im Osten ist ein bisschen wie Lotto: man tippt immer die selben Zahlen (Parolen) und verliert.

Statt dessen gilt: Im Lotto kannst du nichts gewinnen, mit einem Lächeln kannst du alles gewinnen. Liebe Mitschwestern und Mitbrüder im Osten: lächelt. Seid doch endlich einmal froh, dass es keine Grenzen mehr gibt, aber dafür Baumärkte (reißt mal eure alten Schuppen ab!), dass ihr ein gutes Auto habt, ein Haus, eine freundliche Wohnung (selbst die einst grauen Plattenbauten leuchten in vielen Kleinstädten), freut euch, dass ihr nach Mallorca reisen könnt, aber fahrt bitte auch einmal woanders hin. Seid stolz und nicht wehleidig. Baut Leuchttürme statt Tränenteiche und Jammertäler! Lest Heine!

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KAPITALISMUS, DAS SIND WIR SELBER

Je größer das Vehikel, desto größer ist auch die Neigung, sich dahinter zu verstecken. Die abstruse Ansicht, dass mit der Abschaffung der Zinsen auch die Ungerechtigkeit verschwände, hat Millionen Menschen vom Nationalsozialismus überzeugt. Trotzdem empfindet der Betroffene die Zinsen, den Kaufpreis des Geldes als ungerechtfertigt (hoch), auch wenn sie extrem niedrig sind. In Deutschland vergingen kein halbes Dutzend Jahre, als die schräge These aufkam, dass die Abschaffung des Eigentums nun aber wirklich und endgültig Gerechtigkeit brächte. Diese These fand sogar ihren Weg in das Programm der soeben gegründeten neuen konservativen Partei, der CDU. Wenn heute jemand Enteignung, die im Grundgesetz vorgesehen ist, fordert, schrecken alle auf, in Berlin sollten damit aber die Fehler des SPD-geführten Senats kaschiert werden, der seinerzeit städtische Wohnungen an private Investoren verscherbelt hatte. Und dabei war Berlin einst, mit so großen Sozialdemokraten wie Ernst Reuter und Martin Wagner, die Geburtsstätte des sozialen Wohnungsbaus als architektonische Meisterleistung.

Das alles kann und sollte gewusst werden. Trotzdem lassen sich immer wieder viele Menschen mit dem tröstlichen Gedanken einlullen, dass an allen Schwierigkeiten der Kapitalismus schuld sei. Wir wollen nicht schon wieder den berühmten Bäcker von Adam Smith herbeizitieren, obwohl wir uns gerne an dem Erstaunen ehemals nur linker, neuerdings auch rechtskonservativer Leser weiden: ach, es gibt gar keinen Versorgungsauftrag? Der Staat macht gar keine Preise? Adam Smith‘ Bäcker bäckt nur, um selber satt zu werden?

Es scheint schwer vorstellbar, dass aus dem Chaos von blinden Akteuren so schöne Produkte wie der Faustkeil, die Dampfmaschine und das Smartphone geboren werden können. Dasselbe ungläubige Erstaunen haben die Gegner der Evolutionstheorie vorzubringen, die am Kreationismus festhalten, weil er evident ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es keinen Bauplan, sondern die Ordnung gebiert sich aus dem Chaos. Dasselbe Chaos ist der Markt. Nassim Nicholas Taleb schreibt sich die Finger wund und die Kasse voll mit seiner nun wahrlich nicht neuen These, dass nichts vorhersehbar und der Markt chaotisch ist. Wir tun gut daran, uns ausnahmsweise dieses Autoritätsbeweises, der natürlich keiner ist, zu bedienen. Dadurch dass es Mode geworden ist, dass jeder Kommentare zu allem absondern kann, dadurch entsteht keine Kompetenz. Und so wie die Physik sich seit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zur Relativität aufschwingen musste, bis sie bei der Heisenbergschen Unschärferelation ankam, so musste sich auch die ökonomische Lehre von den naturwissenschaftlich erscheinenden Gesetzen abwenden und der soziologisch verbrämten Spekulation zuwenden.

Man hätte es beim Televisor ahnen können: ganze Völker und Kontinente ziehen Information und Unterhaltung der primären Bedürfnisbefriedigung vor. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Europa noch gelächelt, als afrikanische Dörfer gezeigt wurden, die einen Fernsehapparat mittels dieselbetriebenen Notstromaggregats unterhielten und sich köstlich über, beispielsweise, Schnee und Eis auf europäischen und nordamerikanischen Straßen amüsierten, weil es zwar Endgeräte, aber keine eigenen Programme gab. Gleichzeitig, aber nicht kausal verbunden mit dieser Informationsrevolution ist auch der Hunger zurückgedrängt worden. Übrigens übersehen das gerne diejenigen Argumenteure, die vor einer, bis vor kurzem islamischen, jetzt plötzlich afrikanischen Invasion in Europa warnen. Sie glauben, das sei ein mathematisches Problem. Mathematische Probleme sind beispielsweise Gleichungen, aber nicht Invasionen. Die Lösungen der afrikanischen Probleme sind ebensowenig durch Migration zu finden, wie die europäischen, fast identischen Probleme in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts durch Migration zu lösen waren, obwohl es riesige Migrationsströme vor allem nach Amerika gab. Hunger und Bevölkerungswachstum als Problem haben eigentlich nur eine Lösung: Wohlstand. Der war in Europa damals ziemlich wohlfeil, weil die Industrialisierung, noch nicht aber die Massengüterproduktion und die Sozialversicherung angeschoben war. Die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion hat aber auch heute erst sichtbare Nachteile. Wir werden nicht weiter so viel Fleisch essen können wie bisher. Der Fokus auf die tatsächlich nicht unbeträchtlichen Probleme Afrikas vergisst aber, dass gleichzeitig der Westen, nämlich nicht nur Europa, ebenfalls anwachsende Probleme hat. In Japan kann man das demografische Problem des Westens am besten studieren, in den USA ist es durch die Einwanderung abgeschwächt, in Europa stehen wir an der Schwelle: eine Gesellschaft ohne Kinder reproduziert sich auch geistig nicht, erstarrt und verkalkt im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn. Der Sinn des Lebens geht ohne Kinder verloren, denn er kann nun und nimmermehr im Konsum bestehen. Das gilt übrigens nicht nur nur auf der materiellen Ebene. Wir befinden uns vielleicht auf dem Zenit der Reproduzierbarkeit von Kunst. Aber die Euphorie wird in Langeweile umschlagen. Letztlich befriedigend ist, genügend Zeit und Geld vorausgesetzt, nur die Produktion. Noch nie haben soviele Menschen geschrieben, musiziert, fotografiert. All das bedarf aber auch der kontinuierlichen Innovation.

Afrika wird nicht den Weg der Industrialisierung gehen können, wie ihn einst Europa ging, aber wir müssen gemeinsam Lösungen zum Wohlstand finden, natürlich außerhalb der Migration. Migration ist enorm wichtig für den von den Konservativen so sehr verteufelten Kulturaustausch, sollen sie bei ihrem Theoretiker Ernest Renan nachlesen. Aber Migration löst selbstverständlich nicht die Probleme einer noch wachsenden Bevölkerung.

Das alles ist der Kapitalismus. Das alles sind wir. Die Konzerne kommen und gehen. Sie streben nach Maximalprofit, den sie aber nur erlangen können, wenn wir alle maximal konsumieren. Und das tun wir, je mehr Freizeit und Geld wir zur Verfügung haben, desto lieber und desto mehr. Auf Facebook, einem kapitalistischen Goliath, der Spielwiese des Lords Zuckerberg, krächzen manche gegen den Kapitalismus. Das ist ebenso hilflos wie lächerlich. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wanderte ein seltsamer Apostel der Umkehr durch Europa, mit dem passenden Namen Gusto Gräser, barfuß und ohne jedes Eigentum. Er wurde verhaftet, für verrückt erklärt, verlacht und verschmäht. Zurück-zur-Natur-Apostel gab es auch in Siedlungen wie Eden, Gildenhall oder Monte Verita, genützt haben sie nichts oder nicht viel. Die europäische Menschheit schlitterte blind und ohnmächtig in einen Konsumrausch nicht nur ohnegleichen, sondern wie er nie und nimmer vorstellbar war, es sei denn im absurden Märchen vom Schlaraffenland.

Wir machen den Fehler aller Diktaturen und Diktatoren: wir häufen Fehler auf Fehler, mit denen wir uns selbst schaden, bis wir untergehen. Ungeachtet dessen, ob der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht, sollten wir auf zwei Dinge in der Zukunft verzichten, weil die Lebensqualität durch sie sinkt und nicht etwa steigt: auf Fleisch aus Massentierhaltung und auf große Städte. Man kann natürlich nicht zuerst den Menschen in Lagos oder Mumbay empfehlen, aufs Land zurück zu gehen, weil sie nur die Wahl zwischen Scylla und Charybdis haben. Wir müssen damit anfangen, wir, die wir es uns leisten können. Die Erwerbsarbeit darf dann natürlich nicht auf Pendeln, sondern muss auf Digitalisierung beruhen. Auch der Fleischkonsum muss vom Westen und vom Wohlstand aus zurückgedrängt werden. Das wäre ein Lackmustest zur Abschaffung des Kapitalismus von seiten der Konsumenten. Keine noch so steile These ersetzt den handfesten Boykott.

‚Das ist es. Deutschland, das sind wir selber. Und darum wurde ich plötzlich so matt und krank beim Anblick jener Auswanderer, jener großen Blutströme, die aus den Wunden des Vaterlandes rinnen und sich in den afrikanischen Sand verlieren.‘

Heinrich Heine, Vorrede zum ersten Band des ‚Salon‘, Werke, Band 12, S. 21, Leipzig 1884

Zwei Texte aus dem Jahr 2020

NATIONALISMUS BRAUCHT KEINEN WOHLSTAND

Wohlstand braucht keinen Nationalismus

In Europa, Nordamerika, Japan und Australien gehört das Automobil als Wohlstandsfaktor, als Mobilitätsvehikel und als Freiheitssymbol zu den Alltagsdingen. In Deutschland gibt es je 1000 Einwohner 573 Autos, in Eritrea 2. Sechzig Prozent aller deutschen Arbeitnehmer haben ihren Arbeitsplatz nicht an ihrem Wohnort, sind Pendler, davon benutzen 68% das Auto, um zur Arbeit zu gelangen. Schon allein statistisch ergibt sich also eine nur lockere Bindung an das, was man früher Heimat nannte. Die Identität von Geburts-, Wohn- und Arbeitsort ist seit der Industrialisierung aufgehoben. Dadurch ist die Identifizierung mit dem Ort, mit der Region, mit der Religion und mit der Ethnie nicht mehr kohärent oder zwingend. Es mischt sich neu. Zwar gab es auch früher schon Wanderungen durch Kriege und Hungersnöte oder umgekehrt paradiesische Verheißungen, jedoch hat die Mobilität durch den und nach dem zweiten Weltkrieg rasant zugenommen. Hinzu kommt, dass Länder wie Deutschland, Japan und Russland vergreisen und fast keine Kinder mehr haben. In Nordamerika, Europa, Japan und Australien gibt es einen signifikanten und sicheren Wohlstand. Selbst eine hohe Inflation, wie im Moment, kann die Menschen nicht in ihrem Konsumtionsverhalten irritieren. Alle katastrophenorientierten Ideologien (also Rechtspopulisten, Linkspopulisten und Religionsgemeinschaften) beschwören bei jeder kleinen Krise allerdings Bürgerkrieg, Apokalypse und Armageddon herauf. Wenn sich auch der Konsum kaum verändert, so doch das Sozialverhalten im allgemeinen. Bei einem kleinen Teil der Bevölkerung werden Urängste wach. Sie fürchten um ihren Wohlstand und sehen sich ungeschützt unabsehbaren Katastrophen gegenüber. Oft ist es also noch nicht einmal Nationalismus, sondern blanker Egoismus, der zum Beispiel weite Teile der selbsternannten Friedensfreunde antreibt, dem populistischen Geschwätz von Wagenknecht, Schwarzer, Lafontaine, Precht, Tellkamp zu folgen. Allerdings waren nur 10.000 Leute angereist, nicht, wie von Wagenknecht angekündigt, die Hälfte der Bevölkerung.

Aber es geht hier nicht um Statistik, sondern um Gefühl. Sowohl Wohlstand als auch seine Drillingsschwester Demokratie lockern die Bindungen an Ordnungskräfte, die dritte im Bunde, Freiheit,  lässt alles sogar grenzenlos erscheinen. Bildlich gesprochen: wer sich selbst Navigation kaufen kann, benötigt keine staatlichen und institutionellen Wegweiser. Wir beklagen die Individualisierung, die als Nebenprodukt des Wohlstands doch eigentlich unser Ziel war. Schon oft ist das Bild des Autos beschworen worden, in dem ein Mensch sitzt, der sich frei und beweglich glaubt, obwohl seine Abhängigkeit von Geld, Öl, Ressourcen, Know-how und Wohlwollen seiner Mitbürger offensichtlich ist. Je größer das Auto, desto größer die Unfreiheit.

Trotzdem gibt es Menschen, die an den Traditionen der Armut und der Vergangenheit hängen, deren Zusammenhang sie vielleicht gar nicht sehen. Sie glauben, dass die Heimatlosigkeit vom Staat verordnet ist, dass der Staat überhaupt seine Erziehungsfunktion beibehalten hat. Deshalb verbietet er, woran die Menschen hängen: Ernst Moritz Arndt und das Bargeld. Während der Glaube an Verschwörungstheorien in Kriegs- und Krisenzeiten verständlich ist, bleibt er im Wohlstand ein unbegreiflicher Atavismus, der selbst wieder zur Quelle neuer Ängste wird.  

Eigentlich ist die andere Seite, der Nationalismus, der keinen Wohlstand braucht, viel schwerer zu deuten. Warum lassen sich Menschen mit billigen Phrasen abspeisen? Herkunftsglaube, so wollen wir den modernen Nationalismus nennen, ist sehr bequem: man wird geboren und ist schon bedeutend. Schon als Baby auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, mag erfreulich sein. Aber das geht nur, wie wir alle wissen, wenn man auf der Gegenseite ein kräftiges Feindbild malt. Ein Feind lässt uns nicht nur leuchten, sondern auch ohne Schuld sein. Der russische orthodoxe Patriarch Kirill I. hat seine Theologie über Bord geworfen und seit mehr als tausend Jahren erstmals wieder verkündet: wer in diesem Krieg stirbt, wird von seinen Sünden befreit. So kreuzigt man Yesus erneut.  

Vielleicht liegt die Lösung in dem synthetischen Charisma, das die Autokraten auszeichnet. Während natürliches Charisma nach Max Weber Kennzeichen eines jeden Politikers ist – wir sehen allerdings viele saft- und kraftlose Bürokraten unter ihnen – mangelt es dem zukünftigen Diktator gerade daran. Er wählt sich also im Katalog der Charismatypen einen aus und versucht, ihn darzustellen. Hitler nahm dazu Schauspielunterricht. Fidel Castro erfreute sein Volk mit vierstündigen Reden. Ceauşescus Frau Elena, die sich mit akademischen Graden überhäuft hatte, obwohl sie die Dorfschule nie beendete, fragte noch in der Todesstunde, ob der Soldat, der sie fesselte, nicht wüsste, dass sie die Mutter der Nation sei. Honecker übertönte seine Fistelstimme mit Horrido-Jagdgeschrei und Putin rennt oft halbnackt herum, um einen Supermacho zu imitieren. Die theatralisch-pseudoreligiösen Massenveranstaltungen und Bekenntnisdemonstrationen aller Autokraten, besonders aber der kommunistischen und faschistischen, sind Ausdruck dieses Substitutes: das fehlende Charisma wird durch synthetisches ersetzt. Das ist alles leicht durchschaubar. Was viele Menschen aber scheinbar wirklich glauben, ist die einfache Antwort auf die immer komplizierter werdende Welt. Es gibt immer noch zehnt Prozent Menschen, die glauben, dass es eine jüdische Weltverschwörung gibt. Andere glauben an die Allmacht der Amerikaner oder der Russen oder der Chinesen. Beliebt ist es auch, die gegnerische Regierung für Marionetten zu halten. Wieder andere sehen in der eigenen Regierung Marionetten. Der Nationalsozialismus bietet für alle ein breitgefächertes Narrativ und Analogon des Pro und Contra an. Feinde werden zu Nazis und man selbst ist immer der antifaschistische Widerstandskämpfer, die Sophie Scholl oder der Marschall Schukow der Gegenwart. Dieses Rollenverhalten wird gestützt durch die Allgegenwart des Fiktiven, genaugenommen der Literatur, meist aber in Form von Spielfilmen, Videos und Computerspielen. Jeder Mensch hat seit frühester Kindheit Rollen und Verhaltensmuster im Kopf und spielt sie wie eine Schallplatte immer wieder ab, bis der Überdruss dem ein Ende setzt.

Vielleicht aber gibt es auch in der immer komplexer und voller werdenden Welt noch einfache Antworten. Sowohl die Ratten als auch die Menschen sind gleichermaßen neophob und sozial: scheu, schlau und empathisch. Vielleicht suchen deshalb viele von uns die Demokratie, die Liberalität, ein solidarisches Miteinander. Andere, zeitgleich oder zeitversetzt, bevorzugen sozialdarwinistische Modelle des struggle for life, der Hierarchie und Befehlsstruktur, Ordnung statt Freiheit. Vielleicht tobt dieser dichotomische Kampf seit Jahrtausenden und noch weitere Jahrtausende, während die gegenwärtigen Menschen immer an den Fortschritt oder an die Überlegenheit des Gestern glauben. Vielleicht hatten Yesus von Nazareth und Isaak Babel einfach nur Pech in eine Periode der Ordnung geboren zu werden, um in ihr gewaltsam zu sterben. Einstein und Chaplin dagegen konnten ihren Häschern entgehen und Optimismus ausstrahlen. Vielleicht hatte doch Nietzsche recht, wenn er an die ewige Wiederkehr des Gleichen glaubte.    

EMMA ROSENBAUMs MENSCHENKNÄUEL BRINGT DIE PAPPELN ZUM SCHWEIGEN

Obwohl in Jana Franke-Freys Roman ‚Emma Rosenbaum‘ eine Familiengeschichte erzählt wird, ist das Buch keine neue Fortsetzungssaga und schon gar keine daily-soap-Vorlage. Vielmehr hat der lange Landaufenthalt der Autorin, der Abstand zu der Stadt, in der die Familie des Buches einst agierte, einen Filter gesetzt, der uns langwierige Handlungen über lange Zeiträume, ein Familiengeheimnis gar, das mit allen Staatssystemen kollidierte, erspart. Das aufklärerische Moment eines Entwicklungsromans ist auch nicht die tragende Säule dieses interessanten Buches, denn die Protagonistin Emma Rosenbaum fühlt sich in der Vergangenheit wohl, ohne sie zu verklären. Ein ironischer Schleier von Metaphern, die in Aphorismen und manchmal sogar in Gedichte übergehen und dann beginnen, ein Gitternetz von Befindlichkeiten zu konstruieren: ‚Niemand weiß, wie die Vergangenheit mit Sauerstoff reagiert…‘, heißt es da, jedoch wird es immer klarer, dass die Vergangenheit, ans Licht und in den Sauerstoff gezerrt, nicht leidet, sondern wieder Leben produziert. Das ist das erste konstruktive Element des Buches: zerstreutes und gefiltertes Leben wurde in Sätze gegossen, für die einem sofort das schöne alte Wort ‚Bonmots‘ einfällt. Statt zu behaupten: so ist es gewesen, zeigt uns das Buch ‚dieses übergangslose Vergessen, das wie ein Hochwasser mit jeder Sekunde steigt‘. [S.127]. Und so gesehen ist der Roman eine Hilfe für die in ihren Erinnerungen Ertrinkenden. Zwei große Themen der Vergangenheit fallen wie Steine ins Wasser und ziehen Kreise um sich: die Nazizeit aus der Sicht einer jüdischen Familie, die sich mit der Verbastelung von Verletzungen und Amputationen beschäftigt. Beinprothesen und Glasaugen werden zu verbitterten Substituten und tapferen Metaphern. Und gerade an diesen äußeren und inneren Vernarbungen wird gezeigt, dass der Schmerz nichts weiter ist, ‚als ein Trichter mit zu enger Tülle‘ [S.98]. Der Versuch, diese Vergangenheit sozusagen an einem winzigen Zipfel aus dem Moor der Erinnerungssuppe zu ziehen, zeigt uns, wie schnell und gewollt Vergessen geht. Der Zipfel ist kaum noch fassbar. Das andere große Thema wird dagegen plastischer, weil es in uns auch plastischer ist: die frühe DDR, selbst für diejenigen, denen sie nicht in der Familiengeschichte als Gespenst erscheint.

Das zweite konstruktive Element des Romans sind die Personen, ist ein Kaleidoskop von personellen Bauelementen mit sprechenden, flüsternden oder schwatzenden Namen. In jedem Leben wie in jedem Roman gibt es eine Vielzahl von Personen und Protagonisten. Hier erscheinen sie wie ein Baukasten, ohne dass die alte Frage aufgeworfen wird, ob der Baukasten von vornherein Sinn macht oder nachgerade Zufall ist. Besonders im ersten Teil fällt es etwas schwerer, diese beinahe impressionistische Komposition zu verstehen. Selbst die Pappeln werden aufgefordert sich zu kompostieren [S. 97]. Vielleicht liegt es daran, dass man doch eine Saga oder einen Entwicklungshelden erwartet. Beides gibt es erfreulicherweise nicht, um etwas Neues hervorzubringen: ein manchmal bis ins Clowneske getriebenes, aber doch erstaunlich sinnvolles Kaleidoskop. Seinen Sinn erhält es nur durch die auf zweihundert Seiten festgehaltene einmalige Sicht, und diese Sicht sagt uns: du musst deine Sicht auf dein Kaleidoskop finden, du kannst es drehen und wenden, aber wenn du ausgewählt bist, dann nur dazu, in deinem Kaleidoskop zu kugeln und dich zu finden. Das ist schon eine große Sache.

Und so wird diese kleine Ostberliner Welt noch einmal gespiegelt, nämlich aus einem Kinderzimmer. Die Puppen erzählen die Weltgeschichte, und wem kommt dabei nicht der Gedanke, dass wir nur Marionetten in wessen? Händen seien? Dass die Pubertät die Pforte zu einer Welt ist, die wir weder wollen noch meiden, ist jedem klar, aber einen mutigen Roman über diese Pforte auf die Tür des Kinderzimmers zu schreiben, ist ein Kunststück. Aber sieht die Welt nicht aus wie ein Kinderzimmer? Die Puppen, die gerade erzählten, liegen nun achtlos weggeworfen. Das Kaleidoskop ist zerbrochen. Die Eisenbahn ist stillgelegt. Erinnerungen verkamen zu Lametta, aber das Lametta ist Erinnerung. Die Brotkrumen einer Saga liegen unter dem Tisch. Aber da ist ja Emma Rosenbaum mit ihren Vierwortbefehlssätzen, die sie von ihrer Mutter geerbt und an ihre Tochter weitergegeben hat: Spiel nicht mit Brot. Spiel ist Lebensabbild, auch für diejenigen, die in der Wirklichkeit ankommen wollten.

Der vierte Baustein ist diese Kette von Frauen, die Familiengeschichten ohne die blauen Glasaugen und mit beiden Beinen im Leben. Es ist eine die Geschichte über das vermeintlich universell Weibliche [S. 113], aber tatsächlich über das feminine Universum. Zwar werden auch die Berührungspunkte zwischen Männern und Frauen berührt und beschrieben, aber, und das könnte das Wort sein, das  wie ein Dietrich funktioniert [S.108], es ist weder der Versuch unternommen worden, die beiden Welten zu versöhnen, noch sie zu vermanschen. Emma Rosenbaum ist ein Gegenentwurf, nicht etwa zum Leben, sondern zur ständigen Vermännlichung der Geschichten. Dabei kommt das Buch ohne feministische Klischees und gar Ermahnungen aus. Es ist überhaupt nicht didaktisch, man soll nicht lernen, aber man kann lernen, wenn man will und kann.

Äußerst klar treten Frühgeschichten eines untergegangenen Landes hervor. Das FDJ-Hemd wird umgenäht, ein Kind fällt von einer menschlichen Pyramide des konstruierten Internationalismus auf den Platz vor Wilhelm Pieck, der schon allein mit seinem Namen die Kontinuität Ostdeutschlands sowohl im Roman als auch in der Wirklichkeit verbürgt. Vielleicht war sogar Wilhelm Pieck der Bonus, den Ulbricht und Honecker dann verspielten. Aber nie geht es in ‚Emma Rosenbaum‘ um Geschichte um der Geschichte willen. Es geht um Geschichten, die Menschen passieren, die mit einem Spielzeug in der Hand noch mit einem Bein – das andere ist aus Holz und mit Schnitzereien verziert – in ihrem Kinderzimmer stehen. Vielleicht bedauern sie, dass sie die nachfolgende Welt nicht mit den Augen ihrer Mutter sehen konnten. Aber vielleicht war ihre Mutter auch ein allzugetreues Abbild männlicher Welten, die sie in Vierwortbefehlen kopierte.

Nach dem Lesen dieses sehr poetischen Romans muss man nicht die Welt besser verstehen, aber vielleicht versteht man, dass ein Kaleidoskop etwa so genau ist wie ein Horoskop, und dass der Horror der Geschichte in der Familie durch Liebe abgedämpft werden kann. Vielleicht ist Liebe eine Erfindung der Frauen, meint Emma Rosenbaum. So gesehen handelt das Buch vom wahren Leben und nicht vom ‚Zerbrechen der Bügelfalten‘ [S.92].      

Jana Franke-Frey, Emma Rosenbaum, Roman, VogelsangVerlag Wallmow 2014, ISBN 978-3-939196-05-1,

191 Seiten, 16,80 €