EFFI BRIEST ERKLÄRT DIE WELT

Weder liebte Effi Briest den Major Crampas, noch war Baron von Instetten wirklich wütend über die nur in einer Zettelsammlung überlieferte, auch längst vergangene und verjährte Affäre seiner Frau mit dem verhassten Major. Wozu also die ganze Aufregung und die quasilegitime Bestrafung der beiden Delinquenten, zumal Instetten am Schluss einräumt, dass auch sein Leben verpfuscht ist?  Was sich zunächst wie ein Dreiecksdrama, eine Ehetragödie oder eine der damals modernen Duell-Geschichten liest, erweist sich bei näherem Hinsehen als durchaus hinter- und tiefgründiges Modell zur Erklärung vieler heutiger Probleme. Dabei hat der gute alte Fontane nicht etwa tatsächlich in die Zukunft gesehen, sondern er hat in seiner Gegenwart die Keime jener Probleme erahnen können, die uns heute plagen oder jagen.

Man könnte den Roman als eine dichotomische Weltsicht der notwendigen Empathie gegen die bloße stets vorhandene Emphase althergebrachter Ordnungsschnipsel ansehen. Ordnung kann kein kohärentes Weltbild sein, weil die Welt sich in Zeiten der Brüche immer wieder rasant fortbewegt. Ordnung verleitet zu Ausnahmen, zu Korruption und Segregation. Hamlet beklagt nicht, dass die Welt aus den Fugen sei, sondern dass er berufen scheint, sie wieder einzurenken, ‚to set it right‘. Die Ordnungsfanatiker überschätzen sich und ihre Ordnung. Jede Ordnung kann nur von gestern sein, der einzelne Mensch ist normalerweise schon mit einem tropfenden Wasserhahn überfordert. Aber auch die Weltverbesserer benötigen Assistenzsysteme, Menschenliebe allein bleibt zwar richtig und wichtig, aber relativ wirkungslos. Trotzdem ist die Signalwirkung der Tropfen auf die heißen Steine nicht zu unterschätzen. Für das zwanzigste Jahrhundert kann man sagen, dass der Schrecken der beiden Welt- und der vielen Kolonialkriege vor allem auch demografisch verblasst gegen die Leuchtkraft der Menschenfreunde, deren Beispiel und deren Wirkmächtigkeit mit wachsender Bildung der auch zahlenmäßig wachsenden Weltbevölkerung bekannter und bedeutender wird: Lew Graf Tolstoi, Bertha Freifrau von Suttner, Elsa Brandström, Janusz Korczak, Mahatma Gandhi, Albert Schweitzer, Martin Luther King, Nelson Mandela…

Jedoch schwebt über dem Buch die Morgenröte der Emanzipation. Keineswegs geht es nur um die überfällige Emanzipation der Frauen. Doch ist die erste notwendige Emanzipation die der Frauen als den Männern  ebenbürtige, gleichwürdige Partnerinnen. Diese Notwendigkeit zeigt Fontane in seinem großartigen Psychogramm der Effi, die mit siebzehn Jahren wie ein Objekt auf den Heiratsmarkt geworfen wird. Die besondere Delikatesse besteht darin, dass der Baron von Instetten, der sie heiraten will, schon ihrer Mutter hinterherlief, die jedoch den bodenständigen, aber etwas brummigen Gutsbesitzer von Briest dem charmanten, aber kalten und kaltschnäuzigen Karrieristen vorzog. 

Die Überfälligkeit indessen kann man leicht an der Schuldfrage der Trennung Instettens von Effi erkennen, die mit der vollständigen Unterdrückung der Würde und der Aktivität dieser lebenslustigen jungen Frau einhergeht. Heute würde jeder einfache Amtsrichter ausführlich die Frage diskutieren wollen, warum Effi überhaupt nach einem Ausweg aus ihrer erzwungenen Passivität suchen musste. Dass sie selbst die repressive Art Instettens ihr gegenüber als ‚Erziehung‘ erkennt und benennt, ist der Beginn ihres misslungenen Ausbruchs. Sie erkennt den inszenierten Spuk als wohldosierten Psychoterror. Aber erst als sie die Frau des Ministers bittet, ihr eine Besuchserlaubnis der Tochter Annie zu verschaffen, und erst als dieser Besuch desaströs endet, weiß Effi, dass die Schuld, dass der Fehler keineswegs nur bei ihr gelegen hatte. Ihr bleiben nur Resignation und Tod. 

Nur wenige Kilometer von den fiktiven Orten Hohen-Cremmen und Schwantikow entfernt, nämlich in der Ofenstadt Velten, arbeitete eine Frau an der Emanzipation der Frauen. Auch sie hatte einen zwanzig Jahre älteren Mann, der aber bis zum bitteren Ende zu ihr hielt. Er gab seine Apotheke auf, zog mit ihr nach Berlin, wo sie sich einem Gewerkschaftsführer und dem Alkohol ergab. Aber mehr als zwanzig Jahre kämpfte sie mit Reden auf Kongressen, mit Zeitungen und Aktionen für die Gleichberechtigung der Frau: Emma Ihrer. An ihrer Seite war lange Zeit die später ikonische Clara Zetkin, die tatsächlich auch eine, vielleicht die erste Salonkommunistin war, befreundet mit dem Stuttgarter Großunternehmer Robert Bosch[1], dem König der Zündkerzen, verheiratet erst mit einem russischen Arzt, dann mit einem viel jüngeren deutschen Maler. Zuletzt residierte sie als dicke, alte, berühmte Frau in Moskau und in einer Riesenvilla in Birkenwerder.

Die Emanzipation der Frauen dauerte bestimmt 150 Jahre lang, wenn man sich die gegenwärtige AfD-Fraktion im Bundestag ansieht, dauert sie noch an. In vielen Bereichen, bei den Ärzten[2] und Lehrern zum Beispiel, hat sich die Verteilung umgekehrt, bei den Schulabschlüssen ebenfalls. Eine weitere Nebenwirkung ist auch die erneute Unschärfe der Vaterrolle. Gesellschaftliche Prozesse, ob angestoßen oder spontan, laufen nicht ohne Friktionen ab, so nannte Carl von Clausewitz in seinem berühmten Buch die Differenzen zwischen den Intentionen und den tatsächlichen Geschehnissen, besonders aufseiten der Angreifer.     

Während die Frauen ziemlich genau die Hälfte der Menschheit sind, sind die Kinder nur ein Drittel. Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren sie bloße Kopien der Erwachsenen, zu deren Ebenbild sie mehr dressiert als erzogen wurden. In unserem Teil der Welt ist es ebenso unvorstellbar, wie groß der Anteil der Kinder an der Subsistenzwirtschaft und sogar auch an der Erwerbsarbeit war und ist. Auch ohne Schläge blieb, wie in unserem Roman deutlich, wenn auch nur kurz zu lesen ist, noch viel autoritäre Gewalt übrig. Als Effi Briest endlich den Mut und die Methode findet, wie sie nach Jahren zu einer Besuchserlaubnis kommen kann, wird sie von dieser Rigorosität nicht nur überrascht, sondern erschlagen. Die Tochter benimmt sich – offensichtlich auf Weisung ihres Vaters und dessen Angestellten – wie eine dressierte Puppe. Auf alle Fragen der hoch erregten Mutter antwortet sie mit einem eisigen ‚Oh gewiss, wenn ich darf.‘ Pädagogen wie Fröbel[3], Pestalozzi, Diesterweg oder Montessori waren es, die den Weg aus der pädagogischen Sackgasse wiesen, aber selbst noch nicht gehen konnten. Geblieben sind eine Unzahl von Pestalozzi-Schulen, Holzspielzeug und das schöne Wort Kindergarten in vielen Sprachen. Und ist es nicht ein schöner Gedanke zu erfahren, dass Fröbel in einem Gutshaus[4] gleich dem Briestschen, Zeit, Raum, Muße und reichlich Literatur vorfand, um zu erkennen, dass die Bildung und Erziehung vom Kopf auf die Füße gestellt werden müssen.  Geblieben ist aber auch die Achtung vor der kindlichen Persönlichkeit, die endlich erreichte pädagogische Balance zwischen Freiheit und Ordnung. Eine Schule kann – wie ein Krankenhaus und eine Feuerwehr – nicht wirklich demokratisch sein, sie muss aber Demokratie lehren, als Ideal verehren und immer genügend Spielraum geben. Ellen Key, eine einst sehr berühmte Schriftstellerin, der wir das ‚Jahrhundert der Frauen‘ und das ‚Jahrhundert des Kindes‘ verdanken, zitiert einen zeitgenössischen Dichter mit dem schönen Gedanken, dass wir in Kindern Prinzen ahnen, doch dann die Könige vermissen.[5] Trotzdem ist der Raum für Kreativität ungleich größer denn je geworden, ja, die Kreativen sind der neue Adel.

Ebenfalls ein Drittel der Menschheit sind die Bewohner jenes Kontinents, der auch die Wiege der Menschheit war, Afrika. Die Hälfte der Afrikaner sind Kinder, so wie die Hälfte Frauen und Mädchen sind. Instetten als Angehöriger der oberen Bürokratenschicht, gleichzeitig auch dem noch herrschenden Adel angehörig, sieht Afrika ganz sicher als reines Objekt des Kolonialismus, diesen als natürliches Instrument des Europäers. Aber er erkennt auch die moralische Überlegenheit des Mangels an allzu starren moralischen Grundsätzen. Er denkt sich Afrika als einen Kontinent ohne Grundsätze, ohne Moral, ohne gesellschaftliche Regeln. Damit fällt er einerseits auf das rassistische Konstrukt des Kolonialismus herein. Andererseits sieht er Afrika aber auch als eine Alternative zur moralisch erstarrten – wie wir heute sagen – westlichen Welt: ‚weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen!‘[6] Merkwürdigerweise hat auch ein anderer preußischer Staatsdichter, der sogar mit einer lebenslangen königlichen Pension alimentiert worden war, die Umkehrung der moralischen Verhältnisse zwischen Europa und Afrika äußerst expressiv beschrieben. Emanuel Geibel schrieb wohl um 1848 eine lange Ballade[7], in der er einer afrikanischen Mutter nicht nur eine unerhörte Klage in den Mund legt. Er lässt sie sagen, dass ihr Sohn (‚mein schwarzer Knabe‘ – in Verkennung des rassistischen Konstrukts) ein glückloses, ja, lebloses Leben haben wird. Er lässt sie all die vermeintlichen ethischen Errungenschaften des europäischen Christentums referieren. Aber der Gipfel ist doch die Schlusspointe, wenn sie – falsch – voraussagt, dass sich all das erst ändern wird, wenn der Mississippi rückwärts fließt, ‚wenn die Christen Menschen werden.‘ Dieses Gedicht hat eine ungeheure, fast alttestamentarische Wucht, und sage nicht, dass sie unerhört war. Denn schon der Expressionismus, der auf Geibel und Fontane folgte, erkannte Menschen in den offiziell als minderwertige Minderheiten gescholtenen Gruppen.

Natürlich kann man dem bornierten adligen bürokratischen Baron von Instetten nicht solche Interpretationen zutrauen. Aber Fontane und Geibel waren ihrer Zeit mehr voraus, als sich durch ihr Gesamtwerk erschließt. Wir meinen, angeregt durch die beiden Oberpreußen, dass die Zukunft der Menschheit in den Kindern liegt, das ist trivial, aber vor allem auch in den Afrikanern zu finden sein wird, die in einem Jahrhundert die europäischen Jahrhunderte seit der Renaissance aufzuholen hatten und aufholten. Seit sie nicht mehr mit Hunger und Unbildung zu kämpfen haben, und wenn sie nicht mehr in Streit und Krieg sich zu finden glauben, dann werden sie die kreative Zukunft der Menschheit sein. Das glaube ich umso mehr, seit man dem Untergang Nordamerikas, Chinas und Europas zusehen kann.   

Baron von Instetten hat einen Freund, Wüllersdorf, der sozusagen seine gute Kehrseite ist, eine Mischung aus Kompetenz und Loyalität, die sich sonst so oft feindlich gegenüberstehen. Wüllersdorf hört von Roswitha, der treuen Bediensteten von Effi, die sich in deren Schicksal gut einfühlen kann, weil sie selbst ein Kind verloren hat. Wüllersdorfs Satz über sie ‚Die ist uns über‘ war der Leitstern der DDR-gestützten Interpretation des berühmtesten Fontane-Romans. Tatsächlich aber ist Roswitha als eine der ganz wenigen Figuren aus dem Arbeitermilieu die Repräsentantin der letzten zu emanzipierenden Gruppe. Drei Geistesgrößen arbeiteten mit gigantischen Irrtümern an der Lösung der ‚sozialen Frage‘, wie die notwendige Emanzipation der arbeitenden Schichten im neunzehnten Jahrhundert genannt wurde. Bekanntlich schlug Karl Marx eine wortreiche, vierzig Bände umfassende Lösung vor, die er die ‚Expropriation der Expropriateure‘ nannte. Er schlug vor, die Ökonomie durch eine bewaffnete Revolution einfach umzudrehen: die Arbeiter sollen gleichzeitig Arbeiter, Besitzer und Konsumenten sein. Immerhin kam es auf einem Sechstel der Welt zu einer Versuchsanordnung. Johann Hinrich Wichern dagegen glaubte – umgekehrt -, dass die Armut der Arbeiter auf ihren Mangel an Glauben zurückzuführen sei. Er erfand daraufhin die ‚Innere Mission‘ – außer den Afrikanern sollten also auch die europäischen Armen zum Christentum hin zurückmissioniert werden – und den Adventskranz. Geblieben sind von den beiden immerhin die linke Partei einschließlich Sahra Wagenknecht und die Diakonie. Nietzsche, der Musterschüler aus Schulpforta, hatte wenigstens einen wirklich großen Gedanken beizutragen, der aber in Vergessenheit geriet und ohnehin nicht besonders praxistauglich war und ist: die Umwertung aller Werte. Die Lösung der ‚sozialen Frage‘, der Emanzipation aller Minderheiten und Teilgruppierungen kam durch eine legendäre Figur, die ebenfalls, wenn auch nur indirekt in unserem Roman vorkommt: Bismarck, der eiserne Kanzler. Allerdings nennen ihn alle nur ‚der Fürst‘, topografisch wird er östlich hinter Kessin – das steht für Swinemünde – angesiedelt. Er befriedete die Arbeiter und alle anderen Armen durch ein ausgeklügeltes System von Sozialversicherungen. Dadurch wurde der Liverpool-Kapitalismus gebändigt. Die großen demografischen Verschiebungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts lassen auch diese langfristige Lösung ins Wanken geraten. Solange allerdings genügend Geld vorhanden ist, lässt sich alles mit Sondervermögen und Schuldenaufnahmen verkleistern.

So gesehen hat Fontane nicht nur eine Gesellschaftskritik vorgelegt, eine fast satirische Vorführung starrer Rollensysteme. Es ist zudem eine unechte Dreiecksgeschichte. Er hat – wenn auch nur angedeutet – die Lösung sozialer Spannungen und Ungleichgewichte skizziert, notwendige Emanzipationen antizipiert. In einem leichten Erzählton wird nicht nur die Biografie einer sympathischen Person geliefert, sondern ein Gesellschaftspanorama ausgebreitet, das mehr als lesenswert ist. Was fehlt, ist der philosophische Tiefgang von Tolstoi, dessen Roman ‚Anna Karenina‘ schon vorlag. ‚Nora‘ von Ibsen zeigt die absurde Variante, die mit dramatischer Wucht die Bühnen bis heute erschüttert. Ob man aber heutige Abiturientinnen und Abiturienten mit diesen Geschichten erschüttern kann, das bleibt zu bezweifeln.     


[1] ‚Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich reich bin, sondern ich bin reich, weil ich gute Löhne zahle.‘

[2] nein, nicht bei den Ärzt*Innen und Lehrenden, denn zu Effi Briests Lebzeiten gab es nur Ärzte und Lehrer

[3] ‚Kommt, lasst uns unsern Kindern leben.‘

[4] in Groß Miltzow nahe Woldegk als Forstamtsaktuar bei Otto Ulrich von Dewitz

[5] Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, S. Fischer, Berlin 1902, S. 181

[6] Fontane, Effi Briest, 35. Kapitel

[7] in: Des Mägdleins Dichterwald, Auswahl deutscher Gedichte für Mädchen, Halle 1897, S. 198

GIERLOS

ROLLI

Ich weiß nicht, wie ich in dieses Kaff gekommen bin. Mit der Bahn, ohne Ticket. Das hieß früher einmal Fahrkarte und war bezahlbar. Früher, als ich noch zuhause Zuhause war. Jetzt bin ich hier auf dieser Bank gelandet. Es gibt auch Bahnhöfe ohne Bank. Aber das ist ein Kaff. Ich war vorhin beim Bäcker, das ist nur ein paar Meter von hier. Man scheut sich ja mit dem vielen Gepäck einen Meter zu viel zu gehen. Aber ich bin froh, dass ich etwas habe, zum Zudecken, zum Waschen. Am wichtigsten sind die Pflaster, man scheuert sich immer etwas auf. Der Winter kommt. Also zunächst erst einmal der Herbst. BUNT SIND SCHON DIE WÄLDER. Aber dann kommt der Winter. Und wenn es auch keinen Schnee gibt, es wird lange Zeit kalt. Richtig kalt. Also, ich war beim Bäcker und musste nichts bezahlen. Die beiden Frauen haben mir Sachen von gestern gegeben: Brötchen, sogar Kuchen. Alles von gestern. Der Bäcker ist in einer Baracke. Alles Baracken, vom Bahnhof bis zum Hochzeitsladen, der ist hinter dem Bäcker. Ich sehe mir sowas gerne an, obwohl meine Hochzeit schuld an meiner Katastrophe war. Also den Hochzeitsladen, nicht die Baracken. Baracken sind so, wie Menschen ohne Wohnung: es sind schon noch Menschen, aber da fehlt doch einiges. Und Baracken sind auch Häuser. Ja, Häuser sind es, aber wie, nach dem Krieg gebaut, billig übertüncht. Und das die ganze Straße lang, jedenfalls auf der einen Seite, wo man geht. Auf der anderen Straßenseite sieht man niemanden. Gestern.

Gestern war die Welt noch in Ordnung, als ich noch zuhause Zuhause war. Ich heiße eigentlich Rolf, aber alle sagen Rolli zu mir. Als ich noch in der Hütte gelebt habe, nannten mich einige den Flaschenklapperer, weil ich immer an dem Tag, an dem es Stütze gab, meine Pfandflaschen wegbrachte und ein paar Flaschen Bier kaufte. Und die Flaschen klapperten immer, weil ich mit dem Fahrrad fuhr. Aber es gab immerzu Streit. Die Hütte war eigentlich ein alter Stall, aber ohne Fenster, ohne Wasser, ohne Strom. Das Klo war das alte Plumpsklo hinter dem Garten, die Steffi, die mir das vermietete, hatte inzwischen längst ein Bad, wenn auch nicht pompfortionös, aber immerhin. Aber da musste ich dann schlussendlich weg. Und ich hatte da auch schon Kumpels, die mir sagten, geh da weg, das wird nichts mehr, wer dir so etwas auch noch vermietet, kann kein guter Mensch sein.

Aber die erste Zeit auf der Straße war nicht leicht. Zuerst war ich in Berlin. Aber wenn du da keinen kennst, bist du schlecht dran. Bist du schlechter dran. Und dann kommen noch die Typen aus Osteuropa, die nur den Sommer lang da sind, aber dir die besten Plätze wegnehmen. Du kriegst Geld in Berlin, es reicht fürs Essen und hin und wieder einen Schluck. Aber es ist auch hart. Und in den Unterkünften musst du früh erscheinen, wenn   du einen Platz haben willst, früh und nüchtern. Aber wer ist das schon. Aber gegen Abend musst du einen Schluck nehmen, sonst hältst du die Kälte nicht aus. Aber du kannst deinen Weg auch nicht so einrichten, dass du da genau eine Stunde vor der Öffnung bist. Einmal schaffst du es gut, ein andermal eben nicht. Dann stehst du da mit Sack und Pack und musst den ganzen Weg wieder zurückgehen. Also du kannst auch mit der S-Bahn fahren, aber da sehen dich alle aggressiv, angstvoll und ablehnend an. Gut, du stinkst auch, du musst die Leute verstehen, dass sie sich wegsetzen, dass sie nicht neben dir sitzen wollen, dass sie dich gar nicht dahaben wollen. Früher taten sie schön, als du noch schön aussahst, aber jetzt rümpfen sie ihre gepuderten Nasen.

Also ging ich aus Berlin fort. Ich kam wieder in die Gegend, aus der ich stamme. Aber bis jetzt hat mich noch niemand wiedererkannt. Aus der Zeit, als mein Zuhause noch zuhause war. Hier in diesem Kaff gibt es nur zwei, drei von uns. Einen Alten, der an Krücken geht, jeden Tag einmal durch die ganze Stadt. Hin und zurück. Zurück und am nächsten Morgen wieder hin. Bis er hin ist, sagt er. Und er hat recht, wenn er aufhört zu humpeln, fällt er tot um. Ich weiß nicht, ob er bis zur Tanke kommt, ich meine die am Heim. Es gibt ja noch ein Heim her, die da drin sind haben nicht nur kein Haus, sondern auch kein Land. Und ein Kinderheim gibt es. Da sind die ärmsten von uns drin. An der Tanke am Heim treibt sich der Junge rum. Richtig jung ist der auch nicht mehr, aber jünger als der Alte mit den Krücken und jünger als ich. Ich bin der Mittler. Der Junge holt sich da immer Bier, seit er bei Kaufland Hausverbot hat. Bei Kaufland hat er immer die Einkaufswagen zurückgeschoben in der Hoffnung auf vergessene Euros. Bis sie ihn vertrieben haben. Jetzt nervt er die Tankefrauen. Manchmal hat er ein Fahrrad, manchmal auch keins. Wenn er keins hat, wurde es ihm geklaut, wenn er eins hat, hat er es ihnen geklaut. Aktiv und Passiv, das weiß ich noch. Das verwechseln wir gern.   

Dahinten kommt jemand. Zwischen den Zügen ist hier sonst niemand, außer dem Flaschensammler, der keine Sozialhilfe kriegt, weil er ein Haus hat. Ich habe mir das Haus angesehen, es ist so eine Bruchbude wie er selbst auch.

Dahinten kommt jemand. Es scheint ein Mädchen zu sein oder eine junge Frau. Gut, die sprechen einen nie an. Es wäre mir auch sehr peinlich. Bei Männern ist das nicht so, die sind nicht so peinlich berührt. Geld bekommt man von beiden nicht, da sind sie gleichberechtigt. Sie liest den Fahrplan. Hier gibt es nicht so viele Züge. Ich kenne die alle. Ich habe schon oft den Fahrplan gelesen. Da ist nicht viel zu verstehen: grade Stunde hin, grade Stunde her. Dazwischen ist nichts und da kommt auch normalerweise nichts und niemand. Jetzt kommt sie näher. Sie sieht gut aus, gut angezogen sind die jungen Dinger. Ich habe auch eine Tochter. Die ist sogar schon älter als die hier. Nicht hinkucken, wegsehen, dass sie mich nicht anspricht. Ich drehe mich vorsichtshalber auf meiner Bank um.

MAXI

Dahinten liegt einer auf der Bank. Wahrscheinlich wird er besoffen sein, aber nein, der ist zugedeckt und hat jede Menge Gepäck bei sich. Da ahnt man Schlimmstes. Aber hier, in unserem Kaff? Sollte es doch stimmen, dass es immer mehr Arme gibt oder dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr öffnet? Ich bezweifle das eigentlich, denn diese Rechnung vergisst, dass es eine wohlhabende Mittelschicht gibt. Zu der gehören wir, und uns geht es gut. Jammern kann man immer, auch und gerade, wenn man ein Haus und zwei Autos hat und alle Nase lang in den Urlaub fährt. Wir sind nicht so überdreht, wie die Familie von Tobias, die fahren jedes Jahr mit zwei SUVs nach Italien, an einem hängt der Wohnwagen, an anderen das Boot. So ist es bei uns nicht. Wir fahren immer nach Kroatien. Mein Vater sagt, er mag das Flair des alten Ostens, außerdem ist alles billiger. Mein Bruder schwimmt in der glasklaren Adria, ich sehe mir die wunderschönen Altstädte an, mein Vater liest, da könnte er auch zuhause geblieben sein, und meine overprotecting Mutter kümmert sich bis zum Umfallen. Es gibt Arme, da scheint einer zu liegen, und es gibt Reiche, hier in unserem Kaff ist es nur der Apotheker. Aber die Menschen applaudieren nicht, wenn er aus seinem Porsche steigt. Sie üben sich lieber in Neid und wählen AfD. Noch komischer ist es, wenn sie auf die da unten neidisch sind. Der örtliche Führer der AfD warnt immer vor Bürgerkrieg und vor dem Aussterben der Bauern. In meiner Klasse ist der Sohn eines Bauern, denen geht es gut, sehr gut, bei denen ist alles in Ordnung, alles, aber auch alles. Dagegen ist unser Haus eine Bruchbude. Jammern kann man immer. Aber er ist mit 47%igem Direktmandat in den Bundestag eingezogen. Dagegen hatten sie bei der Bürgermeisterwahl, wo wir mitwählen konnten, keine Chance. Wogegen die alles sind, man fragt sich langsam, wofür sie eigentlich sind. Was machen die, wenn sie alles abgeschafft haben? So jetzt muss ich mich mal um den kümmern. Sollte es mit dem Medizinstudium klappen, kann ich mich auch nicht ekeln, wenn mal eine oder einer nicht aus dem Hochglanzmagazin stammt, sondern aus der vielzitierten Gosse. Man kann sich Menschen nicht aussuchen, sagt mein viellesender Vater, und da hat er wohl recht, mit seinen anderen Sprüchen liegt er nicht immer so gut.

Geht es Ihnen gut? Hallo, geht es Ihnen gut? Sind sie krank oder sind sie obdachlos?

Ja, im Moment. Noch gar nicht lange und auch gar nicht mehr lange.

Kann ich Ihnen irgendwie helfen?

Nein, danke, nicht nötig, aber trotzdem danke.

Sie wissen, dass es in unserer Stadt eine Obdachlosenunterkunft gibt?

Ja, das weiß ich, aber da will ich nicht hin.

Aber warum denn nicht? Sie können doch hier nicht auf dem Bahnhof schlafen.

Doch, doch, das kann ich, das ist nicht verboten. Ich habe über das Asyl schon viel Schlimmes gehört: Streit und Zank und Raub und Gier.

Ach so, das weiß ich natürlich nicht. Aber dann müssen Sie sich doch um eine Wohnung kümmern. Sie wissen, dass es hier in unserer kleinen Stadt freie Wohnungen gibt? Das ist hier nicht Berlin.

Ja, ich weiß, ich war auch schon bei einem Vermieter. Aber die haben keine Einraumwohnungen.

Ich würde auch mit Ihnen zum Amt gehen oder zu einem anderen Vermieter.

Nein, nein, danke, danke. Ich werde schon etwas finden.

Ja, das glauben Sie vielleicht wirklich, aber Sie wollen nichts dafür tun. Sie wollen eine Wohnung, aber Sie wollen nicht zum Sozialamt und zu dem nächsten Vermieter gehen.

Doch ich will schon gehen. Aber doch nicht jetzt.

Nein, jetzt nicht. Jetzt ist ja auch alles schon zu. Aber morgen früh. Morgen früh müssen Sie sofort zum Amt gehen. Ich gehe mit Ihnen. Ich schwänze sogar die Schule für Sie.

Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber es muss doch jemand verantwortlich sein für mich. Wenn man kein Gift hat, gibt es wohl nichts? Keine Wohnung, kein Brot, keine Wohlfahrt. Gift regiert die Welt.

Wohlfahrt? Gift?

Ja, so heißt das doch, wenn man sich um andere kümmert. So wie Sie.

Na gut, dann bin ich eben die Wohlfahrt. Dann müssen Sie mir aber auch folgen.

Nein, Sie sind sicher sehr nett und meinen es gut, aber Sie sind nicht die Wohlfahrt, denn Sie sind kein Amt und keine Kirche. Sie sind nett, aber niemand. Sie denken jetzt bestimmt: selbst schuld. Also dass ich selber schuld wäre an meinem Unglück.

Nein, das denke ich nicht. Ich denke, dass Sie Ihr Glück in die eigene Hand nehmen müssen. Also dass Sie selbst aktiv werden müssen. Also ich weiß jetzt nicht, wie ich es sagen soll, dass Sie mich verstehen.

Ich verstehe Sie gut, sagte Rolli unerhört. Aber es ist nicht so, wie Sie denken. Da ist nichts, was ich in die Hand nehmen könnte. Kein Glück, kein Unglück. Aber ich erwarte auch nichts. Sie erwarten etwas, weil Sie von der Gier und dem Gift beherrscht sind.  EUER ENDLOS IST DIE GIER, DOCH WEITER KOMMT MAN OHNE IHR. Das ist mein Leitspruch. Das sagte mein Chef früher immer von der Pünktlichkeit. Der dachte, dass das Wichtigste im Leben die Pünktlichkeit ist. Dann aber ereilte ihn der Herzinfarkt, mich aber erwartete die Straße. Nun sagen Sie selbst, wer von uns beiden ist besser dran: er in seinem hübsch gepflegten Grab, ich auf meiner harten Bahnhofsbank.

Ich bin keine Richterin, sagte Maxi verstört, vielleicht werde ich mal Dichterin. Ich will, wenn Sie so nicht wollen, nicht Ihr Glück, Ihr Unglück schon gar nicht. Ich will nur, dass Sie nicht frieren und dass Ihnen hier nichts passiert. Als ich kam, haben Sie schon kurz an die Neonazis der neunziger Jahre gedacht, die schon einmal einen Obdachlosen angezündet haben, gar nicht weit von hier, in Greifswald, von Berlin ganz zu schweigen. Ich will, dass Sie ein Dach über dem Kopf haben und eine Tür zum Abschließen. Das ist alles, was ich will. Von Glück ist da keine Rede. Aber ich kann wollen, was ich will, wenn Sie nicht wollen, wird das alles nichts. Ich komme morgen wieder.

MEIERCHEN

Der liegt immer noch auf der Bank, der war doch schon gestern da. Du weißt es nicht? Du bist doch gestern auch neben mir gelaufen. Komm wir gehen mal hin und befragen den, was er hier will. Was wird er schon wollen. Wahrscheinlich will er nichts als nachts seine Ruhe haben. Aber wie will er ruhen bei dieser Kälte? Es ist doch nachts schon lausig kalt. So gesehen merke ich nichts vom Klimawandel und von der globalen Erwärmung. Dieses Jahr ist kalt, richtig kalt. Es gab schon Oktober, die waren wie Hochsommer. Aber es gab auch schon Oktober, die waren wie Winter? Ja, das mag sein. Aber dann ist der Mittelwert entscheidend. Weißt du, wie die rechtliche Lage ist? Ist es eigentlich verboten auf dem Bahnhof zu schlafen? Auf einer Bahnhofsbank? Nein, ich glaube es auch nicht. Solange er nicht in die Wartehalle einbricht, können wir ihm nichts anhaben. Wir müssten ihm schon mindestens eine Ordnungswidrigkeit nachweisen können. Ja, da hast du recht, eine Straftat wäre natürlich noch besser. Am besten wäre ein glatter Mord, dann wäre die Nacht schneller rum. Aber der liegt auf seiner Bank und denkt gar nicht daran, jemanden zu ermorden. Wenn er keinen Ausweis hat, können wir ihn wenigstens ausweisen. Nein, das war ein DDR-Witz: Bürger, können Sie sich ausweisen? Ach, kann man das jetzt selber?

Der schläft. Lassen wir ihn schlafen? Vielleicht hat er doch etwas auf dem Kerbholz. Außerdem müssen wir informiert sein über die Sicherheitslage im Stadtgebiet.

Mann, wachen Sie auf! Hallo, wachen Sie auf. Polizei, Personenkontrolle. Haben Sie einen Ausweis? Der Ausweis ist in Ordnung. Was machen Sie denn hier? Warum schlafen Sie nicht im Nachtasyl? Es ist nicht verboten, hier zu schlafen, aber es ist doch höchst unbequem. Sehen Sie, wir sind doch nicht nur für die Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten da. Wir sind doch sozusagen auch für das Glück der Bürger, für die gesegnete Nachtruhe und so gesehen für die Wohlfahrt da. Wir machen uns Sorgen um Sie. Sie könnten erfrieren, Sie könnten von der Bank fallen, Sie könnten überfallen werden. Hier gibt es tschetschenische Jugendliche und sehr weit rechte Mittelalte. Denen ist doch alles zuzutrauen. Es könnten Ihnen weitere Malaisen zustoßen, die wir jetzt nicht alle aufzählen können. Mann, packen Sie Ihre Siebensachen und trollen Sie sich ins Asyl oder zum Teufel. Was haben Sie gesagt? Wir sollen keinen Scherz und keine Tollerei mit Ihnen treiben? Nein, das machen wir nicht. Wie gesagt wollen wir nur Ihr Bestes und da Sie sich gerade im ziemlich schlechtest Vorstellbaren befinden, ist es ein Leichtes, Sie hier heraus und in bessere Zustände zu bringen. Du willst ihn liegen lassen? Wir haben ihn gewarnt, das stimmt. Wie weit müssen Warnungen Taten sein oder Taten werden? Reichen Worte, reichen Vorstellungen, reichen Ausmalungen nicht, um die Menschen auf die rechten Wege zu bringen?

Warum geraten die auf die schiefe Bahn nicht der Verbrechen, sondern des Lebens? Ich weiß es nicht, weißt du es? Auch nicht? Weiß es der Geier oder der liebe Gott? Ich glaube es nicht. Sie leben und laufen, aber kaum kommt eine schiefe Bahn, schon sind sie drauf. Und dann muss die Polizei helfen oder das Sozialamt oder die Volkssolidarität oder die katholische Wohlfahrt oder die Diakonie von Herrn Wichert oder Wicherl oder Wichers oder wie der hieß. Gut, es gibt auch Polizisten, die nicht rund laufen, so wie es unbelehrbare Lehrer gibt oder kranke Ärzte. Das gibt es alles, aber das ist doch keine Entschuldigung. Das Marktversagen ist auch keine Entschuldigung. Mag der Markt versagen, dann musst du doch nicht versagen. Sieh mal, im Straßenverkehr gibt es zu viele Schilder, aber das erlaubt doch niemandem so zu fahren, als wären da gar keine Schilder. Schilder sind Schilder, und nach denen musst du dich richten, ob es nun zu viele oder zu wenige sind. Du musst dich nach ihnen richten, du musst so fahren, wie es geschrieben steht. Der hier hat alle Schilder verpasst. Da stand ein Schild: Du sollst leben. Aber er hat gelesen: lebe vielleicht, vielleicht aber auch nicht, mal sehen, schaun wir mal. Das nächste Schild hieß: lernen, lernen und nochmals lernen. Da hat er wieder vorbeigeschaut, drüber, drunter, rechts daneben, links daneben. Überall hat er hingeschaut nur nicht auf das Schild, auf dem groß und deutlich geschrieben stand: du sollst lernen, bis dir der Kopf raucht, bis dir das Wissen zu den Ohren herausquillt. Aber er dachte: was geht es mich an, da sind doch genügend Musterschüler, an denen die Lehrer ihre Freude haben, und die Eltern, und die Sozialarbeiter und -arbeiterinnen, denn die meisten Sozialarbeiter sind Sozialarbeiterinnen. Und das letzte Schild: im Schweiße deines Angesichts sollst du deinen Lohn verdienen, denn sonst kriegst du nichts, das hat er ganz und gar überfahren. Das gibt es gar nicht mehr. Da hat er in der Zeitung gelesen, dass andere erben, wieder andere stehlen, wieder andere sind Influencer oder Youtuber. Alles neue Berufe ohne Arbeit, dachte er, als er das Schild überfuhr. Allen geht es besser als mir. Ich muss arbeiten, aber die verdienen fette Beute. Das hat er alles gedacht und flog er zuhause raus, also von da, wo er sein Zuhause noch zuhause hatte. Und nun liegt er hier auf der Bahnhofsbank in unserem menschenfreundlichen Kaff. Und wir, die beiden Streifenpolizisten der Nachtschicht, Meierchen und Ko, müssen überlegen, was wir mit ihm machen. Wir könnten ihn festnehmen und in die Zelle legen, ein Grund wird sich finden. Wir könnten ihn ins Nachtasyl bringen. Aber da ist jetzt niemand mehr, da müssten wir den Notdienst wachklingeln. Und schließlich könnten wir es so machen wie unsere Regierung: wir lassen alles beim Alten und lamentieren mit dem Volk gemeinsam, wie schwer wir es haben.

Da mussten sie herzlich lachen, die beiden Polizisten, Meierchen, den alle gut leiden können, die Verbrecher und die Polizeiführer, und sein Kollege, dessen Namen niemand weiß, weil er neu hier ist. Er stammt aus der Prignitz oder aus der Lausitz. Jedenfalls ist er nicht von hier. Hier ist er neu.

ROLLI

Das schlimmste an einem Bahnhof sind die Uhren. Immer muss man hinkucken, und die Zeit vergeht nicht. Jetzt kommt gleich der Vier-Uhr-Zug. Zehn Menschen warten bibbernd. Als ich noch zuhause Zuhause war, bin ich nie so früh aufgestanden. Ich stehe jetzt auch nicht auf, aber ich bin wach, hellwach. Die Polizisten sind weg, das Mädchen liegt bei sich zuhause im Bett und träumt von einem Jungen aus seiner Klasse. Und hoffentlich träumt der Junge auch von ihr. Dann wäre alles gut für die beiden. Wann ist schon einmal etwas gut für einen oder gar zwei Menschen. Je mehr es werden, desto weniger Glück haben sie. Glück scheint eine Zuteilung des Himmels zu sein. Der liebe Gott mit seiner großen Suppenkelle teilt es wie die Frau in der Tafel aus oder eben auch nicht. Seit ich dem Gift nicht mehr hinterher renne, kann ich über alles nachdenken. Ich glaube eigentlich nicht an Gott, aber das mit der Suppenkelle gefällt mir doch gut. Als ich bei der Armee war, damals im Osten, gab es eines Tages Weißkohlsuppe mit ganz viel Raupen. Der Koch stand mit seiner großen Kelle da und der Regimentskommandeur, den man geholt hatte, schrie ihn an. So würde ich mir Gott vorstellen, wenn ich ihn mir vorstellen würde. Das Mädchen wollte mir doch bloß helfen. Die hat es gut gemeint. Wahrscheinlich hält ihr Vater beim Abendbrot Vorträge über das Gutsein. Lass es gut sein, nein, lass uns gut sein. Lass uns gut sein, bitte. Man muss den Armen helfen, denn sie können nichts dafür. Aber ich brauche keine Hilfe. Ich brauche euer Gift nicht, ich habe gar kein Portemonnaie mehr. Die paar Piepen, die ich manchmal habe, habe ich in meiner Hosentasche, aber die hat ein Loch. Da muss man halt aufpassen. Aus dem Gift entsteht die Gier. Mehr als essen kann man nicht. EUER ENDLOS IST DIE GIER, DOCH WEITER KOMMT MAN OHNE IHR. Da hat sie gestaunt, die kleine Lady aus der erweiterten Schule. Aber die heißt jetze Gymnasium. Im Gym gehen sie turnen, im Gymnasium lernen sie ihr Gift verwalten. Soll und Haben. Bei mir war immer nur Soll. In der LPG hatten sie auch ein Soll, das sie nicht geschafft haben, das sie nicht schaffen konnten, das sie nicht schaffen wollten. Bei mir kam das Soll immer von selbst. Kaum war der Zehnte rum, sprang es in das rote Soll. Dann hieß es borgen. Bringt Kummer und Sorgen. Spinne am Abend.

Jetzt habe ich doch noch geschlafen. Jetzt kommt gleich der Sechs-Uhr-Zug. Der Bahnsteig ist voll. Alle machen einen Bogen um mich. Manche kennen mich schon, andere sind empört. Einer ruft lauthals: wo ist die Polizei, wenn man sie mal braucht. Zu unseren Kundgebungen kommen sie ungerufen, aber hier für Recht und Ordnung zu sorgen, sind sich diese Gutmenschen zu fein. Wenn wir regieren, wird sich das drastisch ändern. Wir ändern das. Das sind doch keine Zustände. Niemand beachtet ihn, zum Glück muss ich sagen, denn nichts ist schlimmer als ein Mob gegen unsereinen. Den Sieben-Uhr-Zug habe ich verpasst. Da muss ich noch einmal eingedruselt sein. Mit dem fahren auch nicht so viele. Der Acht-Uhr-Zug und der zehn-Uhr-Zug, die sind beide ziemlich voll. Da kann man sehen, wie viele Menschen nicht zur Arbeit gehen, jedenfalls nicht früh. Um zwölf Uhr kommen schon die ersten zurück, Berufsschüler mit Ausfall, Rentner mit Facharztterminen, Einkäufer. Um die Zeit sind immer noch viele Rentner unterwegs, auch ohne Termin. Sie fahren einfach so in der Weltgeschichte herum. Immer mit Wasserflasche und Rucksack. Viele werfen mitleidige Blicke zu mir. Heute wollte mir einer fünf Euro geben, aber ich habe sie nicht genommen. So billig sollen sie nicht davonkommen. Sollen sie ihr Gift doch behalten. Ich kann verhungern, das macht mir nichts, aber es verhungert sich nicht so schnell. Da findet sich noch immer etwas. Du weißt schon, die Bäckerfrauen mit ihrem ewiggestrigen Kuchen. Ganz ohne Moos.

Dann kommen die Schüler und die Leute, die gearbeitet haben, abends die ins Kino fahren, dann wird es langsam leer.

Der Zweiundzwanzig-Uhr-Zug ist durch und ich habe noch kein Auge zugetan. Das wird eine lange Nacht nach einem langen Tag. Ich muss aufhören, die Züge zu zählen und die Stunden. Das Leben wird noch länger, wenn man jede Stunde notiert. Manche schreiben ein Tagebuch. Das wäre bei mir langweilig, denn jeder Tag ist gleich. Ich könnte immer schreiben: heute siehe gestern oder siehe morgen. Es ist immer alles gleich. Ich liege auf meiner Bank und zähle mein Gift, die paar Kröten aus der kaputten Hosentasche. Ich kucke auf die Uhr, welcher Zug kommt, oder auf den Zug, welche Stunde kommt.

Vielleicht kommen die beiden netten Polizisten wieder. Ich habe mich schlafend gestellt und es hat geklappt: sie haben mich nicht abgeschleppt in ihre Heime oder Gefängnisse. Auch Wohlfahrt kann Strafe sein. Die verstehen nicht: ich liebe meine Freiheit mehr als sie. Die verstehen das nicht. Eine Gesellschaft, die nur auf Gift und Gier aus ist, versteht nichts von Freiheit. Ich bin arm, aber gierlos. Es wäre schön, wenn das nette Mädchen noch einmal kommen würde. Sie hat es versprochen. Aber vielleicht gibt es heute Hähnchen zum Abendbrot. Da muss sie lange knabbern. Und der Vater hält wieder seine Vorträge über den Zusammenhang von Gift und Güte.

Da ist sie ja. Sie ist doch noch gekommen. Und sie ist heute noch schöner als gestern. Aber irgendwann ist auch sie gestern schöner gewesen als heute. So geht es uns. Mit neunzehn waren wir alle schön. Ich darf sie nicht so anstarren.

Warum sagen Sie eigentlich immer Gift?

Weil ich mal einen Film gesehen habe, da hat ein Junge in deinem Alter Gift bei einem Apotheker gekauft. Aber der hatte ein schlechtes Gewissen. Er war halt arm. Das gibt es heute gar nicht mehr: arme Apotheker. Die Menschen sind so krank, dass die Apotheker zwangsläufig reich sein müssen. Der reichste Mann von diesem Kaff hier ist der Apotheker. Aber damals war das nicht so. Damals, in diesem Film hatte der Apotheker echte Bedenken, denn er konnte sich schon denken, wozu der Junge das Gift braucht. Also hat der Junge ihn beruhigt und gesagt: mach dir keine Sorgen, Apotheker, nicht du gibst mir Gift, sondern ich gebe dir Gift. So war das. Da musste das Mädchen lachen.  

ROMEO UND JULIA AUF DEM DORFE

The world is not thy friend

nor the world’s law.

[Romeo and Juliet 51]

Vielleicht gibt es keine Familienkriege mehr, weil es – außer im organisierten Verbrechen – keine Familien mehr gibt. Passend zum Tag der deutschen Einheit, vor dem manche Zeitgenossen immer noch etwas ratlos zurückschrecken, zeigte das Neustrelitz/Neubrandenburger Theater die – welt- und zeitweit wievielte? – Premiere des wohl berühmtesten Dramas über Fehde und Liebe: Romeo und Julia von William Shakespeare, der seit mehr als vierhundert Jahren tot ist, den Tag der Einheit gibt es dagegen erst seit 35 Jahren.

Neustrelitz hat ein kleines bisschen Romeo-und-Julia-Ambiente: die Adelsvillen, die minaretthafte Tudorgotik der wunderschönen Schlosskirche, die Balkone in lieblicher Landschaft, Skulpturen und Sichtachsen, das ist alles aus einem so schönen Gestern, dass man es sich beinahe zurückwünscht. Aber – auch das ein Blick in die Tragödie – der letzte Großherzog, der seinerzeit der reichste Junggeselle Europas gewesen sein soll, hat sich aus Kummer erschossen. Passend liegt er auf der Liebesinsel seiner Sommerresidenz in Mirow begraben.  

Die unverwüstliche, schon vierhundert Jahre währende Lebendigkeit von Romeo und Julia (gespielt von Charlotta Grimm und Kevin Knobloch) kommt durch ihr Schwanken zwischen Tragödie, worum es am Ende geht, und Komödie, wie das Leben so spielt, zum Vorschein. Man kann, wie Robert Wilson in seiner weltberühmten Inszenierung der Shakespeare-Sonette durch antikisierende Kostüme und entsprechendes Bühnenbild das Pathos der Texte betonen, oder, wie gestern in Neustrelitz geschehen, die Komödie zur Farce öffnen. Damit wird das mobile Theater mit vorgestellt, das so oft bei Shakespeare vorkommt, und das derb-obszöne Stegreif-Theater, das es höchstwahrscheinlich auch im Hause des Meisters gegeben hat. Es kann die aus heutiger Sicht skurrile Jugendlichkeit der beiden Protagonisten betont werden, die auf der Bühne mit ihrem komischen, akrobatischen, verkrampften, verkorksten Spiel meisterhaft vierzehnjährige Jugendliche imitieren. Aber diese hüpfenden Youngsters reden – angestiftet durch ihre Eltern und deren haarsträubende Konventionen – fortwährend von Heirat und Liebe als wären es Kürbisse auf dem Wochenmarkt. Auch die Mutter von Julia (Lisa Scheibner), die als Doppelrolle auch die Amme spielt und dadurch die Mutter in die Gefährtin und die absurde Erzieherin zweiteilt, trägt markante heutige Züge. Man sieht die prekär schreienden Mütter in den Kassenreihen der Supermärkte, wie sie versuchen, ihre Kinder von Zucker und Sucht fernzuhalten, an die sie sie längst verloren und wohl auch schon abgegeben haben.

Überhaupt: die Gegenwart, sie zeigt sich zuerst natürlich im Publikum, das sich gern, und für meine Begriffe etwas zu intensiv auf die Farce einlässt. Gelacht wird aber trotzdem fast ausschließlich über die originalen Shakespeare-Sätze. Erst ganz zum Schluss, als eine Leichenrede auf die andere folgt, kommt auch das Publikum zur Ruhe. Dadurch wird der Ernst des Lebens als Tragödie in den vorangegangenen zwei Stunden etwas verschenkt, ins Nebulöse verblasen. Mir schien das nicht die Intention der Inszenierung zu sein, sondern ein ungewollter, etwas bedauerlicher Nebeneffekt. Auch die ohrenbetäubende Lautstärke mancher Text- und Musikpassagen ist dieser Übertreibung geschuldet. Emphase übertönt hier die mögliche Empathie. Wenn auch Theater in der Übertreibung einen Wesenskern findet, wäre hier weniger mehr gewesen. Umso mehr kommt aber auch der Vater Romeos (Matthias Horn) mit seinem gut gespielten natürlichen Pathos zum Zuge.

Die Gegenwart zeigt sich aber auch in dem sozusagen in zweiter Ebene verhandelten Verhältnis von Realismus, Tragödie, Komödie und Farce. Es wird ja, in Bezug auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse, ein Satz von Karl Marx häufig zitiert, der besagt, dass alles in der Geschichte zweimal passiert: einmal als Tragödie und dann als Farce. Putin und seine autoritären Kollegen zeigen dagegen, und das haben sie mit dem paradigmatischen Drama vom Liebestod zweier blutjunger Protagonisten gemeinsam, wie jede Farce zur bitteren Tragödie verkommt. Im Falle Putins werden hunderttausende junger Menschen verkauft und geopfert. Daran wird man unweigerlich erinnert, wenn man die Zeit vor der Vorstellung zu einem Spaziergang durch den prachtvoll restaurierten Schlosspark ohne Schloss nutzt, der abrupt in einem sehr großen und sehr breiten sowjetischen Soldatenfriedhof mündet und endet. Das Theater in Neustrelitz gibt es schon seit 250 Jahren, aber der Bau mit dem schönen Dr.-Dr.-Schiller-Zitat ist identisch mit dem einst gleichnamigen Theater in Eisenhüttenstadt, und in dieser Stadt gab es einige Jahre lang das Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge. So hängt alles zusammen. Aber ob alles eine bloße und große Farce ist, das wage ich dann doch zu bezweifeln.

Zur Gegenwart, mit der das Theater immer, was es auch spielen mag, korrespondiert, gehört auch das plötzliche Auftauchen von Gundermann. Einerseits passt er natürlich zum Haus und zu uns, dem wahrscheinlich überwiegend östlichen Publikum, aber passt er andererseits, und sei es nur als ferner Kommentar, auch zum großen Stück des großen Shakespeare? Das zergrübelte ich und geriet – ohne es zu wollen – in den Schluss, und siehe da, die Musik wurde Requiem und fand sich damit in ihrer ureigentlichen und jahrtausendwährenden Funktion wieder.     

Das aufwändige Bühnenbild wurde zwar eifrig ausgespielt, aber es erschloss sich mir nicht ganz, blieb Magie, aber: ‚Der Dichtung heilige Magie | Dient einem weisen Weltenplane‘, so spricht Schiller in dem schon erwähnten Gedicht weiter. Lediglich die riesigen Lusitanischen Wegschnecken [Arion vulgaris], Schrecken aller professionellen und dilettantischen Gärtner, können als Metapher für schnelle Ausbreitung, Gefräßigkeit, Zerstörung des Gleichgewichts, Ekel und Allgegenwart verstanden werden. Auch vor dem Theater machen sie nicht Halt.

Gina Maria Böhlau als Benvolio und Vanja Hawemann sogar in einer Doppelrolle als Tybalt und Franziskanermönch müssen mit großer Leistung extra erwähnt werden, weil sie noch Studierende der Berliner Hochschule für Schauspielkunst sind. Hawemann choreografierte zudem die turbulenten Kampfszenen, auch sie ein Bild des Lebens wie des Straßentheaters, Klamauk auf seinen Urpunkt gebracht. Die ungeheuer voluminösen Kostüme zeigen als Nebeneffekt die Verwandtschaft zwischen Prunk und Punk. Die Zeiten kommen und gehen, sind sich aber ähnlicher als man denkt. Das gleiche gilt für die Menschen.

Mein Ideal für ein Shakespeare-Theater wäre ein Originaltext – the more I give the more I have for both are infinite [Romeo and Juliet 2²]  -, dazu Musik vom zweiten zeitlosen Genie Bach und ein Bühnenbild vom dritten im Bunde: Michelangelo. Aber in mein Theater würde niemand kommen oder wer käme, würde nichts verstehen. Deshalb bringen nur Kompromisse zu diesem Ideal volle, ausverkaufte Häuser und ein Publikum, das herzlich, aber nicht frenetisch applaudiert. Das war ein langer Abend voller Überraschungen und großen Leistungen.

DIE NEUE DREIEINIGKEIT

oder

Wenn man jemandem den Schlüssel zum Schloss gibt…

Wenn man jemandem den Schlüssel zum Schloss gibt, muss man gute Gründe haben, denn, wie groß der erwartete Erfolg auch sein mag, das Risiko ist größer. Vor einigen Jahren zeigte mir ein Leser meines blogs, dass meine Vorstellung von Gott exakt der Definition der neuronalen Netze entspreche, dergestalt, dass man, wenn es Gott gäbe, ihn nicht um etwas bitten kann, das in der Zukunft liegt, sondern dass man ihm nur danken kann für etwas, das vergangen ist. Neuronale Netze lernen durch Bestätigung, und lernen ist besser als regeln. Vor einigen Tagen lachte ein guter Freund von mir über meine Bemerkung, dass Putin schon deshalb nicht siegen wird, weil das Böse nicht siegt und nicht siegen kann. Selbst wenn uns die Welt zunehmend böse erscheint – was sie nun bestimmt nicht ist -, müssen wir zugeben, dass letztendlich, auch unter Einbeziehung hartnäckig böser Beispiele wie Hitler, Trujillo, Amin, Kim Il Sung, Kim Jong Il, Kim Jong Un, Ceaucescu, Afewerki, Stalin-Putin, das Böse sich nicht durchsetzt, denn sie sind alle tot oder werden sterben, für wie tausendjährig sie ihre Herrschaft immer auch erklären mögen. Es gibt in Deutschland bestimmt mehr als hundert Stauffenberg-Straßen, aber nicht eine einzige Hitler-Straße. Über Thälmann müsste man streiten.

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Dem alten Wettstreit zwischen Freiheit und Ordnung setzte als erstes die Globalisierung seit 1444 zu. In diesem Jahr landete das erste Schiff mit afrikanischen Sklaven in Portugal. Um diese neuen Universalarbeitskräfte und deren schonungslose Ausbeutung zu rechtfertigen, musste man ihnen das Menschsein, die christliche Qualität absprechen. Aber das ist nicht der einzige Makel des Christentums: zusammen mit den anderen Religionen vermochte es nicht, die einfachen Botschaften ‚Du sollst nicht töten‘ oder ‚Liebe deine Feinde‘ auch nur annähernd zu verallgemeinern. Stattdessen glauben Milliarden Christen und Nichtchristen, so als ob Yesus nie gelehrt hätte, weiterhin, dass der Stärkere Recht hätte, dass Geld die Welt regiere und – vielleicht am schlimmsten – dass es ein hierarchisches Gefälle zwischen Menschen gebe.

Auf diesem Aberglauben, der nicht zuletzt durch die Religionen gestützt wurde, baut der gegenwärtige Trend zu einem neuerlichen Autoritarismus, den seine Befürworter – die Antiglobalisten – für die Rückkehr zur Ordnung, seine Gegner aber – die Globalisten – für die Abkehr von der Freiheit halten. Merkwürdig dabei ist, dass die Globalisten die Globalisierung für irreversibel halten, die Autoritären dagegen wollen sie rückgängig machen. Der Slogan dafür stammt von Donald Trump ‚….first‘, vor dem das jeweilige Land eingesetzt werden muss. Höcke, der Rechtsaußenführer der AfD in Thüringen, versucht, das alles immer wieder in Beziehung zu setzen mit der Sprache der Nationalsozialisten, von denen er sich dann aber distanziert.

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Während jedem Befürworter und jedem Gegner klar ist, dass Globalisierung Öffnung bedeutet, glauben viele die Demokratisierung auf Verfassungen und Wahlen begrenzt. Aber Demokratie und der Weg zu ihr hin bedeutet zuallererst einmal Emanzipation. Erst die großen Gruppen der Kinder, Frauen und Afrikaner, sodann die kleineren Gruppen der Menschen mit Behinderungen und Homosexuellen, der unehelichen Kinder und geschiedenen Frauen mussten in die universell gültigen Menschenrechte heimgeholt werden. Wenn wir die Demokratisierung mit der französischen Revolution beginnen lassen, so ist das einerseits präzise, verkennt aber Alternativen, wie zum Beispiel die vergessene Verfassung von Korsika,  das Erdbeben vom 1. November 1755 in Lissabon, das Wirken des Königs Friedrich II. in Preußen 1740-1786 oder das Erscheinen von Rousseaus ‚Gesellschaftsvertrag‘ 1762. Emanzipation und Aufklärung wurden zudem überschattet von der viel unmittelbarer wirkenden Industrialisierung, die wir hier der Globalisierung subsumieren. Die Bewohner Europas, später auch Amerikas, Asiens und Afrikas, zogen in die Städte, wo die Eltern Arbeit und die Kinder Bildung fanden. In Lagos, einer der größten Städte der Welt und der Welthauptstadt des Chaos, gibt es riesige Slums auf dem Wasser (Makoko), in denen privat initiierter Unterricht stattfindet! Hunger und Bildung gaben sich ein reziprokes Rennen.  Global gesehen ist der Hunger ebenso wie der Analphabetismus auf ein Zehntel der stark angewachsenen Weltbevölkerung reduziert. Die Pforte der Demokratisierung ist also die Bildung, die Öffnung ist die Aufklärung. Selbst wer nicht lesen und schreiben kann, profitiert, denn ihm wird vorgelesen und vorgeschrieben. Sprichwörtlich ist der Vorwurf, dass die Aufklärung sich nur an die Stelle der alten Götter gesetzt hat und nun mit dem gleichen totalitären und allwissenden Anspruch auftritt. Dies zeigt aber nur, dass sowohl Demokratie als auch Aufklärung keine statischen  Zustände sind, sondern Prozesse.  

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Alexis de Tocqueville beschreibt den Anfang aller Demokratie mit der Installation von Briefkästen, deren englische Bezeichnung ‚mail box‘ aber auch gut zum dritten Element der neuen Dreieinigkeit passt, der Digitalisierung. Vielleicht könnte man den Beginn der Verschlüsselung mit der Entschlüsselung des höchstwertigen mechanisch, also analog erzeugten Codes benennen. Die Wehrmacht wollte Land, Ressourcen und politische wie mentale Hegemonie gewinnen. In einem riesigen, aber letztendlich stark überdehnten Angriffs- und Zweifrontenkrieg bediente sie sich sowohl der Überraschung (‚Blitzkrieg‘) als auch der strikten Geheimhaltung. Alle Befehle wurden mit mechanischen Maschinen, der Enigma und der Lorenz, verschlüsselt, vereinfacht gesagt wurden die Buchstabenreihen mehrfach zufällig ausgetauscht. Die Gegenseite hatte nun die Aufgabe, mittels elektronischer und digitaler Technik den Code für immer zu entschlüsseln. Dabei entstand das, was wir heute Computer nennen, der das nächste Zeitalter einläutete. Alan Turing, der großen Anteil an dieser mathematischen und technischen Großleistung hatte, starb, weil er nach moralischen Grundsätzen (auch des Christentums) des neunzehnten Jahrhunderts verurteilt wurde, und er starb in Verwirklichung eines Märchens und eines Märchenfilms an einem vergifteten Apfel.   

Je mehr Schlüssel verteilt werden, desto höher sind die Risiken; das ist das Argument der Demokratiefeinde, die ihre Herrschaft immer auf Loyalität und Korruption aufbauen. Dagegen ist Demokratie immer nur mit ansteigender Kompetenz verbunden und überhaupt vorstellbar. Selbst in den beiden schrecklichen Kriegen, die zurzeit geführt werden, ist der Metakampf intellektueller Art zwischen digitalisierter und konventioneller Herangehensweise, zwischen sozusagen antiker und moderner Kriegführung, zwischen autoritären, stark zentralisierten Befehlsketten und demokratischer, dezentraler Handlungsstruktur. Der mündige Bürger, sogar auch in Uniform, ist in Israel und in der Ukraine zuhause.

Wir dürfen uns das alles niemals ohne Friktionen vorstellen, Reibungen, die Carl von Clausewitz in seinem großen philosophischen Werk ‚Vom Kriege‘, aus dem immer nur ein einziger Satz zitiert wird, beschrieb. Jede Absicht wird im Stadium der Verwirklichung verzerrt, verwandelt, in ihr Gegenteil verkehrt. Nichts ist so verwirklichbar, wie es gedacht wurde. Wer losgeht, kommt nicht am gedachten Ziel an, man steigt nicht zweimal in denselben Fluss…Das gehört alles zu den Basics der mittleren Bildung, wird aber trotzdem von uns gern und mit Inbrunst vergessen. Mit Inbrunst hoffen wir auf Ordnung und Sicherheit, verschlüsseltes Wissen geheimer Führer, Treue und Loyalität bis in den Tod. Und der Tod ist genau der Lohn dafür. Nur lernen und lieben ist leben und dazu gehört mehr Freiheit als Ordnung, mehr lernen als regeln, mehr Sinn und verstand als Hierarchie und Tradition.     

LEGO VON HEGEL

DER PREIS DES AUFSTIEGS IST DIE TREPPE gilt auch umgekehrt

    für Tamer K.

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Viele Menschen haben Sprüche darüber, wie es kommt, immer anders als man denkt oder wie es kommen muss oder wie es eben kommt. Aber hinter leicht dahingesagten und oft wiederholten Sprüchen verbergen sich Welt- und Lebensanschauungen.

Schon als Kinder sagten wir empört: das ist doch ungerecht! Und noch als Alte glauben wir an eine, wenn nicht überbordende, so doch übersinnliche Gerechtigkeit. Alle linken Bewegungen und der Sozialstaat versprechen sie bedenkenlos, alle rechten Bewegungen wollen sie dadurch erreichen, dass sie einen Teil der Menschheit von vornherein ausschließen. Der Staat, diese Megamaschine aus Klammeraffen, Aktenordnern und Ausführungs-bestimmungen, der sich am liebsten mit sich selbst und der Versorgung seiner Beschäftigten beschäftigt, hat sich immer mehr an die Stelle der alten Institutionen Religion, Zünfte oder Allmende gedrängt. Und wir glauben ihm gerne. Aber: man kann den Staat nur aushalten, wenn man an die Freiheit glaubt und weiß, dass es Gerechtigkeit nicht geben kann.

Von Kindesbeinen an sind wir mit der Konstruktion von Artefakten beschäftigt. Der Konstruktion geht eine Destruktionsphase voraus, in der wir sozusagen Strukturen, Naturgesetze und Adhäsionen studieren. Aber indem wir jetzt das Bild des Kindes reproduzieren, das mit großer Geduld immer wieder aufgehäufte Bausteintürme kippt, wird uns klar, wie sehr wir dieses Spiel und diese Phase perfektioniert haben. Fröbel war noch stolz auf seine geometrischen Holzklötzchen, dann kamen hundert Jahre Stabilbaukästen und schließlich konnte LEGO sein perfektionistisches Weltbild verbreiten. Wir dürfen nicht übersehen, dass während dieser letzten zweihundert Jahre immer wieder versucht wurde, die Mädchen auf das Spiel mit Puppen, Puppenwagen und Puppenstuben zu reduzieren. Aber das ist gründlich misslungen. Was heute so vehement gefordert wie bekämpft wird, ist damals schon immer sichtbar gewesen: Konstruktions- und Pflegespiele sind nicht an das Geschlecht gebunden.

Auch die in der Schule gelehrten Kulturtechniken sind nicht nur analytisch, sondern immer auch konstruktiv. Wenn auch bedauert werden kann, dass viel zu wenig kreativ geschrieben wird, so wird doch geschrieben. Schreibend setzen wir uns immer eine kleine, neue Welt zusammen. Wenn wir auf einem Dachboden eines alten Hauses ein Schulheft, einen Kalender, eine Briefsammlung oder gar ein Tagebuch finden, so finden wir auch immer eine Welt von gestern. Immer erkennen wir in den Dingen und Ereignissen einen konstruktiven Sinn, weil wir uns vorstellen, wir hätten die Dinge und Ereignisse gemacht. Hegel geht in seinem berühmten, aber leider auch sehr unsinnigen Satz*, dass der Unwissende die Welt ablehnt, weil er sie nicht gemacht hat, sogar so weit, einen Teil der Menschheit von vornherein auszuschließen. Und auch da gehen heute noch genauso viele Menschen mit wie bei seinem Fortschrittsgedanken**. Der Satz ist trotz seiner rhetorischen Stärke und seiner bewundernswerten Konstruktion deswegen unsinnig, weil wir in seinem Sinne alle unwissend sind und die Welt, auch die kleine uns unmittelbar umgebende, nicht gemacht haben. Wer ein Haus gebaut hat, weiß, wie viel vom Grund abhängt, vom Material, vom Entwurf, vom Wetter, vom Geld von der Tagesform und von tausend Zufällen. Da aber das Haus heute noch steht, glauben wir an uns und unsere konstruktive Stärke und überschätzen unseren Anteil an Struktur und Wissen der Welt.

Durch die Konstruktion von Artefakten kommt also unser Glaube an die universelle Machbarkeit. Die Welt, meinen wir zu wissen, ist genauso gemacht worden, wie die Legowelt im Kinderzimmer, wie das Kinderzimmer und auch wie die Kinder selbst.

Die andere Seite ist die Ablehnung des Zufalls. Da wir in allem Sinn suchen und vermuten, müssen wir das sinnlose Walten der Natur hinterfragen. Letztlich lehnen wir es ab. Wir glauben nicht daran, dass es zwar Zusammenhänge, aber keine Kausalzusammenhänge geben soll, dass es zwar Kausalzusammenhänge geben soll, die aber nicht mit uns zusammenhängen. Fast jeder Mensch ist zum Beispiel davon überzeugt, dass er sich den Partner oder die Partnerin bewusst, sehenden Auges, vielleicht sogar ästhetisch oder utilitaristisch ausgesucht hat. Viele erinnern sich an den ersten Schritt aufeinander zu und halten die Verbindung für gewollt und gemacht. Tausend biotische und psychische, soziale und lokale Zusammenhänge werden nicht ignoriert, sondern sind uns unbekannt, weil wir eben auch in unseren persönlichsten Zusammenhängen Unwissende sind.

Neuerdings liest man sehr oft, dass die Freiheit des einen dort ende, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das setzt voraus, dass zwei Nachbarn entgegengesetzte Konstruktionen wären, die auch noch ein entgegengesetztes Freiheitsideal hätten. Tatsächlich stimmen wir aber – glücklicherweise – zu bis zu 99% überein, wenn uns das auch bei einem unbeliebten Nachbarn weit anders erscheint. Es geht sehr oft um das Rechthabenwollen und nicht um das Recht oder um die Gerechtigkeit. Solche dichotomischen Ausschließungen – an meinem Gartenzaun endet dein Recht! – ignorieren die von Euler beschriebenen Schnittmengen zwischen den Dingen, Ereignissen und Menschen. Vieles ist sich ähnlicher, als es denkt. Jeder Wettbewerb beruht mindestens auf dem Konsens der Vergleichbarkeit. Und in jedem Wettbewerb regieren nicht nur das Können, der Verstand oder der Selbstwert, sondern auch immer das Glück und der Zufall. Aber trotz aller Konkurrenz, trotz allen Streits und Wettbewerbs, trotz aller Kämpfe sind wir immer auch eingehüllt vom Grundkonsens der Menschheit, der Großgruppe, der Kleingruppe, des Paars und etwa des Gartens, in denen wir uns befinden und ohne die wir nicht wären.

Es ist doch merkwürdig, dass gerade diejenigen, die die Freiheit einschränken wollen, sich bei der Entfernung vom Grundkonsens der Menschheit auf Freiheit berufen. Niemand aber entfernt sich ungestraft von diesem Grundkonsens. ‚Du sollst nicht töten‘ [Exodus 20,13] etwa ist nicht ein frommer Wunsch, der sich durch widrige Wirklichkeiten zu behauptet hätte, sondern eine conditio sine qua non*** des Zusammenlebens. Wer sie missachtet, wird missachtet. Die Strafe ist die Entfernung aus dem Grundkonsens. Eine Umkehr ist immer möglich. Nichts muss, alles kann, aber es wird immer kommen, wie es kommt.

* „Der Unwissende ist unfrei, denn ihm gegenüber steht eine fremde Welt, ein Drüben und Draußen, von welchem er abhängt, ohne dass er diese fremde Welt für sich selber gemacht hätte und dadurch in ihr als in dem Seinigen bei sich selber wäre.“ HEGEL. Ästhetik, Berlin und Weimar 1984, Band 1, Seite 105

** vergleiche: DIE HEGELSCHE TREPPE, Blog Nr. 240

*** Bedingung, ohne die nichts (ist, geht)

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Wir können nicht von uns fortschreiten, weder neben uns treten, noch vor oder hinter uns. Diese Gebundenheit in Raum und Zeit ist immer als Fessel der Erkenntnis gedeutet worden, so dass wir lange annahmen, wir könnten nur begrenzt erkennen und deuten. Dagegen scheint es ratsam, einmal zu untersuchen, ob die Fessel nicht vielmehr die Ursache unseres Stillstands ist, dagegen aber anzunehmen, dass der Geist, wie sich ja in jeder Phantasie und in jeder psychischen Krankheit zeigt, ganz frei sei. Das Leiden an der psychischen Störung entsteht durch die Reibung mit der Wirklichkeit, jener raum-zeitlichen Gebundenheit, in deren Fesseln die Mehrheit der Menschen lebt und leben muss. Wer aus sich heraustritt, ist für die Welt verloren.

Wir nehmen aus zwei Gründen an, dass wir fortschreiten, nämlich weil wir glauben, dass wir auf ein Ziel hin leben, und weil  uns scheint, dass die Annehmlichkeiten des Lebens das Leben selbst sind. Unsere Folgerung: das Leben wird annehmbarer, also ist es Fortschritt. Wir blenden die Unannehmlichkeiten einfach aus, zumindest nachträglich. Wir nehmen den Schein für die Wirklichkeit. Wir glauben eher das, was uns jemand über die Welt sagt, als das, was die Welt uns sagt. Wenn wir aber selber sehen, dann sehen wir mit den Augen, Brillen und Begriffen unserer Vormütter und Überväter, und das waren in unseren Augen meistens Übelväter. Wir können die Fehler der Vergangenheit viel besser deuten als die der Zukunft. Sprichwörtlich ist inzwischen unsere Abhängigkeit von Medien und Maschinen, wir haben die Aufklärung an die Stelle der  Religion gesetzt und glauben an Titel, Thesen und Temperamente.

Ein Ziel ist ja mehr als ein Ende. Das Ende der Geschichte ist ein Idealzustand, mag der nun Paradies, Kommunismus, demokratischer Sozialstaat, ewiges Leben heißen. Man glaubt sich ja am Ende seines Lebens auch am Ziel seiner Wünsche: man ist weiser, reicher, beliebter als am Anfang. Wer das glaubt, sollte doch vor der Zeit einmal ein Pflegeheim besuchen. Bis zum 18. Jahrhundert wurde das Wort Ende auch synonym zu Zweck verwendet (Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studieren wir Universalgeschichte? Jena, 1789). Als Zweck des Menschen, von anderen nun wieder mit ‚Sinn’ gleichgesetzt, erscheint dann die Fortpflanzung. Das ist reine Tautologie: ich bin da, damit (oder auch: weil) ich da bin. Indessen hat hier nicht Darwin Hegel bestätigt in dem Sinne, dass der Mensch über der Ameise stünde. Die einzelne Ameise mag ein Nichts sein (wie der einzelne Mensch außerhalb seines Zusammenhangs auch), die Ameisen-Sozietät dagegen ist  ein kollektiver Makroorganismus. Aber was anderes ist der Mensch? Der Mensch ist als Körper ein sich selbst organisierendes Zusammenwirken von Mikroorganismen und Teilsystemen, die Summe des Humus, als soziales Wesen der Quotient seiner Vorväter und das Produkt seiner Urenkel. Wäre also Fortpflanzung sein Zweck, so würde er sich nur selbst bezwecken und beenden. Stattdessen sollte er sich darauf besinnen, für die nachkommenden Generationen das Leben annehmbarer zu machen als es für die vorangegangenen Generationen, denen wir nicht mehr danken können, war. Dieser Beitrag zur Lebenssinntheorie stammt von Schiller aus der genannten Antrittsvorlesung in Jena.

Im neunzehnten Jahrhundert entstand nicht nur der blinde Glaube an den Fortschritt, und wir wollen glauben, dass sein Gott Hegel hieß, sondern auch der Gegenzweifel, der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Und obwohl jeder weiß, dass Wärme nicht von selbst von einem Körper niedrigerer auf einen Körper höherer Temperatur übergehen kann, glaubt es dennoch keiner.

Wir glauben an den Fortschritt oder die Wissenschaft. Wir glauben an das Buch, die Zeitung und das Internet. Wir glauben an die Hauptsätze der Thermodynamik, aber nicht an den zweiten: siehst du etwas zerfallen oder erkalten? Viele Menschen glauben an Schneeballsysteme oder an das Geld, das die Welt regiert. Wir glauben an die Omnipotenz der Maschine, besonders an das Automobil und den Ordinateur.  Viele glauben an die Kraft der Kontrolle und die Wirksamkeit der Strafe sowie an das Recht des Stärkeren. Wir können nicht glauben, dass der Mensch gut ist, wir sehen es täglich, aber wir glauben es nicht. Wir müssen dagegen glauben, dass wir höher stehen als die Ameise und der Wilde. Man sieht es ja. Wir glauben, dass Glauben etwas grundsätzlich anderes ist als Wissen. Das glauben wir zu wissen. Manche glauben, was sie sehen, und andere sehen, was sie glauben.

Der Philosoph Hegel, dessen Treppe wir bestaunen und nachbeten, stammt aus einer schwäbischen Beamtenfamilie, war zum Pfarrer bestimmt, teilte während der Schulzeit sein Zimmer mit Hölderlin und Schelling, wurde aber zunächst Hauslehrer, also Hofmeister, dann Gymnasialdirektor durch Protektion, Schulrat, Professor und schließlich Rektor der Berliner Universität. Sein wichtigstes Buch, mit dem er allerdings sein ganzes Leben beschäftigt war, Phänomenologie des Geistes (1807), schrieb in der Mitte seines Lebens in Jena, just als Napoleon sich anstellte, Jena zu erobern. Was wollte der große Napoleon mit dem kleinen Jena? Dieser Lebensweg mag manchem als Fortschritt, als ein Aufstieg von unten nach oben erscheinen.

Hegels Schwester Christiane hingegen, ebenfalls hochintelligent, arbeitete auch als Hauslehrerin, nämlich für die fünf Töchter des Freiherrn von Berlichingen. Als diese Töchter erwachsen waren und das Haus verließen, brauchte niemand mehr Christiane Hegel. Sie wurde, wie man damals sagte, schwermütig, manchmal auch hysterisch. Vielleicht war sie depressiv oder schizophren. Sie schrieb sehr schöne Gedichte und bedeutende Briefe, die ihre Familie sorgfältig vernichtete. Ihr Bruder, der ihr Abgott war, lud sie einmal ein, bei ihm zu wohnen, obwohl sie ihm unheimlich war, aber dann ließ er sie doch entmündigen. Man nahm ihr das kleine Haushaltsbüchlein fort, mit dem sie sich bewies, dass sie von niemandem abhing. Sie ernährte sich jetzt von Handarbeits- und Französischunterricht, wenn und solange sie nicht in der geschlossenen Anstalt war. Manchmal kümmerte sich Hegels Schwiegermutter, Freifrau von Tucher, um sie. Als Hegel starb, und bekanntlich baute Schinkel ihm das Grab, wollte auch seine Schwester nicht mehr leben. Sie starb selbstbestimmt in der Nagold, einem kleinen schwäbischen Flüsschen, wurde kilometerweit flussaufwärts gefunden. Alles fließt. Zu ihrer Beerdigung in Calw kamen vier Personen, davon zwei um zu sehen, wer ihre Auslagen bezahlen würde. Ihr Geist ging später in den kleinen Hermann Hesse über. Wir können nicht von uns fortschreiten, aufwärts nicht und nicht abwärts.

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DIE BRÜCKE ÜBER DIE ÜCKER

Yüzünüzü güldürsün

Die Uecker heißt an dieser Stelle noch Ucker, kommt aus dem Unteruckersee und durchfließt die Uckermark. Im Stadtgebiet, aber doch beinahe schon am Rand, gibt es eine schlichte Betonbrücke, hinter der eine noch provisorische oder schon ruinöse Treppe auf den Ascheberg führt, der einen ziemlich großen Garagenkomplex beherbergt, der allerdings nicht mehr sehr zahlreich frequentiert wird. Viele Menschen werden die Garagen eher als Unterstell denn als Herberge für die geliebten Maschinen benützen. Wenn die Garagenansiedlungen nicht typisch für die untergegangene DDR sind, so sind sie es für die Zeit, in der die Autos noch neu und wertvoll und schützenswert waren und vielleicht noch nicht an jedem Tag gebraucht wurden. In jeder ostdeutschen Stadt gibt es sie sozusagen als Begleitung oder Beigabe der Banlieus oder Suburbs, wie hier die Neubausiedlungen bestimmt nicht hießen. Eher hießen sie Oststadt. Hinter dem so bebauten Ascheberg, dessen Name auf eine noch unrühmlichere Vergangenheit hinweist, kommt ein Feuchtgebiet, das von Kleinstlandwirtschaften, wie zum Beispiel Pferdezuchten, bestimmt ist. Es ist sogar ein historischer Ort, denn am 28. Oktober 1806 zog hier das am südlichen Ende von Prenzlau von den Franzosen vernichtend geschlagene Bataillon des Prinzen August von Preußen in Richtung Schönwerder, wo es noch einmal auf die Franzosen traf, so dass nichts von der Truppe übrigblieb. Das ist besonders peinlich, weil der Kommandeur ein später durchaus bekannter General wurde, dessen Adjutant viele Jahre der später ebenfalls berühmte, sogar weltberühmte General Carl von Clausewitz vielleicht hier über seine später allgemein bekannten Sätze und Grundsätze nachdachte: JEDER PLAN WIRD DURCH FRIKTIONEN ZERNICHTET! Der Generalquartiermeister des Hohenloheschen Armeekorps‘, Christian Reichsfreiherr von und zu Massenbach, ein Jugendfreund von Dr. Dr. Friedrich von Schiller, hatte durch seine Fehleinschätzung dieses Desaster zu verantworten. Hätte er mit Clausewitz gesprochen, so hätte er wissen können, dass es nicht auf die Truppenstärke ankommt. Dies schicken wir auch gleich noch als Telegramm an Putin, der das auch nicht zu wissen scheint.

Dies alles sollte nur andeuten, dass selbst der unscheinbarste Ort voll von Natur und Geschichte ist, ganz ungeachtet davon, ob wir das glauben, wissen, wahrhaben oder zur Kenntnis nehmen wollen.

An dieser Brücke traf ich an einem brütend heißen Nachmittag einen nicht mehr jungen, aber auch noch nicht wirklich alten Mann. Wir blickten beide in das schnell fließende und erstaunlich klare Wasser der Ucker, die an dieser Stelle DIE SCHNELLE heißt. Ich blickte da hinunter, weil vor einigen Tagen dort ein Fahrrad gelegen hatte, was jetzt – zum Glück – nicht mehr da war. Sind es Betrunkene oder Jugendliche, die zu solchem Vandalismus neigen? In jedem Fall ist es unschön.

Der nicht mehr junge Mann dagegen wollte mir unbedingt mitteilen, dass – wie der Fachmann sagt – der kleine Fluss entkrautet werden muss und dass das in der DDR in jedem Jahr akribisch gemacht wurde, damals von der Melioration, so hieß in jedem Landkreis ein zwischengenossenschaftlicher Betrieb, der sich mit Be- und Entwässerung, eben mit Bodenverbesserung beschäftigte. Da er die DDR in den höchsten Tönen zu loben anhob, wandte ich ein, dass das Krautschneiden in den kleinen Flüssen besser gewesen sein mag, aber bei weitem nicht alles, wie man daran sehen könnte, dass die DDR in Konkurs gegangen war. Es fielen ihm gleich Beispiele ein, die das bekräftigten: so hatte er als LKW-Fahrer Fleisch gefahren und Menschen in Uniform und mit einer Kluppe – ‚weißt du, was das ist?‘ – hatten das Fleisch vermessen und in Ost und West eingeteilt. Er wollte sagen: das Beste der DDR ging in den Westen. Um das Gespräch wieder auf unser heimatliches Flüsschen zu bringen, fragte ich ihn, ob er wüsste, was für ein Wasser dort hineinfließt. Er sagte sofort: Das ist Abwasser, das wüsste er von der Feuerwehr, er selbst hätte es schon oft abgepumpt. Ich sagte ihm, dass das keinesfalls Abwasser sein könnte. Abwasser stinkt, ist sichtbar schmutzig und es ist verboten, es in Flüsse zu leiten. Das sei, sagte ich leidenschaftslos, einer der vielen Punkte, die jetzt besser wären als in der DDR. Nein, sagte er, schrie er, in der DDR war alles besser, alles, dann bist du auch so ein Wendehals, wenn du nicht glaubst, dass früher alles besser war. Er nahm etwas zu viel Schwung, um auf sein Fahrrad zu kommen, verfehlte den Antritt, bekam sich kurz vor dem Absturz wieder in den Griff und fuhr wutentbrannt und laut schimpfend davon.

Ich blieb ratlos zurück, alles, was ich noch zu sagen hätte, wäre in den Wind gesprochen. Das sind sie also, dachte ich, die Wähler der einstigen PDS, der jetzigen AfD: wer anderer Meinung ist als sie, wird beschimpft und mit Etiketten statt mit Argumenten belegt. Ein Wendehals ist in ihren Augen jemand, der ihre Vergangenheit verrät. Heute heißt das wohl eher ‚Volksverräter‘. ‚Wendehals‘ stammt aus der regellosen und höchstkreativen Umbruchphase kurz vor und kurz nach der Wiedervereinigung. Sie – diese Wähler – fühlen sich beleidigt, wenn man Gegenstände oder Ereignisse unserer gemeinsamen Vergangenheit kritisiert. Kritisieren heißt ihnen immer verunglimpfen oder beschimpfen. Sie klammern sich an einen falschen Heimatbegriff: indem sie Heimat nicht einen Ort nennen, sondern einen Zeitabschnitt, noch schlimmer: ein kurzlebiges und zurecht untergegangenes Staatskonstrukt. Sie verwechseln ihre schöne Kindheit und Jugend mit einem politischen Gebilde, das selbst ein ‚Wendehals‘ und ‚Volksverräter‘ war, das die Geschichte und die Traditionen leugnete und sogar bekämpfte.

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Unsere Heimat – unsere Krankheit: Wer sich auf solch einen kleinen Fleck zurückzieht, Fleck sowohl als Ort verstanden wie auch als Zeit, der verpasst die Gegenwart. Und noch wichtiger: der schrammt an seiner eigenen Zukunft vorbei. Statt ewig am museumsreifen RFT-Radio zu hängen, sollten wir lieber in die weite Welt fahren und andere Menschen kennenlernen, die Menschen, die zu uns kommen gut aufnehmen und soviel wie möglich Gutes tun. Ich glaube, dass viele Menschen sich gern an ihre Jugend erinnern, egal wo sie stattgefunden hat. Das Schöne der Erinnerung ist unsere Jugend, nicht die DDR. Das gilt für jeden Ort der Welt und für jeden Punkt der Weltgeschichte. Es ist leicht, sich über die Fehler der anderen zu beschweren, die von den ’neuen Bundesländern‘ sprechen, aber es scheint doch sehr schwer zu sein, selber mit diesem ewigen Blick nach hinten aufzuhören, ins Gestern, ins Verwesende und Verrottende zurückzublicken. Außerdem wundert mich immer, wie jemand ein Staatsgebilde für seine Heimat halten kann. Ich denke, dass ‚Heimat‘ – obwohl ich diesen Begriff selten bis fast nie verwende – allenfalls ein Gefühl der Vertrautheit mit Landschaft und Menschen sein kann, ganz unabhängig davon, wer gerade regiert. Ich sehe mich als Brandenburger und Europäer und Mensch. Mit der DDR verbindet mich nichts oder fast nichts, obwohl ich auch lange Zeit eine RFT-Stereoanlage hatte. Als Sieg der Kunst und der Technik habe ich aber meine erste CD empfunden, da musste ich mir dann allerdings einen CD-Spieler von Grundig kaufen, denn den gab es, da wo ich wohnte, bis dahin nicht.

Das Kraut muss geschnitten werden. Die kleine Brücke verdiente ein Denkmal.

SELBSTBETRUG UND LÜGENLEBEN

So findet doch alles ein gutes Ende: du hast dein Bestes gegeben und ich bin schuld. Aber war es nicht andersherum? Vielleicht liegt der Selbstbetrug in der falschen Kategorie: Selbstlosigkeit mag es geben, aber sie ist schon sehr selten. Wir kennen alle die Vorwürfe, die selbst Schwester Tereza oder Albert Schweitzer gemacht werden. Jeder weiß, dass Beziehungen nicht nur auf einer Seite brechen, vielmehr gibt es anscheinend die Eulerschen Knickfälle, also berechenbare Bruchstellen, auch im mentalen Bereich. Da wir aber keine Balken sind, sondern Menschen, ist uns das Selbst näher als die Wahrheit, die ohnehin nie zu ermitteln sein wird. Denn auch in der winzigen Gemeinschaft von zwei Menschen gibt es Geheimnisse und Unwägbarkeiten, obwohl wir selbst uns immer für gläsern-transparent halten. Aber wir gleichen wohl eher einem Hohlspiegel. Als Kinder haben wir uns auf dem Rummelplatz im Spiegelkabinett amüsiert, weil wir damals gesehen haben: das ist die Wahrheit über uns. Wir sind nicht schön, einmalig, hochbegabt. Sollte jemand hochbegabt sein, so leidet er eben an einem anderen Defizit. Das Defizit errechnet sich als Abweichung vom Ideal oder wenigstens von der Norm. Alle ideologischen Systeme treten mit dem Anspruch auf, ein neues Ideal schaffen zu wollen: den jeweils selbstlosen Menschen. Die Demokratie dagegen, die Ideologie, Religion oder Philosophie dem Menschen freistellt, geht vom selbstvollen Menschen aus. Aber das setzt natürlich ein Höchstmaß an Bildung voraus. Jetzt wird also um die Bildung gestritten: ist die deutsche Schülerin mit ihrem zentnerschweren Rucksack voller Bücher und Ordner die Norm oder der finnische Schüler mit seinem staatsfinanzierten Tablet? Ist überhaupt Wissen, also die beliebige Ansammlung von Fakten das Maß der Bildung oder nicht vielmehr das Denken, die Methode des Weltverständnisses? So streiten seit Jahrtausenden Pedant und Poet.

Wir können keine Wahrheit finden, weil wir nicht nur in der Wirklichkeit der Welt, sondern auch in angehäuften Narrativen leben. Man kann lange darüber streiten, ob der Aberglaube des Fegefeuers 1525 oder die Verwechslung von Fernsehen und Leben schlimmer sei. Die Journalisten sind die Welterklärer und Priester geworden, aber auch sie verbreiten Aberglauben. Der Spott der Denker gegen die selbsternannten Welterklärer dauert schon länger, die sich für absolut haltende Erklärung hat aber in unserer Welt des permanenten Bildes und des Dauerkommentars einen gewissen Höhepunkt erreicht. Schon der Oberscharlatan Scholllatour benötigte neben seiner Kamera eine Formel der Glaubwürdigkeit, seine lautete: ich war da. Er wollte seine staunenden Zuschauer glauben machen, dass seine bloße Anwesenheit Garant der Wahrheit wäre. Dabei weiß jeder, der schon einmal einen Unfall gesehen hat und anschließend als Zeuge befragt wird, dass er nichts gesehen hat. Tatsache und Blickwinkel klaffen meilenweit auseinander.

Genau so tief ist der Riss zwischen dem Individualismus, der durch den Wohlstand und die Demokratie ermöglicht wurde, und dem Auftreten des Menschen in immer größeren Massen. Wir behaupten unser ganz persönliches Recht auf Konsum und Wahrheit, bestellen aber in Wahrheit alle den Temu- oder Amazonplunder. Zur Abwechslung verbringen wir ganze Tage in Malls oder Einkaufszentren, die wir aber Center nennen. Wir kaufen in Läden, die es weltweit gibt und beklagen die Schließung des Bäckers um die Ecke.

Auch Diktatoren, die Komplementärschäden der Demokratie, berufen sich darauf, dass sie deshalb rechthaben, weil sie ihr Bestes geben. Schuld an allen Problemen sind also die anderen, vorwiegend das Ausland oder eine bestimmte auswärtige Gruppe. Die Grenze zwischen Demokratie und Diktatur verschwimmt wegen der zunehmenden Komplexität der Welt. Scharlatane hat es schon immer gegeben, der Begriff stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert, aber durch die geschickte Vermischung von Charisma und Inkompetenz können sich auch in Demokratien Scharlatane lange Zeit halten. Sie behaupten, das Gegenteil von korrupt zu sein, während in der Diktatur Korruption als Wesensmerkmal der Politik hingenommen wird: ein Mensch mit übermenschlichen Fähigkeiten und quasigöttlicher Kompetenz darf auch in außerirdischem Luxus leben. Darüber vergessen die Diktatoren, dass sie sterblich sind.

Statt uns also für immer richtig zu halten und die Schuld nach außen zu verschieben: es gäbe ‚kein richtiges Leben im falschen‘, sollten wir lieber auf die Barockdichter hören oder auf den allweisen König Salomo oder auf wen auch immer, und an unsere Endlichkeit denken. Wir sind zeitweise hineingeworfen in Geschichten und Verhältnisse und schwimmen im Meer der Zweifel. Jeder ist seines Glückes Müllmann, ist leicht gesagt, aber schwer zu glauben. Die Welt ist nicht dein Freund? Und trotzdem müssen wir jeden Tag hinaus oder wir glauben es zumindest. Kaum einer hält es nur mit sich allein aus. Zum Schluss schreiben wir verzweifelte Briefe und sehen wie Ralf Stegner aus.    

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HOFFNUNG IN WODDOW

THE WORLD IS NOT THY FRIEND NOR THE WORLD’S LAW.[1]

GLAUBE, HOFFNUNG, LIEBE DIESE DREI, ABER DIE LIEBE IST DIE GRÖSSTE UNTER IHNEN.[2]

Hoffnung richtet sich auf die Zukunft. Liebe mag größer, Glaube mag tiefer sein, aber Hoffnung ist immer und überall. Wer atmen will, muss hoffen, wer leben will, hat n MB Hoffnung im Backpack. Niemand würde morgens aufstehen ohne die Hoffnung auf einen schönen Tag, den wir uns deswegen fortwährend wünschen. ICH HOFFE, DASS ES DIR GUT GEHT. HABE EINEN SCHÖNEN TAG.   Wie Glaube und Liebe kann auch Hoffnung trügen. Als die A 20 projektiert wurde, versprachen philosophische und ökonomische Scharlatane den schnellen wirtschaftlichen Aufschwung Vorpommerns, der Uckermark und Mecklenburgs. Stattdessen fiel die Autobahn erst einmal ins Moor[3]. Wir können nicht in die Zukunft sehen, deshalb brauchen wir Hoffnung, bei aller Liebe und trotz des möglicherweise festen Glaubens.

Ein anderes Tripel ist die berühmte Hegelsche Abstraktion der Abstraktionen von Religion, Philosophie und Kunst[4]. Hätte der gute Hegel, dessen heutige Nachbarin die GROSSE UCKERMÄRKERIN[5] ist, nicht auch daraus wieder eine Hierarchie gemacht, sondern ein Netz, könnten wir gut damit leben. Man kann noch nicht einmal herausfinden, welche der drei Weltsichten zuerst da war: sind sie doch alle drei aus einem Ei entsprungen. Am Anfang, sozusagen nach dem ersten Hunger, war der Schamane, noch nicht mit dem Wort, sondern mit der Tat, mit der Abstraktion. Er heilte und ermutigte, er lehrte das Vordenken und leitete das Nachdenken. Die Betrachtung des Höhlenherzens war der Beginn der Menschlichkeit des frühen Menschen. Aber war es nun Glaube oder war es Liebe oder war es Hoffnung? War es Religion, war es Philosophie als Medizin oder war es Kunst, wie das hölzerne Herz in unserer Kunstkirche hier in Woddow.

Mit der Eisenbahn und dem Automobil kam die Mobilität für das stetig wachsende Volk, die Geschwindigkeit siegte über die Trägheit. Aber es wird oft übersehen, dass durch die Findung des Gutenbergschen Buchdrucks und des Edisonschen Phonographen die Reproduzierbarkeit der Kunst in demselben Maße zugenommen hat wie die Geschwindigkeit der Mobilität. Während es über die vielen Jahrhunderte der Existenz dieser Dorfkirche sozusagen nur eine Kunst und Religion für den Sonntag gab und die Philosophie durch den Mund des Dorfschullehrers sogar meist schwieg, tritt nun neben die Mobilität die Nobilität, der allgemeinmenschliche Adel, die Veredelung des Menschen durch die Allgegenwart und Omnipotenz der Kunst. Wir leben nur noch mit einem Fuß in der schwebeleicht gewordenen Wirklichkeit, das zweite Standbein steht im Nebel der Fiktion, im Würgegriff des Narrativs. Wir leben gleichzeitig in beiden Welten, im Tag und im Traum. Es gab Epen, Sagen und Märchen, Musik und Höhlenmalerei schon immer, aber sie waren nicht allgegenwärtig, sie waren nur Beiwerk, Attribut, Zugabe, während der christlichen Periode auf den Sonntag beschränkt.

Gift und Geld sind zwei schnelle Lösungen für hoffnungslose Situationen. Ein junger Mann will seine Geliebte und sich umbringen – ihm fehlt das Gift. Einem Apotheker fehlt das Geld, aber stattdessen hat er reichlich Zweifel und Skrupel. Romeo, der resignierte junge Mann, sagt in seiner forschen Jugendlichkeit: die Welt ist nicht dein Freund. Freud hat es 1930 weniger allgemein beschrieben: das Leben ist zu schwer ohne Schlaf und Traum und Betäubung[6]. Wo die Hoffnung fehlt, regiert das Gift.

Einerseits bemächtigen sich fast alle Ideologien, Philosophien und Religionen der Hoffnung als eines willfährigen Instruments, andererseits wird sie als vermeintliche Weichspülung verächtlich gemacht. Wer an das Recht des Stärkeren glaubt, braucht keine Hoffnung, denn er glaubt sich schon als Gewinner. Wer sich als Verlierer sieht, braucht meist auch keine Hoffnung, denn er sieht sich schon verloren. Hoffnung ist das Salz in der Suppe. 

Wohl die meisten Bewohner des Anthropozäns setzen auf die schnelle Hoffnung, auf Technik und Geld, auf die Geschwindigkeit der Gedanken und Gestalten und glauben an die Macht der Raserei. Aber es gibt auch die Fraktion der Langsamkeit. Sie setzt auf Heimat und Glaube und glaubt, dass Heimat nicht vergeht und Liebe ewig fortbesteht. Letztlich geht es immer auf die uralte Fehde zwischen Freiheit und Ordnung zurück. Wir erfinden eine Technik nach der anderen, das Rad und den Roboter, um uns die Arbeit zu erleichtern und beschleunigen. Andererseits hängen wir an der inneren und äußeren Heimat, an der Muttersprache wie am Vaterland. So sagen manche: Geh dahin, wo du hingehörst. Sie wollen die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht gestatten und hoffen selber auf den Bestand, darauf, dass sich alles gleichbleibt.

Selbst im Sprichwort wird die Hoffnung diskreditiert: hoffen und harren / hält manchen zum Narren. Da ist sie wieder: die Zweiteilung, die Dichotomie, damit die einen gut und richtig sein können, müssen die anderen zu Narren erklärt werden. Wer auf Emanzipation hoffte, war ein Narr wider die Ordnung. Darüber wurde das gesamte neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert zur Epoche der Emanzipation der Frauen, der Kinder, der Afrikaner, der Mühseligen und Beladenen, der Kranken, all jener, die anders sind. Es sollte und wird kein Anders mehr geben, nichts anderes heißt ja ALLE MENSCHEN WERDEN BRÜDER[7], wie der Schwesternfreund nicht nur wegen des Reims und wegen des Rhythmus dichtete, nein, auch wegen seiner zeitgemäßen Blindheit.  

‚Vielleicht liegt die Wurzel unserer Misere, der menschlichen Misere, darin, dass wir die ganze Schönheit unseres Lebens opfern, uns von Totems, Tabus, Kreuzen, Blutopfern, Kirchtürmen, Moscheen, Rassen, Armeen, Flaggen und Nationen einsperren lassen, um die Tatsache des Todes zu leugnen, die einzige Tatsache, die wir haben.‘[8] Vielleicht wird alles besser, wenn wir die Hoffnung als Tatsache zulassen und nicht mehr als Narretei abtun.

Ziel der Hoffnung ist das Ende jeder Dichotomie, wenn wir das Sowohlalsauch nicht mehr als Beliebigkeit oder Synkretismus oder als cancel culture verstehen, sondern als Chance, als Synthese, als Komposition, als Kreation unseres widersprüchlichen Selbst. Ziel der Hoffnung ist es, dass auf unserm Klavier keine Reihe von Tasten als unberührbar gilt.[9]  Ziel der Hoffnung ist es, dass die Hoffnung nicht aufhört.  


[1] William Shakespeare, Romeo und Julia, 51

[2] Erster Brief des Paulus an die Korinther, 1313

[3] 2017 bei Tribsees, Kosten der Reparatur 180.000.000 €

[4] G.W.F. Hegel, Ästhetik, Ost-Berlin 1984, Bd. 1, S. 108ff.

[5] Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel in der Straße Am Kupfergraben

[6] Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1984, S. 73

[7] Friedrich von Schiller, Ode an die Freude, Werke, Cotta 1869, Bd. 1, S.  53

[8] James Baldwin, Nach der Flut das Feuer, dtv München 2018, S.100

[9] Albert Schweitzer, Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, Ostberlin 1963, S. 59

ANTIKRIEG IN WODDOW

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht.[1]

Carl von Clausewitz schrieb einst in seinem berühmten und philosophischen Buch, dass im Krieg keine Absicht so verwirklicht wird, wie sie gedacht war. Die Absicht wird von den Friktionen unseres Tuns aufgefressen.

„So wenig man imstande ist, im Wasser die natürlichste und einfachste Bewegung, das bloße Gehen, mit Leichtigkeit und Präzision zu tun, so wenig kann man im Kriege mit gewöhnlichen Kräften auch nur die Linie des Mittelmäßigen halten.“[2]

Viele Jahre lang saß gegenüber dieser vom Krieg geschändeten Kirche ein alter Mann auf einem weißen Plastikstuhl. Und er erzählte seine Geschichte:

Als im April 1945 die Großen des Reiches und des Dorfes sich schon auf den Weg weg von der Verantwortung machten, erließ der Reichsverteidigungskommissar Goebbels die Verordnung zur Verpflichtung der alten Männer und der sogenannten Hitlerjugend in die letzte Schlacht. Den Brief der Kreisleitung Prenzlau der Hitlerjugend in der Hand befahl der Vater des Mannes, der damals ein vierzehnjähriger Junge war, die Sachen zu packen, den Handwagen zu holen, und er nahm ihn an die Hand und floh mit ihm in Richtung Westen, weg von der nahenden Front. ‚Mein Vater‘, sagte der alte Mann, ‚hat mir so das Leben gerettet, denn alle, die hier noch mitgemacht haben, sind umgekommen, verdorben und gestorben.‘

„…denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.“[3]

Die Schlacht um Berlin, in deren Verlauf auch die Kirche in Woddow zernichtet wurde, begann am 16. April 1945 diesseits der Oder, an ihr nahmen zweieinhalb Millionen sowjetische und eine Million deutsche Soldaten teil, eine gigantische Sinnlosigkeit, denn der Krieg war längst verloren. Die Parallele zu heute – am 30. Juli 2023 –  ist unübersehbar, nur merkwürdigerweise streiten wir heute, die wir gar nicht beteiligt sind, darum, wer verlieren wird. Ich glaube, dass schon immer in der Geschichte das Böse nicht gewinnen kann und auch letztlich nicht gewinnt. Wenn das Böse die Summe aller falschen Entscheidungen ist, dann zeigt sich das auch in jedem Krieg, denn jeder Krieg ist falsch. Das ist keine Ermutigung des Angreifers, sondern allenfalls des Verteidigers.

So war es auch 1945 in Woddow. Stalin hatte kurzfristig entschieden, die 2. Belorussische Front unter Marschall Rokossowski im Eilmarsch an die Elbe zu schicken und nicht an der Schlacht um Berlin teilnehmen zu lassen, die von da ab von den Marschällen Shukow (1. Belorussische Front) und Konjew (2. Ukrainische Front) allein geführt wurde. Die deutsche Seite ließ dagegen, offensichtlich in Unkenntnis der veränderten Lage, von den alten Männern und den Hitlerjungen Stellungen bauen, vielleicht so ähnliche wie in den Gemälden vom BRUCHWALD an der Westwand der Kirche zu sehen sind. Diese Stellungen, teils Sperren, teils Gräben, wurden von Panzerarmeen Rokossowskis einfach überrollt. Wo sich Wehrmachts- oder SS-Soldaten etwa in den Kirchtürmen positioniert hatten und widersinnigen Widerstand leisteten, wurden sie samt dem Kirchturm hinweggeblasen, um erneut einen biblischen Ausdruck zu zitieren. Das war am 27. April[4]. In der Nacht davor hatte die dritte deutsche Panzerarmee unter General von Manteuffel mangels Materials und Muts und Möglichkeiten den Kampf aufgegeben. Die angestaute Randow und die hilflosen Gräben wurden in schönster NAZI-Überheblichkeit WOTANSTELLUNG genannt. Sie sind sang- und klanglos untergegangen. Die Menschen flohen oder starben. Der Kirchturm war zerstört. Die Kirche stand in Flammen. Die Panzer wälzten sich und ihre tödliche Last weiter durch das Land, aber bereits am 25. April waren die sowjetischen Sieger auf ihre amerikanischen Verbündeten in Torgau an der Elbe getroffen.

Karin Christiansen, o.T.

Das Gemälde von Karin Christiansen zeigt einen menschlichen Reflex und Überlebensversuch: eine Mutter mit mehreren Töchtern, die zu Puppen erstarrt sind, schläft in einem Nest aus Möbeln und Müll. Sie liegen zusammengerollt und imitieren Geborgenheit. Denn eine wirkliche Geborgenheit, das Nest, die Wärme, den Schutz, kann es im kalten, leeren Raum nicht geben. Die Trümmer, Ruinen und Reste zeigen vielmehr, wo das vermeintliche Nest sich befindet. Es ist irgendwo im Krieg, in jedem Krieg. Im Krieg zerbersten die Zitadellen, stürzen die Kirchtürme und verlieren sich die Menschen im leeren Raum. In jedem Krieg sind die Kinder die bedauernswertesten Opfer: durch Ostpreußen huschten die verhungerten und verwaisten Wolfskinder, in Afrika – so einige Bilder von Christiansen – werden Kinder als billige und willige Soldaten missbraucht. Aber waren nicht auch die Hitlerjungen missbrauchte Kindersoldaten? Putin lässt ukrainische Kinder stehlen, um der russischen demografischen Katastrophe aufzuhelfen. Selbst dieses grausige Detail hat er Hitler und Himmler abgeschaut.

Als wir Kinder waren, wurden nach den Nachrichten im Radio Meldungen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes verlesen:

GESUCHT WIRD ERIKA, BLONDES HAAR, BLAUE AUGEN, DAMALS SIEBEN JAHRE ALT,

ZULETZT GESEHEN IN TAUROGGEN

Heute finden wir in den Suchmaschinen des Riesenkraken Google alles. Aber alles ist unwichtiger als die damals verloren gegangene Erika, die vielleicht ihre letzte Nacht in imitierter Geborgenheit in diesem Nest mit ihrer Mutter, ihren Schwestern und ihren Puppen verbracht hatte, das dann später, in besserer Zeit, von Karin Christiansen gemalt wurde. Und wie schon das berühmte Sonett von Andreas Gryphius aus dem dreißigjährigen Krieg oder das nicht weniger berühmte Gedicht `S IST KRIEG UND ICH BEGEHRE NICHT SCHULD DARAN ZU SEIN von Matthias Claudius oder wie das noch berühmtere Picassobild vom zerstörten Guernica, so will uns auch diese Sammlung von Bildern und Installationen sagen, was wir tun können: Menschen helfen, Kriegsrhetorik ächten, die richtige Partei wählen oder jedenfalls nicht die falsche, glauben, dass das Böse nicht siegen kann, hoffen, dass immer letztlich das Gute sich durchsetzt, die Menschen auch dann noch lieben, wenn sie offensichtlich irren[5].