Die Prenzlauer AfD wirbt auf ihren Plakaten unter anderen mit dem Slogan ‚Sicherheit statt Multikulti‘. Das ist ganz sicher eine Anspielung auf die alte und damals sehr wirkungsvolle Parole ‚Freiheit statt Sozialismus‘. Damals verstand jeder den Bruch der Kategorien, denn in dem einen wählbaren System stand die Freiheit laut Verfassung und in der Tat im Vordergrund, auf der anderen Seite – nicht nur des Eisernen Vorhangs – konnte man der menschenfreundlichen Utopie nachjagen, deren menschenfeindliches Erscheinungsbild allerdings offen lag.
Heute nun ist es wenig sinnvoll, zwei grundverschiedene Aspekte miteinander in Beziehung zu setzen. Unter Multikulturalität, im Volksmund multikulti genannt, versteht man das Nebeneinander verschiedener kultureller Herkünfte. Man kann die Kultur seiner Herkunft niemals 1:1 weiterleben. Eine Moschee in Berlin, etwa in einem Hinterhof im fünften Stock in einem Geschäftshaus im Berliner Wedding, ist nicht wie eine Moschee in Istanbul, umgekehrt kann man das Schattendasein einer Kirche in Istanbul nicht mit dem Kölner Dom oder der Kirche Santa Maria Novella in Florenz vergleichen, zumal sich die beiden letzteren jeweils neben einem Bahnhof befinden. Ein fünfzehnjähriger Katholik in Prenzlau, der mit seiner Mutter fröhlich zum Familiengottesdienst geht, hat eine andere Kultur als ein fünfundneunzigjähriger Kardinal in Rom, der gegen den Papst intrigiert. Aber selbst ein Land, das, wie die AfD vorschlägt, über tausend Jahre keine Einwanderung zulässt, kann seine Kultur nicht konservieren. Wir denken hier an die Mongolei, einst ein Groß- und Weltreich, nun ein viermal so großes Land wie Deutschland mit so viel Einwohnern wie Hohen Neuendorf. Im Gegenteil: wer starr auf seiner Kultur besteht, sie rein von jedem äußeren Einfluss halten will, dem entgleitet sie aus den Händen, auch dafür ein tausendjähriges Beispiel ist die katholische Kirche. Also: multikulti ist ein Attribut einer weltoffenen Gesellschaft, Sicherheit dagegen eine Eigenschaft staatlicher Ordnung.
Unter Sicherheit verstehen wir vor allem die Sicherheit für den Menschen, für sein Leben und seine Unversehrtheit. In Deutschland haben wir eine Tötungsrate von 0,8, das heißt 0,8 Menschen werden pro Jahr, bezogen auf 100.000 Einwohner getötet. Statistisch gesprochen wird in der Uckermark also kein Mensch pro Jahr getötet. In Russland beispielsweise, einem seit zwanzig Jahren mit straffer Hand geführten Land (um es freundlich auszudrücken), liegt die Tötungsrate mit 6,8 fast zehnmal so hoch. In Brasilien, einem Land mit langjähriger rechtspopulistischer autokratischer, jetzt aber linkspopulistischer autokratischer Regierung, liegt sie mit 21,3 im Mittelfeld, denn es gibt Länder mit weit höheren Werten. In absoluten Zahlen kommt Brasilien aber auf knapp 50.000 getötete Menschen pro Jahr, die Hälfte der Uckermarkbevölkerung.
Welche Sicherheit verspricht uns also die AfD? Sollte sie ein Land meinen, in dem es keine Verbrechen, keine Unregelmäßigkeiten gibt, so ist sie gut beraten, bei sich selbst anzufangen. Hannes Gnauck zum Beispiel ist ein Bundeswehrangehöriger, der vom MAD verfolgt wird und dem es verboten ist, eine Kaserne zu betreten und Uniform zu tragen. In einer Diskussion vor wenigen Tagen war er zu feige, sein Vergehen zu benennen, das angeblich, nach seiner Meinung, geringfügig sei. Besser wäre es doch gewesen, uns zu sagen, worum es sich handelt. Stattdessen zieht er die Militärstaatsanwaltschaft, den Inbegriff staatlicher Ordnung und Sicherheit, in Zweifel. Gegen die Spitzenkandidaten für die Europawahl, Krah und Bystron, wird wegen Vorteilsnahme und Spionage ermittelt. Der Parteivorstand grinst etwas von Unschuldsvermutung. Das ist richtig, nur die beiden wollen nicht Malermeister werden, sondern Abgeordnete im Europaparlament. Sie wollen eine Partei vertreten, die Sicherheit verspricht, aber von ihren rechtspopulistischen Kolleginnen und Kollegen gemieden wird.
Warum wirbt die AfD, statt mit recycelten Losungen der Altparteien, nicht mit dem, wofür sie wirklich steht: Nationalismus, Autokratie, Segregation. Dann wüssten wir, woran wir sind und wo wir unsere Kreuze nicht machen sollten.
Über Joachim Wohlgemuths Roman ‚Egon und das achte Weltwunder‘ und Anthony Burgess‘ Roman ‚A Clockwork Orange‘
Im Wikipedia-Artikel über die kleine Kreisstadt Prenzlau steht bei den berühmten Menschen ein DDR-Schriftsteller namens Joachim Wohlgemuth. Er schrieb, neben vielen anderen, noch unbekannteren Büchern einen Roman[1] über einen Jungen, der durch ein sozialistisches Jugendprojekt, das vorher schon die Hitlerjugend verfolgt hatte, geläutert wird. In einem weit gefassten Sinne handelt es sich um eine Konditionierung eines bis dahin nicht ganz angepassten Jugendlichen. Eine Schlägerei ohne ersichtlichen Grund brachte ihn für ein halbes Jahr ins Gefängnis. Der Roman beginnt an dem Tag, an dem er aus dem Gefängnis kommt und seinen Freunden, die er nun – erster Schritt der Besserung – für falsch hält, aus dem Weg gehen will. Das gelingt jedoch nicht, er lernt aber beim nächsten Abend mit viel Alkohol ein hübsches, etwas sarkastisches Mädchen kennen, das – zweiter Schritt der Besserung – die Tochter des Kreisarztes ist. Prenzlau wird im Buch durch die riesige Marienkirche gekennzeichnet, im Film erkennt man als Wohnung des Kreisarztes und seiner Tochter deutich die heute noch stehende und soeben frisch restaurierte Villa in der Grabowstraße.
Beide Protagonisten gehen zusammen in dieses Jugendprojekt der Großen Friedländer Wiese, die schon seit fast zweihundert Jahren – zuletzt von der HJ – trockengelegt werden soll. Dort nun beginnt ihre Liebe, aber der eigentliche dritte Schritt der Besserung und Anpassung kommt durch die FDJ, den Prenzlauer Jugendklubleiter und den Lagerleiter, der gleichzeitig herzkrank und herzensgut ist. Die Liebe wird im Buch zwar etwas langatmig, aber auch anrührend geschildert, im Film kommt sie als prüder und müder Akt daher. Das alles wird gar nicht unflott erzählt, aber immer wieder künstlich verlängert durch kleine hausbackene innere Monologe, deren Kohärenz sich oft nicht erschließt. Dazu gehört auch ein überlanger Brief einer Figur, die in der Handlung gar nicht vorkommt: die Exfreundin des Klubhausleiters. Überhaupt ist Komposition oder Konstruktion einer Geschichte wohl nicht das besondere Talent Wohlgemuths gewesen. Dagegen ist der Text an vielen Stellen witzig oder wenigstens fröhlich. Es gibt auch eine winzige zweite Ebene der Kritik an den Verhältnissen, so etwa, wenn der Jugendklubleiter, der Philosophie studiert hat, sich wundert, dass niemand in seinen Jugendklub kommen will. Erst der Protagonist Egon klärt ihn im Arbeitslager auf, dass am Jugendklub ein Schild angebracht ist: FÜR NIETEN IN NIETHOSEN VERBOTEN. Mit Niethosen waren Jeans gemeint, gegen die die DDR-Führung einen ebenso ausschweifenden wie aussichtslosen Kampf führte, den sie auch noch verlor. Zur kritischen Ebene, die aber marginal bleibt, gehört auch die Sichtbarmachung der Parallelität von HJ und FDJ, die sonst in der Literatur und im Leben der DDR tabu war. Der Protagonist hat einen Gegenspieler, der eine zeitlang im Westen gelebt hat, aber enttäuscht zurückkam und nun versucht, eine winzige Subkultur zu installieren. So redet man sich gegenseitig mit boy an, aber das ist das einzige englische Wort. Und man hat eine Band, in der auf Flaschen und Kämmen gespielt wird. In der Verfilmung von Christian Steinke klingt das aber gar nicht schlecht.
Der Wikipedia-Artikel über Wohlgemuth klärt uns darüber auf, warum möglicherweise die Zensur dem sonst eher erfolglosen Autor dies durchgehen ließ: statt literarisch zu glänzen, machte er sich einen Namen als Funktionär des Literaturbetriebs und als Stasi-Zuträger. Der Neubrandenburger Schriftstellerverband war unter seiner Führung durch und durch verwanzt und von gegenseitiger Denunziation verseucht. Niemand weinte ihm eine Träne nach, sein Grab in Neubrandenburg-Carlshöhe wurde eingeebnet. Das Buch wurde in der DDR eine halbe Million Mal, also nicht schlecht, verkauft. Das achte Weltwunder war übrigens nicht das Mädchen selbst, sondern wäre ihre Verliebtheit, wenn sie sich denn bis dahin schon einmal verliebt hätte. Auch Wohlgemuths zweites Jugendbuch hatte einen schönen, aber verschenkten Titel Das Puppenheim in Pinnow. Aber warum erinnern wir uns seiner?
Im selben Jahr, 1962, erschien ein später weltberühmtes Buch[2] in London. Es wurde durch die hyperexpressionistische und exzentrische Bildsprache der Verfilmung durch einen Großmeister, Stanley Kubrick, zu einem Klassiker der Weltliteratur, zu einem der besten britischen Romane. Auch dieses Buch handelt von einem nichtangepassten Jungen und Anführer einer Gang, der durch zwei Morde und durch weitere ultrabrutale Verbrechen ins Gefängnis gerät, und dort neu konditioniert wird. Aber warum ist dieses Buch so stark, das andere dagegen schwach und vergessen?
Dieses Buch ist eine Dystopie, eine Parabel, aber auch eine krasse Satire. Etwa zu gleichen Zeit als diese beiden Büchern erschienen, schrieb der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz von der Verhausschweinung des Menschen. Damit ist nun keineswegs eine Verdreckung oder Verrohung im Sinne des Pejorativs gemeint, sondern die Selbstdomestizierung des Menschen. In den Jahrzehnten der Höhepunkte der Mechanik, der Ingenieurskunst, an der Schwelle zum elektronischen Jahrhundert – oder Jahrtausend -, kurz: im Anthropozän, glaubten und glauben viele Menschen an die Umgestaltungsmöglichkeit unserer Psyche. Psychopharmaka und Drogen, die auch in der Milchbar des ‚clockwork orange‘ eine Rolle spielen, können uns in den oder aus dem Wahnsinn treiben. Durch den zweiten Weltkrieg ist zudem die Fähigkeit von uns Menschen, Verbrechen gegen uns Menschen in bis dahin unerhörtem Ausmaß zu begehen, sozusagen unter Beweis gestellt worden. Viele Millionen Menschen starben durch deutsche, sowjetische, japanische und chinesische Schuld, angekündigt durch deutsche, türkische, belgische, britische und französische Genozide und Kolonialverbrechen. Seitdem schien alles möglich, und im Westen wie im Osten hatte man Angst vor einer verrohten und verrotteten und verbrecherischen Jugend.
Der erste Teil des Buches zeigt eine sich steigernde Terrorisierung eines nicht benannten Stadtteils von London oder Manchester. Die Angst vor Terror, das Rufen nach dem starken Staat dominierte die Politik. Sobald aber Politiker die Grenze zum Autoritarismus überschreiten, werden sie vom Publikum, vom Verfassungsgericht oder von der Geschichte zurückgepfiffen. In unserer Story trifft es den ‚Minister des Innern, des Hintern, des Untern‘. Das Buch ist eine Dystopie, aber die satirischen Überzeichnungen machen sie nicht nur lesbarer, sondern den Schrecken auch erträglicher.
Im zweiten Teil erleben wir zunächst ein ganz normales Gefängnis. Der Protagonist Alex erweist sich als Oberopportunist und wird Gehilfe des Gefängnispfarrers. Aber dann kommt es zu einem weiteren Mord in der überbelegten Zelle. Nun bekommt Alex freiwillig das neue Konditionierungsprogramm: mit Elektroschocks und Ekelpharmaka wird ihm die Lust an der Ultrabrutale genommen. Ethische Bedenken gibt es nur vom stets betrunkenen Gefängnispfarrer.
Der dritte Teil lässt den Protagonisten das Programm seiner eigenen Gewaltspirale zurücklaufen. Als er schließlich bei dem Schriftsteller landet, dessen Frau an den Folgen von Alex‘ Gewalt starb, kehrt diese sich endgültig gegen ihn selbst um: die mit dem Schriftsteller verbundenen politischen Aktivisten wollen Alex durch ultrabrutal laute klassische Musik zum Selbstmord bringen, um damit die Regierung stürzen zu können.
Hier haben wir zwei der Besonderheiten, die den Roman so wirkungsvoll gemacht haben: die Liebe des Alex zu Beethoven und überhaupt zur klassischen Musik, die er mit Anthony Burgess und Stanley Kubrick teilt, und die besondere Jugendsprache. Burgess nimmt nicht einfach ein eher beliebiges ‚feindliches‘ Wort, sondern er konstruiert einen Soziolekt aus russischen Wörtern, den er Nadsat nennt, der dann aber gar nichts mehr mit den Russen zu tun hat, sondern eher wie eine Vorwegnahme der Rappersprache oder Nachahmung des Rotwelschen, einer Geheim- und Gruppensprache im 18. Und 19. Jahrhundert ist. Die schönsten eigenständigen und neuen Wörter sind horrorshow für хорошо[3] = gut und Gulliver für голова[4] = Kopf. Obwohl die Sprache eigens für diesen Roman konstruiert wurde, gibt sie ihm ein Höchstmaß an Authentizität. Allein durch diese Sprachkonstruktion, auf die Burgess während einer Reise nach Leningrad (Sankt Petersburg) kam, wird der Leser nicht nur in den Bann, sondern auf die Seite von Alex gezogen. Das ist besonders im dritten Teil wichtig, wenn wir Alex zum ersten Mal als Opfer sehen sollen. Und schließlich sollen wir das in den USA zunächst nicht gedruckte letzte Kapitel nicht als Moralkitsch – im Sinne des letzten Kapitels von Tolstois Auferstehung -, sondern als Möglichkeit lesen.
Schließlich ist A Clockwork Orange schon vom Titel her eine Parabel, welche die verschiedenen Möglichkeiten des Menschen zwischen Gut und Böse als fiktive Handlung erzählt, die gleichzeitig Satire und Tatsachenbericht zu sein scheint. Alex verliert durch das ultrabrutale Konditionierungsprogramm nicht nur die Lust zur Gewalt, sondern auch die Fähigkeit zum Genuss der Musik. Wenn Burgess selbst zunächst glaubte, das Buch sei zu didaktisch, so denken wir es heute eher als hochaktuelle Parabel mit sehr verschiedenen Deutungsmöglichkeiten und Figuren, die alle widersprüchlich, und das heißt realistisch, angelegt sind. Obwohl der fiktive Ort nicht erkennbar ist, erkennen wir die typischen Hochhaussiedlungen der suburbs und banlieus in Ost und West mit ihren fast identischen Wohnungen (zum Beispiel WBS70), dem Dauerfernsehen, den Arbeitssklaven, den austauschbaren Söhnen und Töchtern und Eltern (M & P). Inzwischen sind wir alle aber nicht nur Orangen in mechanischen Uhrwerken, sondern in elektronischen Zerkleinerungs- und Zermürbungsmaschinen.
[1] Joachim Wohlgemuth, Egon und das achte Weltwunder, Verlag Neues Leben, Ostberlin 1962
[2] Anthony Burgess, A clockwork orange, London 1962
das ist ein böses Erwachen für mich: ich habe das als sarkastischen Witz gemeint, dass der liebe Gott jetzt die Bösen holt, weder gibt es einen lieben Gott, noch straft er die Bösen und schon gar nicht belohnt er die Guten.
Der Unterschied ist die Demokratie, die Möglichkeit zu wählen und seine Meinung zu sagen. Du darfst für Russland sein und demonstrieren, du darfst die Hamas bejubeln, im Moment darfst du öffentlich nicht den bösen Spruch aufsagen from the river to the sea – palestine will be free. Wir unterstützen nicht den Krieg, wie du schreibst, sondern wir unterstützen Israel. Alle Kriege (bis auf den Sechs-Tage-Krieg 1967[1]) sind von der jeweiligen Palästinenserorganisation (jetzt Hamas, früher PLO) mit Unterstützung der Nachbarstaaten begonnen und geführt worden. Seit der norwegischen und deutschen diplomatischen Initiative Ende der neunziger Jahre sind wir für die Zweistaatenlösung, obwohl die Gründung Israels schon eine Zweistaatenlösung war: Israel und Jordanien. Die sogenannte Nakba (= Katastrophe, Unglück, Vertreibung der arabischen Bevölkerung) begann im großen Umfang am Tag nach der Gründung Israels (14. Mai 1948) mit dem Angriff der arabischen Nachbarn auf den soeben gegründeten Staat. Die Gründung Israels hat zwar den Makel der türkischen, französischen und dann britischen Kolonie, beruht aber auf einem UNO-Beschluss, der nicht nur durch die ehemaligen Kolonialmächte, sondern auch durch die UdSSR, die Ukraine und Belarus (die damals noch einzeln Mitglied waren!), den Ostblock, eine klare Mehrheit, es gab aber auch Gegner, wie zum Beispiel die Türkei, die arabischen Länder (soweit sie schon existierten), und Enthaltungen wie Äthiopien, wo selbst auch Juden lebten. Auch die jetzige furchtbare Auseinandersetzung wurde von der Hamas mit einem Überraschungsschlag und mit Geiselnahmen begonnen. Wir unterstützen das wiederum angegriffene Israel mit Waffen, aber die palästinensische Bevölkerung humanitär (Lebensmittel, medizinisch, Fluchtbewegungen). Jeder westliche Besucher, die sich die Klinke in die Hand geben, hat immer einen 100-Millionen-Dollar-Scheck in der Tasche. Die Amerikaner haben einen transportablen Hafen (Pier) gebaut, wir werfen Lebensmittel von Bundeswehrmaschinen ab. Die Solidarität der arabischen Nachbarn beschränkt sich auf Geschrei.
Der Vorwurf des Völkermords, der seit 1948 auf allen propalästinensischen Demonstrationen laut wird, trifft selbstverständlich nicht zu. Es gab und gibt keinen Plan wie im Falle des Genozids an den Herrero durch die deutsche Kolonialmacht, des Genozids an den Armeniern durch das osmanische Reich und die jungtürkischen Generäle, oder wie der Genozid an der europäischen jüdischen Bevölkerung, wie er auf der wannsee-konferenz beschlossen und dann durchgezogen wurde.
Ich habe dir doch erzählt, dass ich durch einen kleinen ukrainischen Jungen auf den erschossenen jiddischen Dichter Pinchas Kaganowitsch (DER NISTER) gekommen bin. Als ich seinen 1000-Seiten-Roman gelesen hatte, ist mir zum ersten mal klar geworden, dass sich die so genannten Ostjuden, die von Deutschland aus im Osten, vor allem in Polen, Belarus, der Ukraine und Russland gelebt haben, in einem doppelten Dilemma befanden: die Zionisten wollten nach Israel, das eine britische Kolonie war, nicht ein arabisches Land, ‚heimkehren‘ (das schreibe ich in Anführungszeichen, weil man nicht erwarten kann, dass man nach knapp 2000 Jahren auf dasselbe Land trifft), die Jiddischisten (dieser Begriff ist nicht so geläufig, es waren diejenigen, die sich hier in Osteuropa als Kulturnation organisieren, etablieren und proklamieren wollten) setzten auf die emanzipierte Teilnahme am europäischen Leben. Ein Teil von ihnen ging über Deutschland und Österreich nach Amerika, der größere Teil wurde im Holocaust ermordet. Beides erwies sich als nicht ausführbar. Das ist der Grund, warum wir Israel helfen.
Die Annahme, dass es eine Formel gäbe, nach der man die Schuldigen leicht erkennen könnte, ist falsch. Die Gründer des Staates Israel hatten nicht vor, die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben oder gar zu ermorden. Allerdings waren sie wehrhaft. Wir wissen nicht, wer die Pipelines Nordstream I und II zerstört hat. Nimmt man die linke Formel (cui bono – wem nützt es), so zeigen sich mindestens fünf Nutznießer: die USA (tatsächlich!), Russland, die Ukraine, Polen und nicht zuletzt Deutschland.
Ich erkläre die einfache Tatsache, dass man nicht alles erklären immer gern mit dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933. Die kommunistische Erklärung (‚Braunbuch‘) war, dass die Nazis den Reichstag selbst angezündet haben, um die Kommunisten verfolgen zu können, die Nazis dagegen wiesen in einem Schauprozess nach, dass die Kommunisten den Reichstag angezündet haben, weil sie ein Signal gegen die Machtübernahme setzen oder sogar den Aufstand auslösen wollten. Die Archive sind seit langem offen, jedes Jahr erscheint mindestens ein Buch, aber wir wissen nicht, wer den Reichstag angezündet hat.
Die einfache Tatsache, dass man nicht alles erklären kann, kann man nur so erklären, dass es nichts gibt, das nur einen Grund hätte. Alles hat tausend Gründe und jeder Grund hat tausend Folgen. Spinoza schreibt: Jedes Ding kann zufällig (gelegentlich, durch einen Nebenumstand) Ursache der Hoffnung oder der Furcht sein[2].
Die Ukraine ist einerseits der Ort des allrussischen Gründungsmythos: der Kiewer Rus, daher kommt auch der Name, dann aber war sie immer Bestandteil anderer Imperien: Großfürstentum Moskau, Mongolisches Reich, Polen-Litauen (das damals ein Großreich war), von Katharina II. (gebürtige Zerbst-Anhaltinische Prinzessin aus Stettin), die eine große Imperialistin war (wie Iwan IV. und Putin der Schreckliche[3]), dann ins russische Reich integriert. Russland ist unter den folgenden Zaren, unter Lenin, Stalin und deren Nachfolgern immer ein imperialistisches Land gewesen. Unser Irrtum in Bezug auf Putin war, dass wir etwa von 2000-2010 an eine wenigstens teildemokratische Wende geglaubt haben (Denken ist immer auch Wunschdenken), so ähnlich wie bei Erdoğan. Der Hauptgrund aber waren die billigen Rohstoffe, besonders Gas und Öl. Schon damals haben wir gewusst, dass der wirtschaftliche Erfolg Russlands (es ist wirtschaftlich so groß wie Spanien oder Texas) fast ausschließlich auf dem Export seiner Fossilien beruht, und wir hätten es moralisch ablehnen müssen, weil die Bevölkerung nicht insgesamt wohlhabender wurde, das ist wieder so ähnlich wie in China. Der damalige Irrtum schließt nicht aus, dass wir heute manches besser machen. Wir unterstützen die Ukraine nicht nur, weil sie angegriffen wurde (wie Israel, Bosnien[4], Kosovo), sondern auch weil sie auf dem Weg in eine Demokratie sein könnte, weil sie – wie du mir selbst erzählt hast – selbstbewusste, moderne Bürger hat, keine Untertanen.
Es gibt Nazis in der Ukraine, wie in Russland, wie in Deutschland, wie in Italien, wie in Frankreich, wie in den USA (da kommen noch die Rassisten dazu). Aber das ist kein Grund, von außen einzugreifen. Wir haben damals die serbische Luftwaffe nicht zerstört, weil es serbische Nationalisten gab, denn es gibt sie immer noch, sondern weil die serbischen Nationalisten Bosnien angegriffen hatten. Erinnerst du dich an das zerbombte Hochhaus in Sarajevo und die vielen Friedhöfe, weiße für die Bosniaken, schwarze für die Serben?
Und ein letztes Wort zur Aufrüstung. Sie ist die Folge der erfreulichen Abrüstung der letzten dreißig Jahre und der berechtigten Angst, dass auch die USA dem Autoritätswahn (das ist die irrige Annahme, dass jemand für komplexe Probleme einfache Lösungen hat, die er demzufolge mit Gewalt nach innen und außen durchsetzen kann) verfallen könnten. Die Spaltung geht nicht wie im Kalten Krieg durch die Welt, sondern jetzt leider durch alle Länder. Ich sehe in Deutschland kein totes, wenn auch kein blühendes Land. Wir haben mehrere Krisen gleichzeitig. Man darf aber nicht übersehen, dass Deutschland und Japan (Nr. 3 und 4, in dieser Reihenfolge) unter den Wirtschaftsgiganten USA, China und Indien (nr.1, 2 und 5) mit 120 und 84 Millionen Einwohnern die kleinsten sind. Das ist das wahre Wirtschaftswunder!
Ultralinke, rechtsextreme und religiöse Fundamentalisten gefallen sich immer in apokalyptischen Szenarien[5], um ihre Anhänger bei böser Laune zu halten. Allein von der rechten Kritik der letzten zehn Jahre ist keine einzige Katastrophe eingetreten: weder ist der Euro zusammengebrochen, noch die EU, in Deutschland hat kein Bürgerkrieg begonnen, die Kriminalität ist nicht gestiegen, sondern gesunken, der politische Islam hat keine Chance, das Christentum zerstört sich selbst, weil es niemand mehr braucht. Den Linken fällt ohnehin seit Jahrzehnten nichts ein, als Banken enteignen zu wollen. Wie im Falle der Wagenknecht übernehmen sie bedenken- und gewissenlos auch rechte Sprüche, also will sie jetzt Banken enteignen und Asylanten über den Jordan jagen.
Die Zeiten sind schwer, aber einfache Lösungen machen sie nicht einfacher.
[1] Er begann als Präventivkrieg, nachdem die Staatschefs von Ägypten, Nasser, Syrien, Hafez al Assad, und Irak, Abd as Salam Sarif, die Vernichtung und Zerstörung Israels zum Staatsziel erklärt und sich mit sowjetischer Hilfe aufmunitioniert hatten.
[2] Ethik, 50. Lehrsatz (Spinoza, 1632-1677, ist der Begründer der modernen europäischen Philosophie, seinen Lebensunterhalt bestritt er mit dem Schleifen von Linsen für alle berühmten Wissenschaftler, also so ein ähnlicher Mensch wie du)
[3] Iwan IV. hieß ‚der Schreckliche‘, russisch ‚grosny‘, so heißt heute die Hauptstadt Tschetscheniens
[4] und wir haben nicht eingegriffen, um uns diese Länder anzueignen
[5] selbst das einzige lesbare rechtskonservative Buch heißt Der Untergang des Abendlandes
Die Krise zwingt zum Nachdenken. Im Moment erscheint uns das Auf und Ab von Krise und Wohlfahrt gestört: seit der Finanzkrise, gefolgt von der Flüchtlingskrise, der Pandemie und dem Ukrainekrieg, befinden wir uns im fortwährenden Krisenmodus, so dass wir das eigentliche Desaster im Nebel der Angst gar nicht mehr glauben wollen. Daraus folgt dreierlei:
1. Es wird bald wieder aufwärts gehen.
2. Wir haben uns zu früh gefreut.
3. Wir müssen tiefer nachdenken.
Alle apokalyptischen Szenarien, und es gibt deren immer viele, sind bisher nicht eingetreten. Am lächerlichsten und meistzitierten waren wohl die Weltuntergangsprognosen der Zeugen Jehovas für 1914, 1925 oder 1975. Deren Gründer Charles Taze Russell sah wohl den ersten Weltkrieg, die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, vorher, aber nicht dessen Ergebnisse: Fünf selbst ernannte Weltimperien stürzten in sich zusammen. Auch der zweite Weltkrieg und der auf ihn folgende Kalte Krieg mündeten in Demokratie und Wohlstand. Daraus folgt nicht, – teleologisch -, dass Katastrophen die notwendige Vorbedingung für Paradiese sind. Es gibt nicht nur keine folgenlosen Paradiese, sondern auch kein Kalkül. Die wirklich großen Erzählungen wissen das und kommen ohne Mathematik aus, was einzelne Interpreten nie hinderte, Berechnungen aus diesen Erzählungen abzuleiten. Vielmehr ist es wohl so, dass die Geschichte nicht endet, weder im guten noch im bösen. Zwar ist alles endlich, aber eben nicht absehbar. So wie tiefe Krisen zum vorausgesagten Weltuntergang verleiten, so träumen wir in Wohlfahrtszeiten vom ewigen Paradies. Selbst der große Kant setzt seiner Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ voran, dass dies nur in dem Sinne des holländischen Gastwirts ironisch gemeint sein kann, der damit ein Bild eines Friedhofs beschriftete. Weiter zitiert Kant Antisthenes, der schon wusste, dass der Krieg und jede selbst gemachte Katastrophe mehr böse Menschen hinzufügen als sie wegnehmen.
Sollte Putin tatsächlich das Böse planen, mit der Verhinderung des Weizenexports eine Hungerkrise in ohnehin schon armen Ländern heraufbeschwören und damit den Westen in eine noch tiefere Krise stoßen wollen, so kann man hieran sehen, wie verzweifelt falsch jedes Kalkül ist. Allein Deutschland hat 2015 eine Million, 2022 850.000 Flüchtlinge, diesmal aus der Ukraine, aufgenommen, nicht nur ohne Schaden zu nehmen: es war und ist fast nicht spürbar. Sieht man heute glückliche Familien aus Syrien und Eritrea in Güstrow oder Gießen, so erinnert man sich an das Jahr 2015 mit seiner frohen und richtigen Botschaft: Wir schaffen das, whatever it takes. Andererseits führt eine der Quellen unseres Reichtums, die Globalisierung, Probleme mit sich, die wir früher – in der Euphorie des Aufschwungs – gerne übersehen haben, nämlich das Billigen des Billigen.
Alle Kategorisierungen und Klassifizierungen von Menschen, ja alle Definitionen sind falsch, weil sie nur richtig sind, wenn sie einen nicht anhaltbaren Prozess anhalten. Sie sind bestenfalls Denkpausen. Aus der Hautfarbe lässt sich allenfalls die Vitamin-D-Produktion ablesen, aus der Klasse oder Schicht der Traum vom Wohlstand für alle, und selbst das Geschlecht ist, über seine biologische Funktion hinaus, ein soziologisches Konstrukt. Eine Dragqueen in Pasewalk wirkt wie aus einer anderen Welt und ist doch dort gebürtig. Vielmehr scheint es Menschen und auch Gruppen zu geben, die der Hilfe bedürfen und solche, die helfen können. Sieht man aber genauer hin, so wird man leicht feststellen können: wer der Hilfe bedurfte, ist bereiter, sie auch zu geben. Noch präziser beobachtet, braucht jeder Mensch und jede Gruppe Hilfe und kann sie, erstarkt und der Krise entkommen, geben.
Wenn also die Maxime des menschlichen Handelns nicht mehr eine fabulöse, paradiesisch-sozialdemokratische und einklagbare Gerechtigkeit wäre, sondern – stupid – GEBEN*, dann wäre alles gewonnen und nichts mehr verloren. Man kann nichts falsch machen, wenn man bedingungslos bereit ist zu geben. Schnell merkt man dann, wie unwichtig materielle Güter und wie wichtig – als Beispiele – Lächeln, Strohhalme und Tropfen auf die heißen Steine sind. Geben, aber nicht aufgeben, lächeln, aber nicht schweigen, beharren, aber sich nicht im Recht glauben – das ist schwer, aber so ist das Leben.
Wider alle heute übliche Korrektheit scheint mir in Goethes Wahlverwandtschaften schon ein sehr ähnlicher Vorschlag zu stehen, der aber heute von Lobbygruppen verschrien und beklagt würde:
‚Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern…‘**
Das Wort ‚dienen‘ ist durch die Klassentheorie, das Wort ‚Mütter‘ durch das Patriarchat beschädigt worden. Dennoch zitieren wir gern den großen Preußenkönig, der allen Beamten und sich selbst empfahl, sich als Diener zu sehen. Wir glauben, einer Sache zu dienen, schämen uns aber, einem Menschen zu dienen. Wir glauben an den Mutterinstinkt, sehen aber eine Frau degradiert oder nicht emanzipiert, die ihre Mutterschaft betont. Die Menschheit wird sich durch Geben emanzipieren, sich durch Dienen befreien und sich durch Spielen verewigen.
Vor einigen Tagen wurde ich gebeten, die ukrainischen Grundschulkinder, die mit ihren Müttern in unserer kleinen Stadt Zuflucht gefunden haben, zu beschäftigen, denn ein Großteil der Schüler begab sich auf eine lange vor dem Beginn des Krieges geplante Exkursion. Mir schien es ungerecht, so als würden die ukrainischen Kinder ausgeschlossen, denn die Exkursion ließ sich relativ leicht nachjustieren. Aber die Schulleiterin bestand auf der einmal gefundenen Lösung. Und siehe da: die Kinder genossen es, wieder einmal – wie schon in der Vorbereitungswoche – unter sich zu sein, ohne den unerbittlichen Zwang irgendetwas verstehen zu müssen. Vielleicht fällt es Kindern wirklich leichter, sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden. Aber wir alle wissen, wie sehr Kinder auch einen strukturierten Alltag lieben, in dem sie ohne Uhr und Handy zur bestimmten Stunde essen oder lernen oder spielen können. Die Kinder waren an diesem Tag außerordentlich fröhlich, geradezu befreit, vertraulich und vertrauend. Wir fanden einen Geheimweg, begegneten einer spielverrückten Ziege und kreischenden Hühnern, immer schön die deutschen Wörter übend, die Gans, die Gänse, die Ente, die Enten, das Pferd, die Pferde, entlang der Stadtmauer – городская стена. Die langsam älter werdende Stadtbibliothekarin freute sich über die fröhliche Gruppe und zeigte bereitwillig ihr Schätze, Gruselgeschichten, Kinderbücher, und ihre schönen Bilder, die meist unsere kleine Stadt darstellen. Sie vergaß ganz, dass bis zum Lesen in deutscher Sprache noch einige Zeit vergehen wird.
Auch im Dorfkonsum, in dem sich tatsächlich in dem Moment der pensionierte kommunistische Bischof mit der immer jünger und schöner werdenden Kunsthofbesitzerin traf, war der Aufruhr groß: kurz vor der Empörung fiel den neuen Besitzern die Lösung aller Probleme ein: mitfühlen, danken, geben. Die große Eispause wurde von der kleinen Stadt fast so beachtet wie in dem Film HIGH NOON. Der nächste Geheimpfad, am Sumpf – болото – und See vorbei, bot einen futuristischen Ausblick auf die Skulpturen von Volkmar Haase. Aber das rückwärtige Tor war verschlossen und auf dem Rückweg über die Straße war die Schönheit schon vergessen.
Die jüngste Anekdote bestätigt den wahrlich nicht neuen Gedanken.
*’the more I give the more I have – for both are infinite’ SHAKESPREARE, Romeo and Juliet, II,2