FATUM IST KEIN FAKTUM

ENTSOLIDARISIERT

Vierzig Jahre lang haben sich die Ostdeutschen verraten gefühlt: vieles war in der DDR offensichtlich schlecht, falsch, lächerlich, ärmlich oder sogar verbrecherisch, selbst der Nationalismus, die letzte Notlösung aller Unglücklichen, war halbiert. Herbeigerufen wurde im Herbst 1989 die Wiedervereinigung, im Frühjahr 1990 die D-Mark. In einem absoluten Glücksfall trafen beide Erwartungen bis Herbst 1990 auch tatsächlich ein. Viel weniger Glück hatten die anderen geteilten Länder: Vietnam, Korea, Jemen, Moldawien, ganz zu schweigen von den Ländern, die sich ab 1990 teilten: Jugoslawien, Tschechoslowakei, Äthiopien, Sudan. Aber dieses Glück machte die vermeintlich verratenen Ostdeutschen nicht glücklich. Schon die übertriebene Aufregung über den Prunk und die Pracht der Führung hätte uns stutzig machen sollen: denn in Wirklichkeit lebten die Großgenossen wie die Kleinbürger, von ein paar Westartikeln in ihren Läden abgesehen. Die First Lady und Ministerin ging manchmal in der Mittagspause in einen normalen Laden in der Leipziger Straße, wo auch ihre Tochter Sonja wohnte, aber dann wurde der Laden von Sicherheitskräften abgesperrt. Haben wirklich so viele unserer Mitbürger geglaubt, dass es sich beim Politbüro um eine normale, kompetente Führungsriege gehandelt hat? Heute ziehen viele Ostdeutsche über die grüne Parteivorsitzende her, weil sie keinen Studienabschluss hat. Aber was waren denn die Honecker, Stoph, Mielke und Neumann? Im übrigen gibt es auch sehr fähige Politiker ohne einen anderen Beruf. Multitalente wie Rathenau werden in Deutschland dagegen auch gerne erschossen.     

Inzwischen werben drei Parteien um die Stimmen der kleinen Wählergruppe der Ostdeutschen. DIE LINKE ist aus der Staatspartei SED hervorgegangen, die AfD aus einer winzigen Anti-Euro-Professoren-Partei und das Bündnis Sahra Wagenknecht ist sozusagen aus sich selbst schaumgeboren, aber andererseits eine triviale Abspaltung der Linken Partei. Die linken Parteien haben sich seit eh und je gespalten und damit entkräftet, die rechten Parteien dagegen gründen sich immer neu und dementieren ihre Geschichte. Seit geraumer Zeit wird nun gerätselt, was die Ostdeutschen vom klassischen Parteienschema abhält, warum sie nicht CDU, SPD, GRÜNE oder FDP wählen.

In der Wahrnehmung derjenigen Menschen, die zunächst in den westdeutschen Konsens einstimmen konnten, gab es aber 2010 (Griechenland-Depression) oder spätestens 2015 (sogenannte Flüchtlingskrise) einen Bruch. Sie glauben, dass sie die gleichen Menschen mit den gleichen Meinungen geblieben sind, jetzt aber plötzlich als rechtsstehend verstanden werden. Dem könnten drei Missverständnisse oder Irrtümer zugrunde liegen.

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GELD IST NICHT POOL, SONDERN FLUSS

Wir Ostdeutschen waren nach 1990 eine Zeitlang damit beschäftigt, den Fluss von Milch und Honig zu genießen. Geld war für die meisten von uns ausreichend vorhanden. Uns fehlten eher Kenntnisse vom Geld. Allerdings spalteten sich von vornherein eine kleine Verlierer- und eine große Verleugnergruppe ab. Die Verlierer, die oft keinen Berufsabschluss hatten und besonders immobil waren, ließen sich sogleich in der sozialen Hängematte nieder. Die Verleugner dagegen gingen in den Westen und Süden, es waren meist Frauen.  2010 oder 2015 merkten einige von uns, dass das Geld aus dem von ihnen geglaubten Pool nicht nur für uns da war. Was ging uns Griechenland an, fragten sie sich 2010. Was scheren uns die Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea, schrien sie schon sehr aufgebracht 2015. Auch die Kanzlerin Merkel konnte sie mit ihrem berühmten Satz, der uns viel Anerkennung in der Welt einbrachte, nur schwerlich beruhigen. Wir schaffen was?, fragten sich die Wutbürger und meinten den nicht unerschöpflichen Pool an  Geld. Wir schaffen das!, sagte die Kanzlerin und meinte Courage und Empathie. Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Land mit jeder Menge Bargeld im Juliusturm in Spandau[1]. Sie ist, wie alle reichen Länder, ein System, in das – durch Wertschöpfung, Export und Finanzwirtschaft – in jedem Moment ungeheuer viel Geld einfließt, das andererseits auch wieder abfließt. Insofern ist auch die Vorstellung, dass unsere Kinder unsere Schulden bezahlen müssen, falsch. Sie sind schon im übernächsten Jahr beglichen. Aber trotzdem bleibt unsere Gesellschaft ein Solidarsystem, das nicht nur sich selbst verantwortlich ist. Jeder, der lesen kann, muss es auch die anderen lehren. Jeder, der Brot hat, muss es auch teilen. Das ist universeller Konsens.

2

STAAT IST NICHT VATER, SONDERN VERWALTER

Die Solidarität oder Nächstenliebe tritt oft in institutionalisierter Form auf. Bei uns im Osten war SOLI ein Beitrag, glaube ich, für Vietnam. Nach der Wiedervereinigung gab es die Solidaritätsabgabe, einen Lohnsteuerbestandteil, von dem die Menschen im Westen und Süden glaubten, dass nur sie ihn für den Nordosten bezahlen müssten. Nächstenliebe[2], die christliche Variante von Solidarität, ist von den christlichen Kirchen zwar institutionalisiert bewahrt, aber andererseits auch angesichts des sündhaften und sinnlosen Reichtums der Kirchen und Religionsgemeinschaften geradezu verworfen worden. Viele sogenannte Christen halten den Teufel für Realität, Pazifismus aber für eine Metapher. Für das Solidaritätsideal steht heute der Gesellschaftsvertrag nach Rousseau, und der Generationenvertrag nach Bismarck und Erhard. Der Staat ist nicht nur eine riesige Verwaltungsmaschinerie, ich verweise auf das Heeresbeschaffungsamt der Bundeswehr, in dem 5.000 Stabsoffiziere verzögern oder sogar verhindern, dass der benötigte Gegenstand an der richtigen Stelle ankommt, sondern er erscheint vielen als der allgütige Vater, der für alles sorgt, aber auch an allem schuld ist. Linke und Rechte, Verteidiger und Verdammer der Demokratie, sie alle beten den Staat an, anstatt sich ihrer Freiheit, ihrer Würde, ihrer Bildung und ihres Wohlstands zu freuen. Noch vor ein paar Jahren war DIE MERKEL (MERKEL MUSS WEG) an allem schuld, jetzt ist es DIE AMPEL (AMPEL MUSS WEG), morgen wird es DER MERZ (MERZ MUSS WEG) sein. Nicht die Ampel – oder jede andere Regierung – ist pervers, sondern derjenige, der sich solche Schilder an seinen teuren Traktor nagelt. Schon die Vorstellung, dass der Bauer morgens um vier Uhr aufsteht, damit wir zu essen haben, ist abenteuerlich. Natürlich steht er morgens wie wir alle auf, damit er selbst zu essen hat. Denn was wäre ein Bauer, der nicht lesen, schreiben und rechnen kann, der keinen Traktor nebst dem dazugehörigen Kredit hätte, der nicht im Notfall[3] aus seinem Mördermähdrescher von einem Meisterchirurgen herausgeschnitten werden könnte? Die neue Unsitte den Staat zu fokussieren und zu verherrlichen, wo man nur selbst gemeint sein kann, wird assistiert von der vermeintlich großen Reichweite, die ein jeder und eine jede von uns hat. Wir glauben zu Milliarden von Menschen zu sprechen, wenn uns sieben zuhören und drei antworten.

3

FATUM IST KEIN FAKTUM

Durch diese tatsächliche oder auch oft nur vermeintliche Reichweitenvergrößerung erscheint vielen Menschen ihr Schicksal als tendenziell, wenn nicht programmatisch. Sie fühlen sich gemeint, wenn ihre Firma Bankrott anmeldet oder ihr Vermieter willkürlich den Zins erhöht. Das berüchtigtste Beispiel ist die Verklärung der Jugend: Weil meine Jugend mir lieb ist, muss das Umfeld richtig gewesen sein. Und obwohl schon Lessing in seinem berühmten Satz[4], dass es für mich keinen Grund gäbe, meinen Eltern weniger zu glauben als du deinen, die Frage gültig beantwortet hat, wundern wir uns, dass sowohl meine als auch deine Eltern gelogen haben könnten, nicht weil sie Lügner wären, sondern weil sie ihre Welt nicht verstehen konnten. Die Religionen und Philosophien haben leider dazu beigetragen, dass wir alle gern an Vorsehung, vorbestimmtes Schicksal, Gott als Lenker aller Ameisen, den Weltgeist oder die ‚Weisen von Zion‘ glauben oder wider besseres Wissen glauben wollen. Wir können und wollen nicht glauben, dass wir ein Teilchen in sinnloser Raumzeit sind, stattdessen glauben wir uns als a priori geliebt und wichtig, als Macher. Macher kann man werden, aber dann muss man auch erst einmal etwas machen: Bach, Benz, Bosch, Brandt.   

Aber auch auf unserer Seite gibt es einen krassen Irrtum:

4

KONSENS IST NICHT KUMULATIV

1989 glaubten wir alle, dass nun alle Menschen in den Konsens eintreten, in dem wir uns schon befanden: Demokratie, Antiautokratismus, Bildung, Wohlstand, Würde, Menschenrecht. Wie die Demokratie selbst ist auch der ihr zugrunde liegende Konsens (Rousseaus ‚einmalige Einstimmigkeit‘) ein äußerst fragiles Ringen um Gleichgewicht, das man, wenn es braucht, nicht hat, aber wenn man es hat, nicht braucht, wie schon ein Uraltsprichwort sagt.

Die faszinierende Navigation der Ameisen, die trotz Abgrund, Übermacht und Tod immer wieder die Heimat finden lässt, könnte uns hier ein besseres Leitbild sein, als die so genannte nationale Leitkultur oder ein Vater (WARUM EIGENTLICH VATER? I met God, she’s black!), der allwissend, allgütig und allmächtig ist, sei er nun Gott oder Staat.  

FA TUM
FAKTUM

[1] Alter Wehrturm in Berlin-Spandau, in dem in den 60er Jahren tatsächlich etwa 10 Milliarden DM als Bargeld eingelagert waren

[2] Markus 1231    Matthäus 544

[3] Mähdrescherunfall am 19. August 2023 bei Rostock

[4] LESSING, Nathan der Weise, III,7 [Vers 469f.]

4 Gedanken zu “FATUM IST KEIN FAKTUM

  1. gestern las ich in einem kommentar, den ich nicht mehr wortgerecht zitieren kann, dass (un)zufriedenheit sich in dem maße entwickelt, in dem ALLE gleich arm sind oder eben die unterschiede allzu offenbar zutage treten. soll heißen: es geht nicht darum, dass wir alle reich sein wollen, sondern darum, dass wir reichtum oder mindestens wohlstand als ungerecht empfinden, wenn wir ihn allzu sehr wahrnehmen können. sind wir alle mehr oder weniger gleich arm, dann verhalten wir uns solidarisch und weniger unzufrieden. wir neiden weniger, weil es nichts zu neiden gibt. das brachte die ddr z.b. zum funktionieren. natürlich sahen wir, dass wir, aus der provinz kommend, in berlin, wo die regenten saßen, mehr kaufen konnten, aber das änderte nichts daran, dass es überall in der provinz genauso war wie bei uns. das beruhigte.
    als ich vor 35 jahren im westen ankam, bedauerte man mich armes ddr-würstchen sehr. ich sei ja nicht frei gewesen. was ich so nicht wirklich empfunden hatte. auch angesichts der tatsache, dass jene (im westen), die voran kommen wollten, sich in der gleichen partei engagierten wie ihre chefs. was war da anders?, fragte ich mich. in einem gespräch mit einem kollegen, der mir erklärte, dass ich nun FREI sei, fragte ich ihn, frei was zu tun? er sagte, ich könne nun nach amerika reisen. und ich fragte zurück, wann denn er das letzte mal in amerika gewesen sei. er antwortete: noch nie. weil er sich das nicht leisten könne. ich weiß nicht, ob er begriffen hat, dass freiheit nur theoretisch ist, wenn das geld dazu fehlt.
    das heutige publikum, scheint mir, ist es inzwischen allzu sehr gewöhnt, sich versorgen zu lassen. um dann zu klagen, dass aus dem großen topf allzu wenig auf sie hernieder fällt. sie klagen unentwegt über alles mögliche, wollen aber ihrerseits keinen beitrag leisten. da ist es doch einfacher, in einer unsäglichen neiddebatte auf jene, die noch unter ihnen stehen, einzutreten, statt sich klar zu machen, dass auf die von ihnen im rahmen von steuerdebatten etc. verteidigten, die oben, einen kritischen blick zu werfen richtiger und wichtiger wäre. glaubt nur irgendeiner von denen, sie hätten irgend etwas mit den milliardären gemeinsam, die sie aus tiefster seele verteidigen, weil die ja doch stiftungen gründen und auch sonst so wohltätig sind, statt einfach nur steueren zu zahlen wie alle anderen auch?
    manchmal, glaube ich, fehlt einfach nur der klare blick auf gegebenheiten, die halt so sind. aber natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass auch mein blick nicht der wirklich einzig klare ist.

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    • hallo erphschwester, vielen dank für deine treue und deine kommentare, auch diesen, es freut mich sehr, wenn ein text von mir neue gedanken – und seien es nur erinnerungen – hervorbringt. dieser text richtet sich gerade gegen die verwechslung des eigenen erlebens mit objektiven ereignissen (falls und soweit es die überhaupt gibt, also etwa geschichtsschreibung). die freiheit mag einem nichts wert sein, wenn man sie nicht bezahlen kann. auch ich war noch nicht in den usa, weniger (aber auch) aus geldgründen. mein sohn dagegen hat sowohl in island als auch in kanada sein studium durch arbeit verdient, die ihm in unfreiheit nicht möglich gewesen wäre. manchmal muss man den blick auch ausweiten. also denk dran: fatum ist kein faktum!

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