Nr. 276
Wir sehnen uns schon vom Mutterschoß an nach Dogmen.
We are dogma-prone from our mother’s wombs.
Simon Foucher, Dissertation sur la recherche de la vérité, 1673
In drei Bereichen unseres Lebens versuchte mein voriger blog zu zeigen, dass es besser ist, immer wieder neu zu lernen statt sich nach vorgegebenen und damit immer überlebten Regeln zu richten: unser Verhältnis zu Geschlechterrollen, unser Verhältnis zur Natur und zum autoritären oder vernetzten Staat. Das brachte mir sehr viele, teils wütende Kommentare auf der österreichischen Plattform Fisch und Fleisch ein. Gleichzeitig gab es in der vorigen Woche dort einen Aufruf, die oft krasse Polemik zwischen links und rechts zu mäßigen. Ich antworte also auf einen der Kommentare und leiste damit gerne meinen Beitrag zur Entpolemisierung.
Wir sehnen uns nach Dogmen, obwohl wir wissen, dass sie ahistorisch sind. Der Unterschied zur Freiheit, nach der wir uns ebenso vergeblich sehnen, ist, dass Dogmen uns vom Denken befreien sollen, Freiheit uns aber nur durch Denken erreichbar ist.
Die sprichwörtliche Flut der Informationen, die Inflation der Texte führt dazu, dass Texte oft nur noch gescannt werden, überflogen statt gelesen, referiert statt nachgedacht. Mancher liest nur noch die Referate der Referate der Referate. Statt offen zu sein für neue Argumente, die man durchdenken, annehmen oder ablehnen kann, wird ein Text nur noch daraufhin betrachtet, ob sich altbekannte ‚gegnerische‘ Zitate finden, wahrscheinlich auch umgekehrt, ob sich altbekannte ‚eigene‘ Zitate in genügender Menge finden, um den Text als einen eigenen anerkennen zu können. Aber Texte, Argumente und Länder gehören uns nicht. Die Stadt Mumbai gehört weder den vierzig Leoparden, die in ihr leben, noch den zwanzig Millionen Menschen. Der Begriff der Alphatiere war aus der Beobachtung von domestizierten Wölfen gefunden worden. Wahrscheinlich hat die Populärwissenschaft (‚Tierdokus‘) ihn deshalb bis heute verwendet, weil er dem Wunschdenken vieler Menschen entspricht, die Natur möge genauso funktionieren wie wir. Die Stadt Königsberg/Kaliningrad, ein weiteres Beispiel, gehört weder den Pruzzen noch den Russen noch den Deutschen. Die meisten Menschen wissen schon lange nicht mehr, nach welchem König die Stadt einst benannt wurde, wer die Pruzzen sind und wer Kalinin war.
Der Aberglaube, dass man auf die Welt kommt, die man dann besitzt, ist mit dem Landbesitz und dem Geld verbunden. Das sind beides späte Konstrukte, und sie sind keineswegs nur erfolgreich. Der Finanzkapitalismus wird zum Beispiel von linken wie rechten Gruppen scharf attackiert, ohne dass sie beachten, dass der Kapitalismus nur eine Methode ist, die Wirtschaft zu bündeln. Da alles historisch ist, gibt es, anders als in der materiellen Welt, immer auch eine Gleichzeitigkeit. Also können wir auf die eindeutigen Nachteile des Kapitalismus nur verzichten, wenn wir auch seine nicht weniger eindeutigen Vorteile aus unserem Leben bannen. Statt mit Schaum vor dem Mund Forderungen an andere zu stellen, sollten wir lieber aufhören, pro Jahr 37 kg Plastikmüll zu produzieren und 50 kg Schweinefleisch zu verbrauchen. Der Fleischverzehr geht tatsächlich schon zurück, es gibt in Deutschland knapp 10 Millionen Vegetarier. Statt sich nun zu freuen, dass es eine weitere Gruppe von Menschen gibt, die aus einem anderen Grund als die Massentierhaltung auf Schweinefleisch verzichten, wird diese Richtung insgesamt als ein Nachgeben gegenüber der vermeintlichen Islamisierung gesehen. Lächerlicher kann man nicht argumentieren.
Krieg wird von vielen als naturgegeben angesehen. Damit wird die Natur als ahistorisch qualifiziert. Evolution ist aber nicht die Beschreibung einer Aufwärtsentwicklung, sondern einer oft schmerzlichen Entwicklung, bei der genauso viele Pflanzen- und Tierarten aussterben wie entstehen. Leben ist ein Prozess und kein Baugerüst. Aber selbst für das Baugerüst bedarf es keines Sturms, um es über kurz oder lang umzustürzen und in seine Elemente zurückzuverwandeln. Weltherrschaft ist ein historisches Konstrukt aus der Zeit der Nationen, die ebenfalls ein Kind des achtzehnten Jahrhunderts sind. Die zeitweilige Auflösung dieses Strebens nach Weltherrschaft haben ausgerechnet zwei Besitzer damals weltgrößter Konzerne praktiziert: der Antisemit Ford und der Jude Rathenau. Rathenau wollte kein Jude sein, aber das kann man sich nicht aussuchen, Ford wollte keine Juden haben, aber das kann man sich nicht aussuchen. Heute kann man sich nicht aussuchen, ob der Wohnungsnachbar Muslim oder Afrikaner ist, und es spricht auch nichts dagegen. Rathenau hat Deutschland nach dem verheerenden, auch von seinen Kriegszielen her falschen ersten Weltkrieg in die Reihe der gleichberechtigten Nationen zurückgeführt. Sein Modell des Exports führte einerseits zu Wohlstand, andererseits zur Globalisierung. Wer also Globalisierung ablehnt, sollte nicht ihre Abschaffung fordern, die unmöglich ist, sondern nach Niger auswandern. Niger ist außerdem ein gutes Beispiel für die Historizität und Sinnlosigkeit von Grenzen.
Noch nie wurde also in einem Text von mir die Forderung nach Weltherrschaft gestellt. Weder glaube ich, dass sie Deutschland oder den USA oder irgendeinem anderen Land zustünde, noch befürchte ich, dass die Inder oder die Chinesen oder die Afrikaner sie an sich reißen würden. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man aus dem Satz ’sehen wir in den Afrikanern lieber die Brüder und Schwestern, von denen wir seit Jahrhunderten reden‘ einen Anspruch auf Weltherrschaft von irgendjemandem herauslesen kann. Ich schreibe nicht von Weltherrschaft, sondern von Würde. Mit Wut zernichten wir unsere eigene Würde, mit Weltherrschaft die der anderen. Es ist möglich und wünschenswert, dass die Geschwindigkeit der Innovationen so hoch bleibt, wie sie derzeit ist. Das könnte bedeuten, dass in den nächsten dreißig Jahren weltweit Arbeitsplätze entstehen, von denen wir jetzt noch genauso wenig erahnen, wie vor dreißig Jahren das Smartphone. Zum Beispiel könnte der Abbau seltener Erden, die für die rasant wachsende Elektronik unverzichtbar sind, vermenschlicht werden. Das historische Beispiel dafür ist der Steinkohlenbergbau im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Seine Vermenschlichung brauchte mehr als 150 Jahre. Setzt man jetzt die Geschwindigkeitserhöhung für Innovationen der letzten Jahrzehnte an, so ist das Ziel der Menschenwürde keineswegs utopisch. Betrachtet man gleichzeitig die Veränderung unseres Fokus, die Anerkennung unserer Verantwortung, so sieht man, wie rasant auch der Hunger, die Pest und der Krieg zurückgedrängt wurden. Nicht das Denken und der Optimismus sind unrealistisch, sondern das ahistorische Festhalten an Regeln und Voraussagen. Wir irren immer, wenn wir eine alte und historische Kategorie in die Zukunft zu übertragen versuchen: Karl Marx wollte mit einer Klasse gewinnen, die es gar nicht mehr gibt, Adolf Hitler wollte gar mit einer Rasse gewinnen, die es nicht geben kann. Soviel zu links und rechts. Immer wenn wir glauben, die Ordnung gefunden zu haben, wird sie vom Freiheitstraum zerbrochen.
Wie immer, ein sehr nachdenkenswerter Text. Den letzten Satz könnte man glatt für sich – als Aphorismus – stehen lassen. Der wird mir noch nachgehen. Ähnlich ging es mir mit dem Satz „Man muss in sich Raum leer lassen für das Nichtwissbare, der seither zu einer Art Anti-Dogma … nein, das trifft es nicht – zu einem Dogma, das recht gut vor anderen Dogmen schützt, geworden ist. Begreifst Du Freiheitsraum etwa in diesem Sinne, oder habe ich das ganz falsch verstanden?
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nein, ich meine freiheitstraum, der stärker und langdauernder als alle ordnungen und regeln ist, und ein traum ist niemals ein dogma, auch nicht im antisinn. aber ich danke dir sehr für dein immer aufmerksames und angenehmes lesen – und das ist immer eine mitautorschaft.
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Wie die meisten deiner Artikel hatte ich auch den vorigen gelesen. Und lange überlegt, ob ich den Satzteil „Tatsächlich aber gibt es in der Natur keine Hierarchie …“ kommentieren sollte, ließ es dann aber, nicht ahnend, dass ich heute noch immer daran rumkaue. Weil ich aber nicht genügend Beweise sondern nur ein paar Einzelbeispiele hätte um zu widersprechen, lasse ich das immer noch so stehen und kommentiere nun lieber den Artikel mit der Würde.
Sie picke ich mir raus, weil wir heute im familiären Frühstückskreis darüber diskutierten, inwieweit Würde beispielsweise im hohen Alter für Menschen noch eine Rolle spielt, wenn sie an einen Punkt gelangen, an dem ihnen alles nur noch egal ist, sie des Lebens müde, ja regelrecht überdrüssig geworden sind, alle Verantwortung freiwillig abgegeben haben, auch die über sich selbst, und die Angehörigen just über die Würde versuchen, noch ein bisschen an sie ranzukommen, um tägliche Notwendigkeiten für alle Beteiligten halbwegs erträglich hinzukriegen. Wenn jegliche Ordnung absurd geworden ist angesichts eines Istzustandes, den niemand jemals für sich selbst akzeptiert hätte, eines Tages aber doch fortan, mit dem quasi letzten Aufbäumen als Demonstration eines Machtwillens, den man einer gebrechlichen Person weder körperlich noch willensmäßig in solchem Ausmaß zugetraut hätte, täglich aufs Neue und um mindestens eine gruselige Variante reicher gestaltet. Wenn die Freiheit des Einzelnen, dieses einzelnen Menschen plötzlich darin besteht, über die anderen im Umfeld zu herrschen wie nie zuvor, einfach aus dem Grunde heraus, nicht mehr berechenbar zu sein, weder im Guten noch im Schlechten, an keiner Würde mehr Interesse zu haben, auch nicht an der eigenen, und wie getrieben alles auf den Kopf zu stellen, um das Chaos zu genießen, an dem die Umgebung verzweifelt, weil Demütigung, Ohnmacht, Fluchtunmöglichkeit fortan den Alltag derer diktieren, die für diesen Menschen verantwortlich sind, weil er selbst keine Verantwortung mehr in sich spürt.
Ein kleines Beispiel aus einer der kleinsten Zellen einer Gemeinschaft, innerhalb einer Familie, aber so oder ähnlich in vielen, unzähligen Familien stattfindend und schier unlösbar hinsichtlich der Probleme, die täglich mehr werden. Da birgt der Wunsch nach Veränderung einerseits Hoffnung, andererseits jedoch auch Furcht vor einer, ohnehin kaum noch möglichen Verschlechterung der Situation. Da gibt es Freiheit nur noch in Gedanken, die man kaum auszusprechen wagt aus Angst, nach dem eigenen Wert nun sogar noch der persönlichsten Gedanken beraubt zu werden wie damals als Jugendliche/r, als man vorwiegend fremdbestimmt leben musste, bevor man sich abnabeln und freischwimmen konnte.
Vielleicht steckt zuviel Urangst in uns Menschen, eventuell schöpfen wir auch aus den falschen Schlussfolgerungen, aber meist orientieren wir uns an der eigenen Einschätzung und sind angewiesen darauf, fremde Erfahrungen so gut aufbereitet hören oder lesen zu wollen, dass unsere Gedanken sich immerhin damit beschäftigen, wir im Idealfall zur Selbstreflexion angeregt werden und es überhaupt zu solchen Erkenntnissen wie den deinen kommt. Ja, ich achte und schätze deine Texte unter anderem auch dafür, ihr Lesen für mich erstrebenswert zu machen und andere Sichtweisen relativ weise aufbereitet an mich heranzulassen, ohne sofort aufzubegehren, wie es mein Instinkt mir anderswo manchmal doch ziemlich oft rät. Sie helfen mir, runterzukommen und mich da wiederzufinden, wo ich mir selbst und anderen am ehesten guttue. Denn meine Wut ist manchmal grenzenlos, und möchte ich zwar niemals die Welt beherrschen, so doch wenigstens mit Vehemenz meine Würde verteidigen – solange ich noch weiß, was das ist und wie das geht, ohne gleichzeitig damit jemand anderen der seinen zu berauben.
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ich danke dir für deine guten worte. genau davon handelt doch dieser teil. sehr rechte kommentatoren auf der österreichischen plattform hatten mit unterstellt, ich würde die weltherrschaft der afrikaner wollen oder verkünden. nein ich verkünde die würde. du hast vollkommen recht, dass die alten menschen ihre würde selbst aufgeben (müssen). aber in afrika ist mehr als die hälfte aller menschen unter siebzehn jahren. wir gieren nach geld, sie gieren nach leben. bei wem ist die würde? das habe ich gemeint. es wird keinen krieg geben, keinen clash der kulturen, keine islamisierung, denn auch der islam ist ein ausdruck von armut und hilflosigkeit, genau wie das christentum. so gesehen müssen wir keine sorge haben, aber wir haben nicht bedacht (weil niemand die zukunft bedenken kann), dass der wohlstand auch einen mangel an sinn, und dann sogar ein aufgeben der würde mit sich bringt, in japan übrigens noch schlimmer als bei uns. diese ganzen apokalypsen – ich kann sie nicht mehr hören. es wird eine friedliche und fröhliche lösung geben, einen ausgleich. (manchmal möchte ich amen sagen, wenn ich so etwas schreibe, aber ich glaube nicht an einen gott, der sich um jede einzelne ameise kümmert.)
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