Nr. 158
Havelberg ist so als würde Gustavo Dudamel in Caracas Beethovens Neunte dirigieren. Beides sind Summen, Produkte und Potenzen unendlicher Glieder und Vernetzungen, die noch vor wenigen Jahrzehnten als unmöglich galten. Damals wurden Havelberg als Obsieg des Deutsch- und Christentums und Beethoven als Schluss- und Höhepunkt weißer eurozentrischer Kultur gefeiert. Hinterher erscheint es uns eher unmöglich, dass man andere Sichten für so unmöglich hielt.
Der spätromanische Dom thront immer noch über der Havelinsel und man kann besonders aus der einundachtzig Meter hohen Aussichtsplattform gut die strategische Lage vor tausend Jahren begutachten: wer Insel und Berg besaß, war unschlagbar. Vor diesem Hintergrund erscheinen die kleinen Fenster im mächtigen Westwerk des Doms als Schießscharten. Aber vielleicht sind das Westwerk und die Überdimensioniertheit nur Ausdruck des neuen Reichtums, des Triumphes der Nächstenliebe über die Götter der Angst und der Rache? Im so genannten Wendenkreuzzug von 1147 ging es jedenfalls mehr um Macht als um Glauben, und Anselm von Havelberg, obwohl er an diesem militärischen, barbarischen und obskuren Akt teilnahm, schrieb später ein berühmtes Buch mit dem Titel DIALOGE, allerdings war er da schon Botschafter im byzantinischen Konstantinopel.
Die heutigen Auseinandersetzungen zeigen deutlich, wie der damalige Streit ausgesehen haben könnte, die damaligen Dispute und Kämpfe vermitteln uns ein Bild dessen, wie die heutigen Diskussionen geführt werden und ausgehen können. Es gibt immer die besonders ängstlichen und beharrenden Traditionalisten, die jeden Quadratzentimeter dem Alten erhalten wollen. Nichts darf sich ändern an der Väter und Urväter Weise. Die Werte von gestern sollen auch morgen noch gelten. Der Veränderung wird kein Fenster geöffnet. Dagegen sind die Neuerer, die Innovatoren, die Reisenden, die Jungen, die Lerner und die Anarchisten. Sie haben eine Vision. Vom Altmeister allen Besserwissens stammt der schöne Satz: Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Dazwischen stehen die Realisten, jene, die sich nicht entscheiden können. Opportunistisch gesehen sind sie Konservative, aber andererseits sagt ihnen ihre Bildung, dass sich das Rad der Geschichte, das schöne Bild von Schiller, wohl kaum rückwärts dreht. In der Volkswagenführung und in der Flüchtlingsdebatte begegnen uns die gleichen Konfigurationen: geht es um Umweltschutz oder um die Leistungsfähigkeit der Automobile, haben wir das Automobil (als Metapher für Freiheit) erfunden, damit es alle benutzen können? In München toben die Traditionalisten, aber in Wittstock wird es auf dem Markt wieder bunter. Jedoch ist in Wittstock die Ablehnung des Neuen auch größer als in München, denn München ist zwar die Hauptstadt des Konservatismus, aber andererseits Großstadt mit urbanem Großgeist und eben der Weltoffenheit, die durch das Zusammentreffen vieler Kulturen entsteht.
Das Christentum, dessen Symbol der Havelberger Dom sein mag, brachte indessen nicht nur vordergründige Erlösungsstrategien. Die hatten andere Religionen auch. Vielmehr wurde reines Zweck- und Nutzendenken (später Teleologie und Utilitarismus genannt) durch einen höheren Sinn ersetzt. Du bist, war die neue Lehre, eben nicht dazu da, Feinde zu bekämpfen, Kinder zu zeugen und ein Moor trockenzulegen. Wenn du deine Feinde liebst, statt sie zu bekämpfen, wenn du deine Kinder liebst, statt sie nur in die Welt zu setzen, wenn du ein Moor gleichzeitig trockenlegst, um den Hunger zu bekämpfen, und feucht erhältst, um auch künftigen Generationen und Völkern das Leben zu ermöglichen, dann wirst du die Welt verbessern, nicht nur deine Heimat, dann wird die Welt deine Heimat, dann brauchst du den Begriff der Heimat gar nicht mehr, dann musst du vor dem Neuen, sei es ein Flüchtling oder ein Automobil, keine Angst mehr haben.
Wenn du deine Feinde liebst, hast du keine mehr. Wenn du deine Grenzen öffnest, musst du sie nicht mehr verteidigen. Wenn du dein Herz öffnest, kannst du sterben, verschließt du es, wirst du sterben. Wer die Augen schließt, um sich seiner Grundsätze zu versichern, sieht nichts mehr.
Vertrauen ist ein Paradox: du musst glauben, was du noch nicht weißt. In den Fortschritt kann man nur stolpern, niemand weiß, was sich hinter der soeben aufgestoßenen Tür befindet. Aber du musst sie aufstoßen, weil du und wenn du frische Luft benötigst. An Prinzipien dagegen kann man leicht ersticken. Die Frage lautet eben nicht, was habe ich davon, wenn ein neuer Mensch zu mir kommt. Fortschritt und Kultur ist immer die Reibung zwischen den bestehenden Systemen und Visionen. Es gäbe nicht nur kein Smartphone, sondern im Gegenteil: ein Großteil der heutigen Smartphone-Benutzer würde Hungers sterben, wenn wir nicht immer wieder offen gewesen wären und nicht die Fragen nach Zweck und Nutzen gestellt hätten. Dadurch dass manchmal Zweck und Sinn zusammenfallen, darf man nicht schlussfolgern, dass sie auch identisch wären. Die zweite falsche Schlussfolgerung wäre die Forderung nach Askese, so gut uns Askese tun kann, das Gegenteil von Nutzendenken ist vielmehr Bildung und Kultur. Es gibt keine bessere Beförderung der Konjunktur als Kultur: der kleinste Hartzvierempfänger hat den größten Bildschirm. Hartzvier ist also nicht nur Geldtransfer, sondern auch Kulturweitergabe. Besser ist natürlich eine gediegene und aktive Bildung, mit der man überall bessere Chancen auf Lebensunterhalt, einschließlich etwa notwendiger Flucht, hat.
Wenn man also durch jenen Teil Deutschlands zur BUGA fährt, der einst mit dem obskuren Wendenkreuzzug ins Licht der geschriebenen Geschichte trat, so passiert man Westwerke von Kirchen, die dem Mindener und Havelberger Dom nachempfunden sind. Sie sind, wie alle Kultur, Verschwendung im schönsten Sinne. Aber sie sind nicht, wenn auch der Zeitgeist es uns immer wieder einreden will, Zeugnis zerstörerischen Militärungeists. Luthers Leistung war die Bibelübersetzung, nicht die Kirchenspaltung und die Zementierung des Zeitgeists. Auf diesen Plätzen vor den gotischen Kirchen und ratlosen Rathäusern entfaltet sich als fragiler Keim ein Leben, das schon fast vergessen war: das Gespräch um des Gesprächs willen, um die Nähe zu pflegen, warum sagen wir nicht: wegen der Nächstenliebe. Die das miteinander besprechen, haben einfach ihre Tradition mitgebracht und auf den Marktplatz von Wittstock gestellt. Da steht sie nun und kann nicht anders. Und wir werden bald auch dort stehen oder sitzen und über das Wetter reden, statt nur in die Hände zu spucken und das Bruttosozialprodukt zu steigern. Zwar ist das Bruttosozialprodukt von hoher Anziehungskraft, aber nichts geht über ein Gespräch vor gotischen Domen. In Havelberg übrigens, direkt vor dem spätromanischen und gleichzeitig frühgotischen Dom, in einem italienischen Restaurant, wurden wir, mein orientalischer Filter und Katalysator und ich, bedient von einem ägyptischen Kellner mit Heimweh und bemerkenswertem Anstand. Er lehnte das Trinkgeld ab, weil er uns eigentlich einladen müsste. Davon kann man lernen. Das ist Nutzen, Zweck und schöner Sinn zugleich.
Lieber RST, Gedanken die ich mit Dir teile! Danke für die Übermttlung. Der Text wird ausgedruckt zu den anderen Gedanken gelegt. Hoffe Dich bald zu sehen. Bin aber in den Ferien in Kroatien. Hoffe , dass es diesmal klappt. Das ist der 5 Reiseversuch in diesem Jahr !!!
Herzlichst Klaus
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gute fahrt. man sieht sich. gruß rst
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