NOBELPREIS ZWISCHEN BACH UND NEONAZIS

Obwohl der im Roman beschriebene Ort Kana leicht als Kahla in Thüringen und Hort der Neonaziszene erkennbar ist, ist genauso leicht der Parabelcharakter des Buches überdeutlich. Der oberste Neonazi des kleinen Städtchens südlich von Jena, genannt DER BOSS, liebt Bach und nimmt sich eines armen Waisenjungen aus dem Kinderheim an, kurzum, alle unvereinbaren Subkulturen werden hier neu gemischt. Das Personal des kleinen, eigentlich liebenswürdig-verschrobenen Örtchens scheint aus einem Musterbuch des Kleinstadtbewohners zu stammen. Da ist der vom BOSS adoptierte Junge Florian Herscht, ein Riesenbaby von ungeheurer Kraft, man ahnt schon zu Beginn, dass er sie noch brauchen wird. Er ist genauso sympathisch, everybody’s darling, wie sein Vorbild aus der vorangegangenen Weltliteratur: Lennie Small aus John Steinbecks großem, wenn auch kurzem Roman OF MICE AND MEN. Er ist der Freund der alten Frauen und der Hochhausbewohner, und er ist so glücklich, dass er im siebten Stock des Hochhauses eine eigene Wohnung besitzt, mit einem Stuhl und einem Tisch und einem Bett. Dort kann er aber mit seinem Laptop keine Bachkantaten hören, denn es gibt kein Internet. Dieses ganze wunderbare Leben verdankt er dem BOSS, der ihn vom Hochhaus zu den Einsätzen abholt, bei denen sie mit Spezialmitteln und noch spezielleren Werkzeugen Graffiti entfernen, besonders von den nationalen Heiligtümern der Bachgedenkstätten in Thüringen. Die Leiterin der Bibliothek gehört zu den Freundinnen und Freunden Florians ebenso wie der pensionierte Physiklehrer Adrian Köhler, von dem er zudem lernt, dass die Welt zu Nichts zerfällt, wenn die Politik nicht schnellstens reagiert. Florian schreibt deshalb mehrere Briefe an Angela Merkel und versucht auch, im Reichstag vorstellig zu werden. Kleinstadtmilieustudien werden nicht nur mit Frau Schneider und Frau Burgmüller vorgelegt, zwei konkurrierenden Nachbarinnen und omnipräsenten, aber unbrauchbaren Zeitzeuginnen, sondern auch mit der – Frau Ritter aus Köthen nachempfundenen – völlig körperlich und geistig verwahrlosten Mutter des Nazis:

Die Geburt des [NATIONAL][SOZIAL][ISMUS] aus der Asozialität.

Eine Extrastudie widmet Krasznahorkai dem Festhalten an den alten Essgewohnheiten Bockwurst, Schweineleber und Köstritzer Bier. Es gibt wohl kein Buch, in dem mehr Bockwurst gegessen wird. Aber wir verstehen: die Essgewohnheit ist auch ein Widerstand gegen Burger und Döner. Jedoch wie Weihnachten nie mehr so sein wird wie in der Kindheit, so wird die DDR nicht wieder auferstehen, soviel Bockwurst ihre followers auch in sich hineinstopfen mögen.

Die Kleinstadtidylle ist nach 1990 durch demografische und ökonomische Prozesse zerstört worden, die nicht direkt von einem Staat zu verantworten waren, weder vom untergegangenen noch vom eben aufgehenden. Zurück blieb ein verwahrloster Topos mit so gesehen obdachlosen Menschen. In dieses Vakuum stieß der mentale Linksradikalismus (BANKEN ENTEIGNEN) genauso wie der latente Neonazismus (DEUTSCHLAND DEN DEUTSCHEN), überhaupt jede vereinfachte Antwortoption und jedes autoritäre Reglement. Das Dilemma menschlichen Zusammenlebens ist hier zu sehen: entweder ein optionales Overprotecting oder die mögliche Verwahrlosung. Selbst die antiautoritärste Demokratie benötigt einen Grundkonsens, gern mithilfe eines liebenswerten Charismas, während auch die härteste Autokratie nicht ohne eine demokratische oder wenigstens merkantile Klammer, die dem Führer widersprechen,  auskommen kann.

Das eine System basiert auf Emphase, dem permanent skandierten kalten Unsinn, das andere auf Empathie, dem immer erneuerten Versuch der warmherzigen Annäherung.

Eine Ausnahme oder ein Zwischenglied ist der Lehrer. Da er sein Wissen unmittelbar weitergibt, glaubt er, es auch unmittelbar empfangen zu haben, er hält es und sich für absolut und schon sitzt er in der ungewollten Autoritätsfalle, obwohl er eigentlich nur durch Einfühlung existieren kann. Adrian Köhler versucht vergebens, die falsche Interpretation zu stoppen und verfällt in Demenz als der notwendigen Zivilisationskrankheit. Keine Autorität kommt ohne Kataklysmus aus, ob er nun im kleinen Städtchen Kahla im Untergang der Porzellanfabrik oder in der prächtigen Metropole Lissabon passiert, wo einst und deshalb die Aufklärung geboren wurde. Das Erdbeben mit Tsunami all inclusive ereilt Kahla wie Lissabon.

Indes tritt zu den gewalttätigen Neonazis eine weitere Bedrohung: die Wölfe, die uralte Urangst des Menschen, der sich immer mehr von der Natur entfernt. Der Wolf als Metapher für sich selbst und den Flüchtling und die Pandemie ist die verkörperte Irrationalität. Der Mensch, selbst wenn er an Gott glaubt, glaubt sich rational, demgegenüber kommen die genannten Monster aus dem Off der Unvernunft.

Der Staat bleibt hilflos und unsicher, die Polizei tappt im Dunkeln, weil sich das Paralleluniversum der Neonazis als Stecknadelkopf im Heuballen entpuppt hat.

Jeder Glaube an den Staat ist Aber-, wenn nicht Irrglaube.

Der Staat sind bestenfalls wir, aber dieser Fall kann wohl kaum eintreten, solange bezahlte Büttel von verlorener Macht träumen.

Das Buch spielt mit einer Art Unstrukturiertheit und spiegelt damit das zunächst unstrukturierte Leben, das uns erst nekrologisch logisch wird. Andersherum gesagt: nur im Kunstwerk können wir den Sinn oder den Unsinn des Lebens erkennen. Das tägliche Leben erschließt sich uns nur schwer. Wir wissen nicht, warum unser Nachbar stirbt oder drei Häuser weiter das siebte Kind geboren wird. Deswegen steht auf vielen Grabsteinen WARUM, aber keine Antwort, und Memoiren dienen eher dazu, die Gründe zu verschleiern, statt sie aufzuklären. Dies könnte durch ständigen Perspektivwechsel innerhalb eines Absatzes oder sogar eines Satzes erreicht werden. Dadurch entstünde im Leser eine Unmittelbarkeit, eine Dichte, die den Memoiren eines alten Kindes dokumentarische Züge verliehen. Dieselbe Wirkung erreicht Krasznahorkai aber dadurch, dass es in seinem 400 Seiten starken Buch nur einen einzigen Punkt gibt, den Schlusspunkt. Es gibt auch keinen Absatz und die Kapitelüberschriften sind Zitate vorheriger Kapitel. Dadurch können wir Leser glauben, dass der Roman das Leben so wiedergibt wie es ist: unstrukturiert, unverständlich, unglaublich, unverfroren, unwiederholbar, unhaltbar, unendlich. Aber der Schein trügt. Man ahnt es: Florian Herscht wird es beenden, so wie unser aller Leben eben endet. Am Schluss sterben sie alle wie die Fliegen, wie bei Hamlet. Aber die schönste Pointe, nach der die böseste der Bösen, Karin, durch Genickbruch zu Tode kam, ist, dass die Pistole der toten Bösen noch einmal losging und HERSCHT mit den beiden vom Naturschutz geschändeten Wölfen stirbt, im Kopf hört er aus dem Stabat Mater von Pergolesi/Bach TILGE HÖCHSTER MEINE SÜNDEN. Ja, das wäre schön.  

„…ich verhalte mich nur deshalb so zu den Dingen, weil ich nicht an das Leben glaube, das man uns aufzwingen will, dass wir kaufen sollen und dann wegschmeißen…“ [S. 264]

„…die Angst war so groß, dass die Realität diese Angst nur gestört hätte,  denn auf die Realität kann man leicht, aber auf die Angst kann man nur schwer verzichten…“ [S. 281]

Laszlo Krasznahorkai, HERSCHT 07769, übersetzt von Heike Flemming,

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2021

09.10.2025

Laszlo Krasznahorkai wird den Literaturnobelpreis 2025 erhalten. Wir gratulieren!

GO TELL IT ON THE MOUNTAIN

Eine Rezension

Nr. 286

Was bei uns wie ein Weihnachtslied klingt, kann man auch so verstehen, dass jemand den Leuten hinter den Bergen sein Leben erzählt, damit sie sehen, dass er ein Mensch wie sie ist und dass er seinen Weg gefunden hat. Seit der Antike und in Wellen auf und ab schwappt die Angst vor dem Ertrinken im Fremden und riskiert, dass die Fremden ertrinken. Die menschlichen Botschaften werden scheinbar nur auf den Bergen gehört, in den Tälern der Ahnungslosen herrscht dagegen die Angst. Aber der Wanderer kennt beides: auf dem Gipfel die Begeisterung, im Tal die Verzweiflung.

Anfang der fünfziger Jahre, 1951 und 1953, erschienen zwei Bücher, deren Protagonisten östlich und westlich vom Central Park in New York in scheinbar zwei verschiedenen Völkern oder Kulturen aufwuchsen. Aber darum geht es in beiden Büchern nicht. Sie beschreiben vielmehr die Menschwerdung eines Kindes und Jugendlichen, coming of age, als eine Geschichte, die sich zwar unter konkreten, oft widrigen Umständen entfaltet, aber dabei einem geheimen Programm oder Plan zu folgen scheint. Dabei ist es leider fast genau umgekehrt: das Leben und die Geschichte verlaufen plan- und sinnlos, aber wir versuchen ihnen nachträglich einen Sinn  zu geben durch Tradition, Religion, Interpretation und auch durch Vergessen.

Das erste Buch ist DER FÄNGER IM ROGGEN von Jerome David Salinger, das eine zeitlang jeder Jugendliche kannte. Es war und ist ein Kultroman, der seinem an sich schon reichen Verfasser gestattete, fortan ein Leben ohne Menschen und ohne Arbeit in einem abgeschotteten Grundstück zu führen. Er wurde der sprichwörtliche alte Amerikaner, der mit seiner Schrotflinte auf jeden ungebetenen Besucher schoss, und jeder Besucher war ungebeten.

Das zweite Buch ist GO TELL IT ON THE MOUNTAIN von James Baldwin, das soeben in neuer deutscher Übersetzung und mit neuem, zum Karfreitag passenden Titel VON DIESER WELT erschienen ist. Auch dieses Buch, obwohl weit weniger bekannt, ermöglichte seinem aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Verfasser ein Leben in Luxus an der Côte d’Azur und in Paris. Aber dann wurde er in der Bürgerrechtsbewegung von seinen Freunden Malcolm X., Medgar Evers und Martin Luther King gebraucht und kam zurück und wurde einer der zurecht bewundertsten amerikanischen Intellektuellen.

Das Buch erzählt die Geschichte und Vorgeschichte eines intelligenten Jungen namens John Grimes, eingebettet in die Geschichten seiner Mutter, seiner Tante, seines Stiefvaters, seines Vaters, seines Stiefstiefbruders, seines Stiefbruders. Mit allen diesen Menschen muss er leben und aus all diesen Leben holt er sich seinen Lebensstoff. Während seine Mutter einfach ein lebenslustiges Mädchen ist, versucht sein Vater aus dem unfreiwilligen Leben voller Armut und Demütigung durch Bildung herauszukommen. Er liest nicht nur viel, wie dann  später sein Sohn, der das Abbild des Verfassers ist, sondern er geht mit seiner Freundin auch in die großen Museen in New York, ins Kino, ins Theater. Sein Weg war richtig, bis sich in einer nächtlich leeren U-Bahn-Station drei flüchtige Einbrecher neben ihn stellen. Er wird verhaftet, gefoltert, aber er kommt frei und nimmt sich das Leben. In einer solchen Skizze zeigt Baldwin, dass der Mensch nicht nur durch die Tatsachen des Lebens gefährdet ist, sondern auch durch seine Vision vom Leben, mag sie positiv sein, wie die Bildung, mag sie negativ sein, wie die Angst, durch ein rein äußerliches und zufälliges Merkmal sterben zu können.

Sein Stiefvater dagegen ist ein äußerst jähzorniger, gewalttätiger und heuchlerischer Christ, ein scheinheiliger Hausmeister, beinahe muss man sagen ein Fundamentalist. Trotzdem ist das Leben in der immer größer werdenden Familie nicht nur schrecklich, denn John liebt seine Mutter und seine Stiefgeschwister, vor allem seine kleine Schwester, der er flüsternd rät, sobald sie auf ihren Beinen stehen kann, sie in die Hand zu nehmen und abzuhauen. John liebt auch seine Bücher und den wegen seiner Mädchengeschichten kritisierten Hilfsprediger. Überhaupt wird die Geschichte nicht ein bisschen selbstmitleidig oder larmoyant erzählt, schon gar nicht belehrend. Das Leben der Familie ist eigenartig auf und um den Sonntag und den Stiefvater zentriert. Aber gerade da liegt auch der Spielraum für John. Die Sprache des Erzählers und der kongenialen Übersetzerin Miriam Mandelkow gibt äußerst präzise die Mischung des Tons als die Mitte aus Gospel und Gosse wieder. Auch der Geist der Familie, all ihre Geschichten, sind aus der Bibel gespeist. Aber dann dringt die Straße mit ihrem Mord und Totschlag ein und übertönt die Bibel mit deren Mord und Totschlag. Weiter jedoch gibt es ganz lange und niemals langweilige meditationsartige Innenkommentare, die uns zeigen, wie jede Figur des Romans, so wie jeder Mensch im Leben, aus den Ereignissen Geschichten macht. Baldwin selber nennt das an anderer Stelle: aus der Unordnung des Lebens die Ordnung der Kunst machen.

Zu den erstaunlichen Eigenschaften des Romans gehört seine Präzision, mit der er die Verhältnisse und die Seelen, die Sprache und die geheimsten Gefühle der Menschen zu beschreiben vermag. Auch formal ist es Baldwin gelungen, eine überzeugende, fast adäquate Übereinstimmung zwischen den Geschichten und dem brillanten Stil zu finden. Die Vorgeschichten werden ohne Perspektivwechsel am selben Tag in Form von langen Gebeten den Figuren selbst in den Mund gelegt, ohne dass sie etwas, zum Beispiel ihre Geheimnisse, aussprechen müssen. Das Geheimnis des Stiefvaters, dass er schon einmal einen Sohn hatte, der aber statt von Gott berufen gewesen zu sein an seiner Wildheit zugrunde ging, wird virtuos als Spannungsmoment sowohl in seiner ersten tragischen Ehe als auch in bezug auf seine Schwester, zu der er ebenfalls eine sehr problematische Beziehung hat, benutzt. In dem selben Zeitraum und Maßstab, in dem das Geheimnis anschwillt, vermehrt sich aber auch die Fähigkeit des Stiefvaters, sein verlogenes Christentum als Selbstverteidigung einzusetzen.

Und langsam, beim Weiter- und Immerweiterlesen, dämmert dem faszinierten Leser auch, warum das Buch einen neuen deutschen Titel hat. Denn der amerikanische Titel beinhaltet sowohl die christliche Weihnachtsgeschichte, als auch, in einer älteren Textversion, das Suchen eines Menschen, der dann über die Berge und Hügel seinen Weg findet. Das bleibt dem deutschen Leser vielleicht verschlossen. Dagegen kennen wir alle, ob Christen oder Unchristen, die Karfreitagsantwort des weisen Yesus auf die Frage des bornierten Beamten Pontius Pilatus: dass er nämlich, im Gegensatz zu James Baldwin, nicht von dieser Welt sei. Baldwin hat sich viel später, nach diesem Roman, mit seiner berühmten Formel zur Welt bekannt: ‚I’m not a nigger. I’m a man.‘ Das scheint ein bisschen die neue Losung der gegenwärtigen Bürgerrechtsbewegung auszuschließen: BLACK LIVES MATTER. Aber beide gehören zusammen: erst wenn wir nicht mehr schwarze Leben extra zählen müssen, und wir alle sagen können: ich bin ein Mensch und nicht Mitglied einer Sorte Mensch, die sich für besser hält oder schlechtgeredet wird, erst dann wird die Welt besser geworden sein.

VON DIESER WELT ist nicht nur eins der besten Bücher, das ich je gelesen habe, sondern beginnt auch mit einem der besten ersten Sätze, mit denen je ein Roman begann: ‚Everyone had always said that John would be a preacher when he grew up, just like his father.‘ Man ahnt sofort: sein Vater ist nicht sein Vater, und John will auch nicht sein wie sein Vater, und er will ihn auch nicht zum Vater haben, sein Vater will einen göttlichen Sohn, der ihm dreimal verwehrt wird, deshalb beschimpft und verprügelt er John, der ganz gewiss kein Prediger, und der genauso gewiss nicht nur erwachsen wird, sondern wahrlich groß. Wir alle sind der Stiefsohn.

Und fast zum Schluss des Buches kommt ein noch besserer Satz, der zwar konkret von einer Romanfigur über eine andere Romanfigur geschrieben ist, aber für uns alle, für die ganze Menschheit gilt, auch für diejenigen, die nicht wissen, dass jedes Leben mit einer Bilanz, ob nun mit oder ohne Posaune des Jüngsten Gerichts, für das Jericho ein guter Ort geworden ist, endet: ‚Von allen Menschen … solltest du am heftigsten hoffen, dass die Bibel lügt – weil wenn die Posaune erschallt, brauchst du die Ewigkeit für deine Erklärungen.‘

 

 

James Baldwin, Von dieser Welt, dtv München; 2018

Raoul Peck, James Baldwin, I am not your negro, Edition Salzgeber, 2018                                                        oscarnominiert, berlinaleausgezeichnet