GETAN IST, WAS DU TUST

Wir Menschen neigen seit jeher dazu, unsere Gemeinschaften mit ideologischen oder sachlichen Schutzschilden zu versehen. Die Fragilität gesellschaftlicher Gruppen und Territorien bestätigt deren Notwendigkeit und die Geschichte bestätigt den Erfolg. Große Schutzglocken sind die sozial orientierten Religionen, von denen allerdings jede einzelne ihre Historizität abstreitet und sich auf eine direkte göttliche Gründung beruft. Das widerlegt die Ringparabel. In der Literatur taucht sie zuerst in Boccaccios Decamerone auf, die berühmteste Version legt Lessing seinem weisen Nathan in den Mund. Er will damit der ewigen Gretchenfrage, in diesem Fall des sogar historisch belegbaren Sultans Saladin ausweichen. Der braucht in Lessings Stück Geld für seinen Religionskrieg gegen die Kreuzfahrer. Der Legende nach, die allerdings nicht von Lessing kolportiert wurde, soll er die Kreuzfahrer statt durch eine Schlacht mit einer Kopfprämie vertrieben haben. Legendär ist jedenfalls seine Herrscherweisheit, die Lessing durch den erfundenen Hausphilosophen bekräftigt. Aber auch der junge Kreuzritter, der aus Versehen ein vermeintlich jüdisches Mädchen aus dem brennenden Haus rettet, erweist sich letztendlich als klug und aufgeklärt.

Einen Hausphilosophen hielt sich auch der sagenhafte König David. Es war der Prophet Nathan, der dann später auch dafür sorgte, dass von den vielen Söhnen Davids der weiseste, der auch der Sohn von jener Bethseba war, um die es in der Nathan-Parabel geht, König und Nachfolger seines Vaters wurde. Er erbaute den Tempel in Yerusalem, der bis heute ein Streitpunkt der Bevölkerungen ist, er ist durch seine richterliche Weisheit sprichwörtlich geworden und er hat in der Bibel drei Bücher hinterlassen, die nicht nur zitierbar sind, sondern auch tatsächlich zitiert werden.

Der Prophet Nathan hat uns die Erkenntnis hinterlassen, dass wir selbst unsere Schuld benennen und die Initiative ergreifen sollten: DU BIST DER MANN ODER DIE FRAU, die gefordert sind. Wir können weiterdenken: UND HEUTE IST DER TAG, an dem wir beginnen sollten. Die Ringparabel dagegen, der fiktive Nathan, fordert uns auf, nicht auf vermeintlichen Wahrheiten und Herkünften zu bestehen, sondern unserer von Vorurteilen freien Liebe, der Kraft des Zauberrings zu folgen.  Das hört sich einfach an, ist aber die schwierigste soziale Frage nach der des Hungers.  

Beide sagen uns: GETAN IST, WAS DU TUST, NICHT, WAS MAN DIR TUT.

DIE NATHAN PARABEL

[2. Samuel 12] [Sure 38, 21-27]

Als David noch ein halbwüchsiger Junge war, besiegte er den Riesen Goliath, den stärksten Mann der Philister, die Israel angegriffen hatten. David schleuderte mit einem Katapult einen Stein und zerschlug das einzige Auge des Riesen. Der König Saul, der ihm seinen Erfolg neidete, gab ihm dennoch seine jüngste Tochter Michal zur Frau. Nach Sauls Tod wurde David ein großmächtiger König, ein bedeutender Feldherr, der aber auch die Psalmen schrieb, auf seiner Kithara spielte und den Frauen zugetan war.

Eines Abends sah er von seinem Palast eine schöne Frau auf dem Dach ihres Hauses nackt baden. Es war Bathseba, die Frau des Generals Uria. Er wollte sie haben und schickte seine Diener, sie zu holen. Da sie noch schöner und begehrenswerter war, als er zunächst gesehen hatte, behielt er sie bei sich und schlief mit ihr. Als sie ihm nach einigen Wochen sagte, dass sie schwanger sei, erkundigte er sich nach ihrem Mann Uria. David befahl, Uria in eine solch aussichtslose Lage bringen zu lassen, dass er im Kampf sterben müsste. So geschah es.

Aber der Prophet Nathan wollte dem König erklären, dass sein Verhalten nicht akzeptabel sei und erzählte folgende Geschichte:

In einer Stadt lebten zwei Männer, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte 99 Schafe, der Arme hatte nur ein einziges Schaf, das er sehr liebte. Es lebte in seinem einzigen Zimmer mit ihm zusammen und er holte täglich frisches Futter für das Schaf.  Eines Tages bekam der Reiche Besuch aus einer anderen Stadt. Um ein Festessen zu bereiten, ließ der reiche Mann aber nicht eines von seinen vielen Schafen schlachten, sondern er holte das einzige Schaf des armen Mannes, schlachtete und bereitete es zum Festessen.

An dieser Stelle unterbrach der König David seinen Propheten Nathan und rief aufgeregt: ‚Dieser reiche Mann, wenn er in meinem Land lebte, wäre des Todes. Er muss verurteilt werden!‘

Da sagte Nathan: ‚DU BIST DER MANN. Du hast deinem General Uria die Frau genommen und ihn töten lassen, obwohl du mehr als genug Frauen hast. Du musst Buße tun. Aber ein Sohn von dir und dieser Frau wird nicht nur der nächste König werden, sondern ein weiser Mann der Weltgeschichte.‘

David weinte über seine Fehler und fastete tausend und einen Tag und enthielt sich aller Frauen und Freuden.

DIE RINGPARABEL

[Boccaccio, Decamerone] [Lessing, Nathan der Weise, III,7]

Nathan war ein alter Kaufmann in Yerusalem. Er wurde der Weise genannt, weil er weder Rache noch Täuschung und Betrug guthieß. Die Kreuzritter hatten ihm seine Frau und seine sieben Söhne erschlagen, aber er hatte ein christliches Baby als Pflegekind aufgenommen. Als diese Tochter groß war, brannte in Nathans Abwesenheit das Haus nieder, und ein gefangener Kreuzritter rettete Recha und verliebte sich in sie. Sultan Saladin, der Herrscher Yerusalems, brauchte für seine Kriege Geld, wollte aber Nathan nicht direkt um einen Kredit bitten. Deshalb riet ihm seine Schwester, eine List anzuwenden, um Nathan in Schwierigkeiten zu bringen. Saladin fragte also Nathan, welche der drei abrahamitischen Religionen – nach Vernunftgründen – die beste sei. Nathan erkannte die Falle und erzählte folgende Geschichte:

Es war einmal ein Mann, der einen Ring mit der Kraft besaß, seinen Besitzer vor Gott und den Menschen beliebt zu machen. Aber als der Mann alt wurde, wusste er nicht, welchem von seinen drei Söhnen er den Ring vererben soll. Denn sie waren ihm alle drei gleich lieb und er versprach in seinen letzten Tagen jedem der drei Söhne den Ring. Insgeheim ließ er von einem Goldschmied zwei täuschend echte Kopien anfertigen, so dass bei seinem Tod jeder der drei Söhne einen Ring und den Segen erhielt. Die Söhne bemerkten das nach einiger Zeit und gerieten in einen heftigen Streit, bis einer der drei vorschlug, sich gegenseitig zu verklagen und einem Richter die Entscheidung zu überlassen.

An dieser Stelle unterbrach Saladin den weisen Nathan und fragte – zu Tränen gerührt – ‚Was lässt du nun den Richter sagen, Nathan, was?‘

Der Richter sprach: Die Kraft des Rings wird selbst entscheiden, wer der richtige ist. Wenn jeder von euch, sich selbst aber nur am meisten liebt, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger und alle drei Ringe sind unecht, weil der echte vielleicht verloren ging. Wenn jeder seinen Ring den echten glaubt und seiner von Vorurteilen freien Liebe folgt, so wird in tausend tausend Jahren ein weiserer Mann entscheiden können, was gut und besser und am besten war.

Die Religionen unterscheiden sich in Äußerlichkeiten, nicht aber vonseiten ihrer Gründe, sagte Nathan, niemand kann verlangen, dass du deinen Vätern und Müttern weniger glaubst als ich den meinen. Der Mann, dachte Saladin, hat recht.