FROSCHSCHENKEL UND WILLKOMMENSKULTUR

Dass Platos Höhlengleichnis, dass also jemand, der gefesselt in einer kerzenbeleuchteten Höhle gelebt hat und nach draußen gelangt, dann doch die Höhle für die Welt hält, wird so gerne verdrängt, weil man es vielleicht nie durchdacht hat oder weil man sich vor dieser Erkenntnis fürchtet. Niemand will derjenige sein, der die Welt mit den Bildern auf einem Monitor verwechselt. Im Gegenteil, fast ein jeder und eine jede glaubt seinen Monitor als die Welt.

Dass wir weiterhin nur erkennen können, was wir schon erkannt haben, oder anders gesagt, dass wir stets alle je vom Mutterleib an gehörten Kommentare in jede Sinneswahrnehmung hineindeuten, ist eine zweite Prämisse der Unerkennbarkeit und gleichzeitig der Unentrinnbarkeit der Welt.

Dass sich deshalb so viele, Milliarden von Menschen, unter den Schutz und Schirm von Religionen, Ideologien und Verschwörungen begeben, ist allzu verständlich.  

Daraus folgt möglicherweise, dass die Krise der Demokratie, die wir im Moment zu erleben glauben, vielleicht vielmehr eine Krise der Informationsinflation ist. Fernsehen und soziale Medien bilden die Welt hyperredundant ab. Der Bürgerin und dem Bürger erscheint es durch die Omnipräsenz in den Medien so, als wäre beispielsweise das Gendern bereits allgegenwärtig und eine Forderung nicht von einer Randgruppe progressiver Parteipolitiker, sondern der Politik als Ganzer. Überhaupt trägt die Personalisierung des Politikbetriebs zu diesem Eindruck Entscheidendes bei. ‚Die Politik‘ wird als allmächtige, kaiserähnliche Person vorgestellt, so wie Gott, wenn man ‚der liebe Gott‘ denkt oder sagt.

 Der jahrhundertelange Wechsel zwischen autokratischen und demokratischen Regierungsformen lässt den Staat, also die Regierung, als mächtiger erscheinen, als er tatsächlich ist und sein kann.

Wir wollen das an fünf Beispielen untersuchen: die Westbindung der Bundesrepublik durch Adenauer, die Ostbindung Ostdeutschlands durch Ulbrichts Stalinismus, die neue Ostpolitik Willy Brandts, die Wiedervereinigung durch Kohl und schließlich die Flüchtlingspolitik Merkels.

Unsere These dabei ist, dass das Regierungshandeln das Leben der Bürgerinnen und Bürger höchstens zu fünf Prozent tangiert.

Trotz Adenauers politisch weitsichtiger Aussöhnung mit dem Nachbar- und Bruderland Frankreich, mit dem es eine zweihundert Jahre währende organisierte Feindschaft gegeben hatte, konnte keines der ebenso lange tradierten nationalistischen Stereotype (Froschfresser, Spaghettifresser, Tagediebe) kurzfristig überwunden werden. Erst die Reisefreiheit durch Wohlstand und Grenzöffnung erbrachte eine realistischere Sicht. Zeitgenössisch wurde als seine größte Leistung angesehen, dass er die letzten zehntausend Kriegsgefangenen aus dem ‚Reich des Bösen‘ zurückgeholt hat.

Der Stalinismus erschien der älteren Generation als eine Kontinuität autoritärer Herrschaft. Angehörige der sowjetischen Besatzungsmacht spielten im Leben der Bevölkerung keine Rolle, sosehr jetzt auch eine angebliche Freundschaft erfunden wird. ‚Die Freunde‘ war eher ein Pejorativ, hinter der vorgehaltenen Hand sagte man ‚die Russen‘. Beides war falsch. Mit Ulbricht verschwand, wenn auch nur sukzessive, der Stalinismus  und wich einem gemäßigten Konsumismus. Im übrigen wurde Ulbricht bei uns im Osten von der überwältigenden Mehrheit als Gleichzeitigkeit von Original und Karikatur wahrgenommen. Das hat nach ihm erst Tino Chrupalla wieder geschafft, dessen oft auch grammatisch falschen Kombinationen von Satzbausteinen so erheiternd wirken wie weiland Ulbrichts sächsisches Zeitungsdeutsch.

Dass Willy Brandt durch seine Annäherungspolitik den Ostblock zu Fall gebracht haben will, wollte 1989 niemand – weder im Osten noch im Westen – mehr glauben. Zwar wird er weiter als großer Kanzler verehrt, aber wohl eher emotional als Sympathieträger.

Kohl sah mit großem Wohlwollen auf sich selbst, wie er in Strickjacke Gorbatschow die Wiedervereinigung abtrotzte und abkaufte. Im Prenzlauer Berg dagegen dachten die yesusgleichen Stasiopfer, sie hätten allein durch die Sitzblockaden vor der Gethsemane-Kirche Honecker nach Lobetal verjagt. Dagegen glaubt die heutige AfD mit der Aneignung der ‚Wir sind das Volk‘-Formel die Wiedervereinigung nachträglich adaptieren zu können.  

Der Gipfel des Auseinanderklaffens von Regierung und Volk dürfte aber durch Merkels legendären Satz, dass ‚wir…es schaffen‘, erzeugt worden sein. Wahrscheinlich hat sie ganz pragmatisch die technische Seite der Aufnahme der Flüchtlinge gemeint, und sechs Millionen Flüchtlingshelfer standen auch bereit. Seit dem Tag geht aber erdspaltenartig der Riss zwischen der Rückbesinnung auf christliche Werte der Nächstenliebe und rassistischer Xenophobie. Gerade heute wieder – am 07.07.2024 – hat Alice Weidel im Sommerinterview behauptet, Angela Merkel hätte mit dem Schengen Abkommen die Flüchtlingswelle ausgelöst. Angela Merkel war aber 1985 Mitarbeiterin der Akademie der Wissenschaften der DDR in Ostberlin. Dass es jedoch um einen größeren Zusammenhang als Merkels Sätze geht, zeigt sich darin, dass in fast allen europäischen Ländern autokratische Herrschaftsformen zumindest in Erwägung gezogen werden.

Der Osten Europas, nicht nur der Nordosten Deutschlands, kannte lange Zeit vor dem Fall des iron curtain bereits Nachrichten, die den Charakter regierungsamtlicher Mitteilungen hatten, Manifestationen statt Vermutungen und Interpretationen. Besonders auch die Berufung auf die mit vielen Titeln attributierten Herrscher war hyperredundant. Diese Rolle haben heute die sehr oft nicht näher bezeichneten Experten übernommen.

Auch Dementis spielen keine große Rolle mehr. Man entlässt gute wie schlechte, falsche wie wahre Informationen als Massenware in den Raum und in die Zeit. Durch die schiere Menge relativieren sie sich selbst.

Die rechtsäußeren Politiker müssen also nicht, wie sie immer versprechen, das alte Parteiensystem zerstören, denn sie sind ja gerade Symptom seiner Auflösung, sondern sie ersetzen das eine hyperredundante Narrativ durch das andere. Welche Frage man ihnen auch stellt, sie antworten stets mit der Bedrohung von außen, die sie zu bekämpfen vorgeben. So gesehen leben sie schon in der Diktatur, die sie erst aufbauen wollen.

 Nicht nur die Fremden sind nicht wirklich willkommen, auch das Neue überhaupt wird misstrauisch abgewehrt. Nicht nur die Regierung, auch das Volk selbst blockiert die Modernisierung. Es gilt immer noch das Bild der Angst vor der Eisenbahn, deren tatsächliche Unfälle ins Apokalyptische gesteigert wurden. Selbst die heutige allgegenwärtige Kritik an der Bahn hat noch Reste der alten Abwehr. Schließlich wissen wir alle durch Erfahrung: IN JEDER REFORM LAUERT EIN SCHSMA.

FRIKTIONEN

 

Nr. 308

Autobahnen wurden zuerst in Amerika und Deutschland gebaut, damit Automobile unbehindert von langsameren Fahrzeugen, von Kreuzungen oder Ortsdurchfahrten vorwärts kommen. Fährt man nun aber zu Beginn des Hochsommers oder am Montagmorgen auf der A 9 in den Süden oder der A 2 in den Westen, dann wird das eigene Automobil durch unzählbare weitere Automobile behindert. Manchmal sitzen Rentner am Weg und zählen die unzählbaren Vehikel. Daraus kann man zwei Schlüsse ziehen: jede Erfindung oder Verbesserung schafft neue Probleme. Das Doppelparadox des Automobils besteht darin, dass es, je weniger Autos es gibt, desto ungerechter zugeht, je mehr Autos es dagegen gibt, desto undurchdringlicher und ungerechter wird der Verkehr. Das ist sogar ein klassisches Dilemma, und je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr kommt man zu dem Schluss, dass das ganze Leben ein Dilemma ist. Und je mehr man über diesen schönen Satz nachdenkt, desto mehr kommt man zu dem Schluss, dass er genau die Mitte bildet zwischen dem philosophischen – ein Problem mit zwei gleich schlechten Lösungen – und dem Alltagsbegriff – ganz allgemein eine ausweglose Lage. Das zweite Paradox: je stärker ein Automobil ist, desto größer ist die Abhängigkeit von ihm. Der zweite Schluss jedoch ist beinahe noch interessanter: sobald wir uns auf einen Weg machen, einen Entschluss verwirklichen, eine Aufgabe lösen, ein Leben leben, stoßen wir auf Schwierigkeiten, die wir vorher nicht kannten und absehen konnten. Umgekehrt heißt dies: dass man ständig Erfahrungen macht, die man dann nie wieder braucht.

Es besteht sogar die Gefahr, dass wir diese Erfahrungen als zusätzliche Behinderung empfinden könnten: Wir gehen einen neuen Weg, wir stoßen auf unvorhersehbare Schwierigkeiten und versuchen, sie mit alten Mitteln zu lösen. Am bittersten empfinden wir diese aufgetürmten Probleme, wenn wir mit anderen Menschen zusammen Probleme oder Aufgaben lösen, mit denen wir uns erfahrungsgemäß gut verstehen, die aber plötzlich nicht mehr mitmachen wollen oder können. Menschen, überhaupt Lebewesen, verfügen nicht nur über rationale, seit dem neunzehnten Jahrhundert weit überschätzte Lösungsalgorithmen, sondern auch über emotionale, tief eingegrabene Spuren. Beide können sich befördern und befeuern, gemeinsam wirken, aber natürlich auch gegenseitig behindern. Der schlimmste Fall einer solchen Behinderung ist die Spaltung, zum Beispiel die Schizophrenie. Andererseits ist jedes Schisma auch eine Konfliktlösung, denn oft genug wird die Spaltung des gegnerischen Schädels als eine Lösung angesehen.

Immer wieder entstehen, ob nun aus Spaltungen oder neuen Ideen, neue Parteien oder Bewegungen. Der Gedanke ihrer Gründung mag gut sein, vor allem gut gemeint, aber sobald sie die ersten Schritte machen, müssen sie zwangläufig stolpern, schlittern und scheitern Sie müssen, ob sie es wollen oder nicht, sich einerseits den Gepflogenheiten, die sie gerade bekämpfen wollten, anpassen, und andererseits einen großen Teil ihrer Ideen und ihrer Energie für den Machterhalt abstellen. Deshalb kann nur Politiker werden, wer Machtmensch ist. Genau das kann ihm später schlecht vorgeworfen werden.  Wir anderen folgen diesen Machtmenschen so sehr, dass wir selbst in der Demokratie alle Leistungen und alle Fehler immer mit einer Person in Verbindung bringen oder die Führungsperson ausdrücklich ausnehmen, wenn es um Fehler geht. Wir haben ein Bild der Welt, die von Menschen gemacht ist, und vergessen, dass  auch das Bild von Menschen gemacht ist.

Ein großer Teil des Risses, der heute durch die Welt geht, ist in Wirklichkeit ein gerissenes Bild. Noch vor hundert Jahren waren  drei Viertel aller Menschen Analphabeten, heute hat die Hälfte der Menschheit ein Smartphone. Nicht mehr der eigene Augenschein und eine überschaubare Ideologie entscheiden über die Glaubhaftigkeit, sondern Dutzende und Aberdutzende atomisierte und sich überschneidende und widersprechende Informationen. Auf der einen Seite gibt es ein Festhalten an archaischen Glaubenssätzen, auf der anderen Seite aber sekundenschnell wechselnde Informationsschnipsel. Die Medien müssen auch dann etwas berichten, wenn gar nichts passiert ist. Wir kehren zu unserem Anfangsgedanken zurück: am Morgen betritt ein missgelaunter Redakteur seine Arbeitsstätte, aber es liegt keine Nachricht vor, er hat auch keine Idee für ein Portrait oder einen Kommentar. Man muss gar nicht behaupten, dass er sich jetzt einen Mord ausdenkt, aber er wird etwas irrelevantes zu etwas relevantem zu machen versuchen. Vielleicht hat er Glück und seine Leser verlangen nur den zwölften Aufguss der Nachrichten von vorgestern. Wir vergessen zu leicht, dass es keine Staatsmedien mehr gibt, sondern dass eine Zeitung oder eine Fernsehsendung eine Ware ist, die verkauft wird. Natürlich gibt es staatsnahe Journalisten, es gibt ja auch staatsnahe Leser.

Diese überproportionale Personalisierung der Politik, die tatsächlich ein fast unentwirrbares Geflecht aus sich oft widersprechenden Kompromissen und nicht die einmalige Leistung eines einmaligen Politikers ist, und diese Monopolisierung eines Informationsmediums, das in Wirklichkeit ein Teppich oder ein Fluss aus vielen unwichtigen, nebensächlichen, redundanten oder vielleicht auch lebenswichtigen Nachrichten, Kommentaren, Bildern, Portraits besteht, sind ein großer Teil unseres Problems.

Wann haben wir das letzte Mal eine für uns lebenswichtige Nachricht gehört? Wann kam in welchem Fernsehsender etwas, das uns bis auf die Grundfesten erschüttert und zu gänzlich neuem Handeln befähigt hat? Nichts ist schädlicher als das Fernsehen, weil es Nähe suggeriert, obwohl es – richtigerweise – Fernsehen heißt und ist. Statt das Misstrauen immer neu zu formulieren, sollte man es einfach abschalten. Andererseits ist es schwer, gegen Gewohnheiten oder gar Süchte anzukommen. Mit diesen Friktionen müssen wir leben.

Der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz hat diesen Friktionsbegriff in dieser Bedeutung in seinem nachgelassenen Werk VOM KRIEGE verwendet. Sein Buch wurde viel gedeutet und viel missgedeutet. Man überlas gerne, dass er eigentlich nur Verteidigungskriege für gewinnbar hielt, man überlas, dass er begründete, dass jeder Krieg aus tausenden Schwierigkeiten besteht und deshalb die Neigung hat, sich von der Politik und von den allgemeinen Regeln zu entfernen, was später totaler Krieg hieß. Es ist ein durch und durch intelligentes und erstaunliches Buch. Clausewitz starb an der Cholera, und viele, die ihn kannten beobachteten, dass er nicht so ungern aus der Welt voller Friktionen ging.

Heute würde dieses große Buch geschrieben sein und wird gelesen für Leute und von Leuten, die lernen wollen, wie man einen Konzern oder ein Produkt in die Weltwirtschaft implantieren kann. Und da lernt man: Wirtschaft ist Chaos, sie folgt keinen Regeln oder jedenfalls nicht sehr lange. Schon allein die Friktionen zu überstehen, braucht es Genie.