SCHOLZ ODER CIRCUS

Scholz war gestern hier, aber ich wusste nichts davon. Zwar liegt die Hauptschuld dafür mit großer Wahrscheinlichkeit bei mir, aber ich bin immerhin mit einem SPD-Bundestagsabgeordneten auf Facebook befreundet. Das ist ein Mensch, von dem ich nicht regiert oder belästigt werden möchte. Nach meiner sehr subjektiven Beobachtung geht seine Kompetenz gegen Null. Allerdings habe ich nur einmal mit ihm gesprochen. Auf einem seiner Wahlplakate waren Hakenkreuze. Das Plakat hing an einer Kreuzung, an der ich noch nie – und ich wohne seit fast 35 Jahren hier – ein anderes Auto gesehen habe. Ich rief ihn also an und er sagte: ‚Da kann ich jetzt auch nichts machen‘. Er konnte also nicht hinfahren und das Hakenkreuz übersprühen. Er kannte dort keinen Sozialdemokraten, der das für ihn hätte tun können. Es gab keine Möglichkeit, das geschändete Plakat, und übrigens gehören Hakenkreuze zu den wenigen verbotenen Symbolen und Worten, die es bei uns gibt, abzunehmen. So stellt man sich die Regierung solcher Leute vor. Das Schlimmste daran ist noch nicht einmal die Untätigkeit oder die Inkompetenz, das Schlimmste ist, dass sie glauben, dass alles trotzdem immer so weitergeht wie bisher. Warum bin ich mit ihm befreundet, wenn auch nur auf Facebook? Man kann sich in einer menschenleeren Gegend nicht aus dem Weg gehen. Ich kenne noch weitere Sozialdemokraten, aber niemand hat mich auf Scholz aufmerksam gemacht oder gar eingeladen. Als Scholz, bevor er wider Erwarten Kanzler wurde, schon einmal hier und im Neubaugebiet Oststadt zur Diskussion bereit war, waren etwa dreißig Menschen da, von denen zwanzig den Kuchen gebacken hatten, den sie dort anboten. Einsam fuhr der Kandidat damals weg, eskortiert von einem einzigen Polizisten, als trauriger Kanzler erschien er nun wieder, aber ich wusste nichts davon.

Ich war statt dessen, und das hätte sich noch nicht einmal überschnitten, mit meinem Patenenkel im Zirkus. Das sind gleich zwei Optionen gegen den Mainstream, als dessen Repräsentant ich trotzdem von den Vertretern der drei zur Wahl stehenden Generaloppositionen (‚Merkel muss weg‘; ‚Scholz muss weg‘; ‚Merz muss weg‘) [AfD, BSW, WU] wahrgenommen werde. Im IC nach Rostock hat mir neulich ein reichsbürgerähnlicher Bahnsecuritymitarbeiter seine Zeitung erklärt. Ich hatte dummerweise versucht, die Zeitung kopfüber zu entziffern. Auch mein blog, den es schon viel länger gibt als die AfD, wurde schon von einem örtlichen AfD-Führer mit den Worten abgetan: auch nichts als Mainstream, das brauche ich nicht.

Aber noch in den Zirkus zu gehen, statt ihn zu kritisieren und aus Tierschutzgründen abzulehnen, ist ja gerade gegen die als woken Ungeist wahrgenommene und als Mainstream deklarierte Denk- und Politikart gerichtet. Zwar gehöre ich politisch und von der Lebensweise her eher zum postmateriellen Milieu, also zu den Leuten, für die es höhere, nichtmaterielle Interessen gibt, die die Welt retten wollen und nicht nur den Wohlstand sichern, trotzdem hängt mein Herz auch an alten, seit der Kindheit tiefverwurzelten Lebensweisen. Als Kind stand ich auf dem Karl-Liebknecht-Platz meiner Heimatstadt, der kurz vorher noch Adolf-Hitler-Platz geheißen hatte, obwohl weder Adolf Hitler noch Karl Liebknecht je diese kleine Stadt betreten hatten, und starrte gebannt nach oben, wo der in meinen Augen weltberühmteste und unnachahmlichste Artist Traber mit einem Fahrrad auf einem Hochseil fuhr. In meiner darauffolgenden alptraumhaften Nacht fiel er herunter und ich wachte schweißgebadet und tränenüberströmt auf. In den Zirkussen meiner Kindheit spielte noch eine Kapelle und traten noch Tiger auf. Das waren die einzigen Tiger unserer Kindheit, denn niemand fuhr mit uns zum nächsten Zoo, der weit entfernt war. Auch damals schon lebten nicht alle Menschen in Großstädten. Heute bin ich auch gegen Zoos, man muss die Tiere, glaube ich, anders retten als in Gefängnissen. Das wussten schon Rainer Maria Rilke und Rembrandt Bugatti, aber wir wussten es damals nicht und träumten vom Zoo und nahmen den Zirkus als Ersatz.

Dieser Artist Traber, der seinen Auftritt in meiner kleinen Heimatstadt glücklich überlebt hatte, gehörte zu einer alten Zirkus- und Artistenfamilie, genauso wie James Spindler, dem der Zirkus gehört, in dem wir gestern waren, oder wie Johnny Weisheit, André Sarrasani, wie Köllner, Frank, Lauenburger, Sperlich, Busch, Probst, Renz oder Althoff. An eine heute fast vergessene Zirkusfamilie erinnern in Magdeburg zweiunddreißig Stolpersteine ermordeter Familienangehöriger, allesamt Artisten, die sogar eine eigene Sprache, ein Gemisch aus Französisch, Jiddisch, Romanes und Zirkusbegriffen hatten. Deren Zirkus Blumenfeld hatte in seiner besten Zeit vor dem ersten Weltkrieg täglich 4.000 Besucher.

Gestern waren in der Hauptstadt der Uckermark gerade einmal knapp hundert Zuschauer in einem ziemlich großen Zelt, das bestimmt fünfhundert Interessierte hätte aufnehmen können. Es gab sehr gute Pferdedressuren, arabische Vollblüter, Friesenhengste, Shetland-Ponys und ein anthropomorphes Komikpferd, über das man streiten könnte. Brav liefen auch drei Kamele im Kreis. Zwei sehr gute Seilakrobatinnen wurden schließlich getoppt durch das leider so genannte Todesrad, denn es kam zum Glück niemand zu Tode, weder der schwungholende Assistent noch der tonangebende erstklassige Artist James Spindler, der mit schwarzem Augentuch, wie einst in meiner Kindheit Traber, und mit rasantem Absprung Glanznummern hinlegte, die den enormen technischen Aufwand mehr als rechtfertigten. Nicht überzeugend war dagegen der Clown und sein Kindermitspielprogramm und überhaupt die Gesamtstimmung und Moderation, die in kleineren Zirkussen persönlicher und mitreißender ist.

Mein kleiner Patenenkel stammt aus der Nachbarstadt, weil es bei uns keine Entbindungsstation mehr gibt. Seine Eltern dagegen kommen aus Eritrea, einem sehr kleinen Land in Ostafrika, einer durch einen dreißig Jahre währenden Bürgerkrieg erzwungenen Abspaltung von Äthiopien, einer bizarren Diktatur, die George Orwell nicht besser hätte erfinden können. Allerdings geht es in Eritrea weniger um die totale Überwachung als vielmehr um den totalen Arbeitsdienst, in den alle männlichen und viele weibliche Jugendliche nach der Schule gezwungen werden, deshalb hat keiner der weit über einer Million Flüchtlinge, davon etwa 130.000 in Deutschland, einen Schulabschluss.

Leider ist mein kleiner Patenenkel keine Fachkraft. Zu seiner Entlastung kann man aber sagen, dass auch bei uns Menschen nicht als Fachkräfte geboren werden, auch meine leiblichen Enkel nicht. Man muss sie ausbilden. Dafür gibt es in Deutschland die in Deutschland erfundenen Berufsschulen. Da mein kleiner Patenenkel bei solchen Gelegenheiten wie Zirkus, Museum, Theater, Konzert oder Kino der einzige Migrant ist, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir auch hier, obwohl bei uns angeblich ein links-grüner Zeitgeist herrscht, dem Mainstream entgegen schwimmen. Denn Ausbildung heißt nicht nur Schulbesuch, sondern auch osmotische Aufnahme der Kultur und Lebensweise. Kultur wird nicht per ordre de mufti und quasiautomatisch zur Leitkultur, sondern durch Leitung, Anleitung, Gewöhnung, Sozialisation, Fiktion. Kultur ist immer semipermeabel, weshalb genauso oft viele Widerstände überwunden werden müssen. Allerdings andererseits: Kultur ist Austausch, denn sie gibt uns etwas, wenn wir ihr etwas geben.

Alle rudern zurück, alle wollen plötzlich die Immigration stoppen, wir aber, mein kleiner Patenenkel und ich sagen: Niemand wird als Fachkraft geboren. Jeder muss ausgebildet werden. Weder folgt aus dem Geburtenrückgang, dass man ihn ’einfach‘ rückgängig machen kann, noch folgt aus dem Fehlen von Fachkräften, dass man sie ‚einfach‘ importieren kann. Im besten Fall kommen gute Eltern, die für ihre Kinder das Beste wollen, was dann auch das Beste für uns ist. Das Vorhandensein nichtausgebildeter Biodeutscher zeigt das Dilemma: wenn man nicht will, dass unter Brücken schlafende Menschen verhungern, muss man sie alimentieren, alimentiert man sie, will ein Teil von ihnen nicht mehr arbeiten. Das gilt für In- und Ausländer. Denn es geht nicht darum, woher du kommst, sondern wohin du willst.

Insofern war es nicht schlimm, dass ich Scholz verpasst habe, denn ich habe etwas für die Osmose getan. Er sagte ohnehin nur, dass er jetzt zurückrudern wolle.

ALLE JAHRE WIEDER…


Würde oder Leitkultur

Eine Kultur, die sowohl durch das eigene Leben als auch durch die Gesellschaft leitet, kann nur ein Regelwerk sein, das mindestens mittelfristig eine gewisse Rigidität aufweist. So muss etwa eine Regel oder Tugend hier bei uns sowohl zu Schillers Gedicht ‚Von der Glocke‘, bei dem schon die Diskrepanz zwischen deskriptiver und normativer Intention auffällt, als auch zu den Auschwitz-Mördern und später zu den Arbeitgebern der Gastarbeiter passen. Es ist schon eine sprichwörtliche Kritik am Konzept der Leitkultur, dass ein so gespreiztes Spektrum nur Sekundärtugenden enthalten kann. So muss etwa der junge Mann aus der ‚Glocke‘, der um die Liebe seines Lebens wirbt, genauso pünktlich und zuverlässig sein, wie der professionelle Mörder in Treblinka oder die Bundestagsabgeordnete der Grünen. Aber: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ordnung und Sauberkeit sind nicht kausal mit Deutschland verbunden. Kein Belgier oder kein Türke ist verhindert, diese und ähnliche Sekundärtugenden zu besitzen, kein Deutscher ist verpflichtet, pünktlich zu sein oder die Rechtschreibregeln außerhalb von Amt und Schule einzuhalten. Dass ein Türke oder ein Belgier, wenn er hier bei uns arbeitet, eventuell pünktlicher wird, als er bei sich zuhause war, zeigt, dass es eben gerade keine angeborene Kultur, sondern angewöhnte Wirtschaftsweise ist, pünktlich oder ordentlich zu sein. Diese Sekundärtugenden werden auch gerne ‚preußisch‘ genannt und verraten mit diesem Etikett ihre Herkunft im Protestantismus, wie Max Weber[1] annahm, und im Militarismus, der bis 1945 ebenfalls Wesensmerkmal des Deutschtums zu sein schien, dann aber plötzlich einem ausgeprägten Pazifismus wich. Der Pazifismus, der auch die – wie sich jetzt zeigt – sträfliche Vernachlässigung der Verteidigungsfähigkeit einschloss, mag seine Ursachen in der nach zwei verlorenen Weltkriegen späten Einsicht, aber auch in der Projektion des Militarismus auf die nun befreundeten Siegermächte gehabt haben. Weder der Bellizismus noch der Pazifismus sind also Bestandteile einer irreversiblen oder autochthonen Kultur, die für Ankömmlinge programmatisch oder gar verpflichtend ist. Zur Pflicht wusste schon Goethe, dass sie nicht in der Ausübung irgendwelcher Tugenden besteht, sondern in der Forderung des Tages[2].   

Es stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht das pandemische Auftreten der Idee der Leitkultur ein immer wieder versuchtes Remake des Autokratismus oder sogar eines tausendjährigen Reiches ist. Dabei müssen wir gar nicht nur und immer an das äußerst kurzlebige Nazireich denken, dessen eherne Werte in die Scherben zerfielen, die sie vorher selbst besungen hatten[3]. Letztlich geht jede Ideologie von einer universellen und langwährenden Wirkung aus. Schon das allein widerspricht jedem Nationalismus. Bis auf die katholische Kirche hat aber keine das 1000-Jahre-Limit geknackt. Nun aber sind auch ihre Tage gezählt. So wie eine offene Idee nicht in einem geschlossenen System überleben kann, so kann eine geschlossene Ideologie nicht in einer offenen Welt bestehen. Die Welt wird nicht nur durch Demokratie und Wohlstand immer offener, sondern auch durch eine jeden Schlupfwinkel der Welt erfassende Kommunikation. Dabei ist nicht nur das Medium selbst die Botschaft[4], sondern teils versteckt, teils offen gibt es eine wachsende Zahl von Botschaften. So wie das Christentum seine paganen Vorfahren einfach, leichtfertig und bösartig überschrieb, so erleben wir jetzt eine Metamorphose des Christentums.

Eine ‚Leitkultur‘ kann also bestenfalls der pathogene Ausfluss autokratischer Fantasien sein, der das Rad der Geschichte mit einem Kettenschloss arretieren will. Die Schubphasen der uns bekannten Geschichte, Hochkulturen, Renaissance, Aufklärung und Demokratie sind einerseits gerade durch den kulturellen Austausch bei gleichzeitiger Tendenz zum Individualismus bestimmt, andererseits und demzufolge müssen sie ein ganz anders geartetes verbindendes Element haben. Dieses Element muss die Freiheit des Einzelnen genauso intensiv schützen wie die Rechte der Gesamtheit. Anders gefragt: was hat ein Auschwitzmörder mit Albert Schweitzer gemeinsam?

 Soweit wir sehen, gibt es nur ein Konzept, das den Mörder, ohne seine Schuld zu tilgen oder gar zu vergeben, und Albert Schweitzer, ohne ihn in den Schmutz der üblen Nachrede zu ziehen, beschreibt: das der Würde.

Das erste Strafgesetzbuch, das dem Täter seine Würde beließ, ohne seine Schuld zu schmälern, stammt von Anselm Ritter von Feuerbach. Er schaffte nicht nur per Gesetz die Folter als untaugliches Mittel der Wahrheitsfindung ab, sondern begründete stattdessen die Kriminalistik als Methode der Verbrechensaufklärung. Ein Geständnis ohne Folter lässt dem Angeklagten seine Würde, gesteht er nicht, was er getan hat, verzehrt ihn sein Gewissen.

Ein solches Konzept der Würde widerspricht jedem ahistorischen Regelwerk. Dieses korrespondiert allerdings mit einem starken und erzieherisch-restriktiven Staat. Diesem Staat wird zugetraut, dass er, obwohl er die Komplexität der Welt und ihre mannigfachen Probleme offensichtlich und nachweislich nicht meistert, ebenjene Probleme selbst schafft. Am deutlichsten wird das wohl in der absurden Idee vom ‚Großen Austausch‘. Keine Regierung, weder der Entsende- noch der Empfängerstaaten wird der Probleme der Migration Herr, und trotzdem verdächtigt man sie, dass sie das viel größere Projekt des Austauschs einer ganzen Bevölkerung betreiben könnten.

Die zunehmende Komplexität der Welt führt also auf der einen Seite zu einer wachsenden Ratlosigkeit mit entsprechend verwirrten Regierungen, auf der anderen Seite aber zu neuer Sehnsucht nach Autoritarismus und Kommunarität unter einem omnipotenten Führer. Diese Führer sind es, die ebenso wie alle Argumente gegen die uniformierte und uninformierte Leitkultur sprechen: ersetzen sie doch das Charisma, das sie nicht haben, durch einen pomphaften pseudoreligiösen Kult, als dessen Ziel, Zweck und Ende sie schließlich selbst dastehen. Es spricht übrigens auch gegen die guten und originären Religionen, wenn sie sich in Kulten, Kutten und leeren Ritualen verlieren, statt der Menschheit ihre menschlichen Lehren zu vermitteln, wie zum Beispiel: DU SOLLST NICHT TÖTEN. DU SOLLST ANDERE SO BEHANDELN, WIE DU VON IHNEN BEHANDELT WERDEN WILLST. DU SOLLST ALLE MENSCHEN LIEBEN, SELST DEINE FEINDE, DENN DANN HAST DU KEINE MEHR. Stattdessen zählen sie ihre Sammelgroschen und bügeln ihre Talare, in denen der Muff von tausend Jahren Nichtsnutzigkeit stinkt.

Jede Leitkultur ist notwendig ahistorisch und gleichzeitig an die eigene Vergangenheit gefesselt. Jede Würde ist nackt und bloß der Unbill aller Unverständigen ausgesetzt und muss sich nur aus sich selbst heraus entwickeln. Geholfen wird ihr von einer Vernunft und Bildung, die nicht lediglich angetastet, sondern oft mit Füßen getreten wird. Man muss keinem Verein beitreten, um gut zu sein. Es reicht, gut zu sein. SEI GUT!


[1] Max Weber, Protestantismus und Kapitalismus

[2] Goethe, Maximen und Reflexionen

[3] ‚…wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt…‘

[4] Marshall McLuhan

ALLE JAHRE WIEDER….

Würde oder Leitkultur

Eine Kultur, die sowohl durch das eigene Leben als auch durch die Gesellschaft leitet, kann nur ein Regelwerk sein, das mindestens mittelfristig eine gewisse Rigidität aufweist. So muss etwa eine Regel oder Tugend hier bei uns sowohl zu Schillers Gedicht ‚Von der Glocke‘, bei dem schon die Diskrepanz zwischen deskriptiver und normativer Intention auffällt, als auch zu den Auschwitz-Mördern und später zu den Arbeitgebern der Gastarbeiter passen. Es ist schon eine sprichwörtliche Kritik am Konzept der Leitkultur, dass ein so gespreiztes Spektrum nur Sekundärtugenden enthalten kann. So muss etwa der junge Mann aus der ‚Glocke‘, der um die Liebe seines Lebens wirbt, genauso pünktlich und zuverlässig sein, wie der professionelle Mörder in Treblinka oder der Bundestagsabgeordnete der Grünen. Aber: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ordnung und Sauberkeit sind nicht kausal mit Deutschland verbunden. Kein Belgier oder kein Türke ist verhindert, diese und ähnliche Sekundärtugenden zu besitzen, kein Deutscher ist verpflichtet, pünktlich zu sein oder die Rechtschreibregeln außerhalb von Amt und Schule einzuhalten. Dass ein Türke oder ein Belgier, wenn er hier bei uns arbeitet, eventuell pünktlicher wird, als er bei sich zuhause war, zeigt, dass es eben gerade keine angeborene Kultur, sondern angewöhnte Wirtschaftsweise ist, pünktlich oder ordentlich zu sein. Diese Sekundärtugenden werden auch gerne ‚preußisch‘ genannt und verraten mit diesem Etikett ihre Herkunft im Protestantismus, wie Max Weber[1] annahm, und im Militarismus, der bis 1945 ebenfalls Wesensmerkmal des Deutschtums zu sein schien, dann aber plötzlich einem ausgeprägten Pazifismus wich. Der Pazifismus, der auch die – wie sich jetzt zeigt – sträfliche Vernachlässigung der Verteidigungsfähigkeit einschloss, mag seine Ursachen in der nach zwei verlorenen Weltkriegen späten Einsicht, aber auch in der Projektion des Militarismus auf die nun befreundeten Siegermächte gehabt haben. Weder der Bellizismus noch der Pazifismus sind also Bestandteile einer irreversiblen oder autochthonen Kultur, die für Ankömmlinge programmatisch oder gar verpflichtend ist. Zur Pflicht wusste schon Goethe, dass sie nicht in der Ausübung irgendwelcher Tugenden besteht, sondern in der Forderung des Tages[2].   

Es stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht das pandemische Auftreten der Idee der Leitkultur ein immer wieder versuchtes Remake des Autokratismus oder sogar eines tausendjährigen Reiches ist. Dabei müssen wir gar nicht nur und immer an das äußerst kurzlebige Nazireich denken, dessen eherne Werte in die Scherben zerfielen, die sie vorher selbst besungen hatten[3]. Letztlich geht jede Ideologie von einer universellen und langwährenden Wirkung aus. Schon das allein widerspricht jedem Nationalismus. Bis auf die katholische Kirche hat aber keine das 1000-Jahre-Limit geknackt. Nun aber sind auch ihre Tage gezählt. So wie eine offene Idee nicht in einem geschlossenen System überleben kann, so kann eine geschlossene Ideologie nicht in einer offenen Welt bestehen. Die Welt wird nicht nur durch Demokratie und Wohlstand immer offener, sondern auch durch eine jeden Schlupfwinkel der Welt erfassende Kommunikation. Dabei ist nicht nur das Medium selbst die Botschaft[4], sondern teils versteckt, teils offen gibt es eine wachsende Zahl von Botschaften. So wie das Christentum seine paganen Vorfahren einfach, leichtfertig und bösartig überschrieb, so erleben wir jetzt eine Metamorphose des Christentums.

Eine ‚Leitkultur‘ kann also bestenfalls der pathogene Ausfluss autokratischer Fantasien sein, der das Rad der Geschichte mit einem Kettenschloss arretieren will. Die Schubphasen der uns bekannten Geschichte, Hochkulturen, Renaissance, Aufklärung und Demokratie sind einerseits gerade durch den kulturellen Austausch bei gleichzeitiger Tendenz zum Individualismus bestimmt, andererseits und demzufolge müssen sie ein ganz anders geartetes verbindendes Element haben. Dieses Element muss die Freiheit des Einzelnen genauso intensiv schützen wie die Rechte der Gesamtheit. Anders gefragt: was hat ein Auschwitzmörder mit Albert Schweitzer gemeinsam?

 Soweit wir sehen, gibt es nur ein Konzept, das den Mörder, ohne seine Schuld zu tilgen oder gar zu vergeben, und Albert Schweitzer, ohne ihn in den Schmutz der üblen Nachrede zu ziehen, beschreibt: das der Würde.

Das erste Strafgesetzbuch, das dem Täter seine Würde beließ, ohne seine Schuld zu schmälern, stammt von Anselm Ritter von Feuerbach. Er schaffte nicht nur per Gesetz die Folter als untaugliches Mittel der Wahrheitsfindung ab, sondern begründete statt dessen die Kriminalistik als Methode der Verbrechensaufklärung. Ein Geständnis ohne Folter lässt dem Angeklagten seine Würde, gesteht er nicht, was er getan hat, verzehrt ihn sein Gewissen.

Ein solches Konzept der Würde widerspricht jedem ahistorischen Regelwerk. Dieses korrespondiert allerdings mit einem starken und erzieherisch-restriktiven Staat. Diesem Staat wird zugetraut, dass er, obwohl er die Komplexität der Welt und ihre mannigfachen Probleme offensichtlich und nachweislich nicht meistert, ebenjene Probleme selbst schafft. Am deutlichsten wird das wohl in der absurden Idee vom Großen Austausch. Keine Regierung, weder der Entsende- noch der Empfängerstaaten wird der Probleme der Migration Herr, und trotzdem verdächtigt man sie, dass sie das viel größere Projekt des Austauschs einer ganzen Bevölkerung betreiben könnten.

Die zunehmende Komplexität der Welt führt also auf der einen Seite zu einer wachsenden Ratlosigkeit mit entsprechend verwirrten Regierungen, auf der anderen Seite aber zu neuer Sehnsucht nach Autoritarismus und Kommunarität unter einem omnipotenten Führer. Diese Führer sind es, die ebenso wie alle Argumente gegen die uniformierte und uninformierte Leitkultur sprechen: ersetzen sie doch das Charisma, das sie nicht haben, durch einen pomphaften pseudoreligiösen Kult, als dessen Ziel, Zweck und Ende sie schließlich selbst dastehen. Es spricht übrigens auch gegen die guten und originären Religionen, wenn sie sich in Kulten, Kutten und leeren Ritualen verlieren, statt der Menschheit ihre menschlichen Lehren zu vermitteln, wie zum Beispiel: DU SOLLST NICHT TÖTEN. DU SOLLST ANDERE SO BEHANDELN, WIE DU VON IHNEN BEHANDELT WERDEN WILLST. DU SOLLST ALLE MENSCHEN LIEBEN, SELBST DEINE FEINDE, DENN DANN HAST DU KEINE MEHR. Stattdessen zählen sie ihre Sammelgroschen und bügeln ihre Talare, in denen der Muff von tausend Jahren Nichtsnutzigkeit stinkt.

Jede Leitkultur ist notwendig ahistorisch und gleichzeitig an die eigene Vergangenheit gefesselt. Jede Würde ist nackt und bloß der Unbill aller Unverständigen ausgesetzt und muss sich nur aus sich selbst heraus entwickeln. Geholfen wird ihr von einer Vernunft und Bildung, die nicht lediglich angetastet, sondern oft mit Füßen getreten wird. Man muss keinem Verein beitreten, um gut zu sein. Es reicht, gut zu sein. SEI GUT!


[1] Max Weber, Protestantismus und Kapitalismus

[2] Goethe, Maximen und Reflexionen

[3] ‚…wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt…‘

[4] Marshall McLuhan