
ROLLI
Ich weiß nicht, wie ich in dieses Kaff gekommen bin. Mit der Bahn, ohne Ticket. Das hieß früher einmal Fahrkarte und war bezahlbar. Früher, als ich noch zuhause Zuhause war. Jetzt bin ich hier auf dieser Bank gelandet. Es gibt auch Bahnhöfe ohne Bank. Aber das ist ein Kaff. Ich war vorhin beim Bäcker, das ist nur ein paar Meter von hier. Man scheut sich ja mit dem vielen Gepäck einen Meter zu viel zu gehen. Aber ich bin froh, dass ich etwas habe, zum Zudecken, zum Waschen. Am wichtigsten sind die Pflaster, man scheuert sich immer etwas auf. Der Winter kommt. Also zunächst erst einmal der Herbst. BUNT SIND SCHON DIE WÄLDER. Aber dann kommt der Winter. Und wenn es auch keinen Schnee gibt, es wird lange Zeit kalt. Richtig kalt. Also, ich war beim Bäcker und musste nichts bezahlen. Die beiden Frauen haben mir Sachen von gestern gegeben: Brötchen, sogar Kuchen. Alles von gestern. Der Bäcker ist in einer Baracke. Alles Baracken, vom Bahnhof bis zum Hochzeitsladen, der ist hinter dem Bäcker. Ich sehe mir sowas gerne an, obwohl meine Hochzeit schuld an meiner Katastrophe war. Also den Hochzeitsladen, nicht die Baracken. Baracken sind so, wie Menschen ohne Wohnung: es sind schon noch Menschen, aber da fehlt doch einiges. Und Baracken sind auch Häuser. Ja, Häuser sind es, aber wie, nach dem Krieg gebaut, billig übertüncht. Und das die ganze Straße lang, jedenfalls auf der einen Seite, wo man geht. Auf der anderen Straßenseite sieht man niemanden. Gestern.
Gestern war die Welt noch in Ordnung, als ich noch zuhause Zuhause war. Ich heiße eigentlich Rolf, aber alle sagen Rolli zu mir. Als ich noch in der Hütte gelebt habe, nannten mich einige den Flaschenklapperer, weil ich immer an dem Tag, an dem es Stütze gab, meine Pfandflaschen wegbrachte und ein paar Flaschen Bier kaufte. Und die Flaschen klapperten immer, weil ich mit dem Fahrrad fuhr. Aber es gab immerzu Streit. Die Hütte war eigentlich ein alter Stall, aber ohne Fenster, ohne Wasser, ohne Strom. Das Klo war das alte Plumpsklo hinter dem Garten, die Steffi, die mir das vermietete, hatte inzwischen längst ein Bad, wenn auch nicht pompfortionös, aber immerhin. Aber da musste ich dann schlussendlich weg. Und ich hatte da auch schon Kumpels, die mir sagten, geh da weg, das wird nichts mehr, wer dir so etwas auch noch vermietet, kann kein guter Mensch sein.
Aber die erste Zeit auf der Straße war nicht leicht. Zuerst war ich in Berlin. Aber wenn du da keinen kennst, bist du schlecht dran. Bist du schlechter dran. Und dann kommen noch die Typen aus Osteuropa, die nur den Sommer lang da sind, aber dir die besten Plätze wegnehmen. Du kriegst Geld in Berlin, es reicht fürs Essen und hin und wieder einen Schluck. Aber es ist auch hart. Und in den Unterkünften musst du früh erscheinen, wenn du einen Platz haben willst, früh und nüchtern. Aber wer ist das schon. Aber gegen Abend musst du einen Schluck nehmen, sonst hältst du die Kälte nicht aus. Aber du kannst deinen Weg auch nicht so einrichten, dass du da genau eine Stunde vor der Öffnung bist. Einmal schaffst du es gut, ein andermal eben nicht. Dann stehst du da mit Sack und Pack und musst den ganzen Weg wieder zurückgehen. Also du kannst auch mit der S-Bahn fahren, aber da sehen dich alle aggressiv, angstvoll und ablehnend an. Gut, du stinkst auch, du musst die Leute verstehen, dass sie sich wegsetzen, dass sie nicht neben dir sitzen wollen, dass sie dich gar nicht dahaben wollen. Früher taten sie schön, als du noch schön aussahst, aber jetzt rümpfen sie ihre gepuderten Nasen.
Also ging ich aus Berlin fort. Ich kam wieder in die Gegend, aus der ich stamme. Aber bis jetzt hat mich noch niemand wiedererkannt. Aus der Zeit, als mein Zuhause noch zuhause war. Hier in diesem Kaff gibt es nur zwei, drei von uns. Einen Alten, der an Krücken geht, jeden Tag einmal durch die ganze Stadt. Hin und zurück. Zurück und am nächsten Morgen wieder hin. Bis er hin ist, sagt er. Und er hat recht, wenn er aufhört zu humpeln, fällt er tot um. Ich weiß nicht, ob er bis zur Tanke kommt, ich meine die am Heim. Es gibt ja noch ein Heim her, die da drin sind haben nicht nur kein Haus, sondern auch kein Land. Und ein Kinderheim gibt es. Da sind die ärmsten von uns drin. An der Tanke am Heim treibt sich der Junge rum. Richtig jung ist der auch nicht mehr, aber jünger als der Alte mit den Krücken und jünger als ich. Ich bin der Mittler. Der Junge holt sich da immer Bier, seit er bei Kaufland Hausverbot hat. Bei Kaufland hat er immer die Einkaufswagen zurückgeschoben in der Hoffnung auf vergessene Euros. Bis sie ihn vertrieben haben. Jetzt nervt er die Tankefrauen. Manchmal hat er ein Fahrrad, manchmal auch keins. Wenn er keins hat, wurde es ihm geklaut, wenn er eins hat, hat er es ihnen geklaut. Aktiv und Passiv, das weiß ich noch. Das verwechseln wir gern.
Dahinten kommt jemand. Zwischen den Zügen ist hier sonst niemand, außer dem Flaschensammler, der keine Sozialhilfe kriegt, weil er ein Haus hat. Ich habe mir das Haus angesehen, es ist so eine Bruchbude wie er selbst auch.
Dahinten kommt jemand. Es scheint ein Mädchen zu sein oder eine junge Frau. Gut, die sprechen einen nie an. Es wäre mir auch sehr peinlich. Bei Männern ist das nicht so, die sind nicht so peinlich berührt. Geld bekommt man von beiden nicht, da sind sie gleichberechtigt. Sie liest den Fahrplan. Hier gibt es nicht so viele Züge. Ich kenne die alle. Ich habe schon oft den Fahrplan gelesen. Da ist nicht viel zu verstehen: grade Stunde hin, grade Stunde her. Dazwischen ist nichts und da kommt auch normalerweise nichts und niemand. Jetzt kommt sie näher. Sie sieht gut aus, gut angezogen sind die jungen Dinger. Ich habe auch eine Tochter. Die ist sogar schon älter als die hier. Nicht hinkucken, wegsehen, dass sie mich nicht anspricht. Ich drehe mich vorsichtshalber auf meiner Bank um.
MAXI
Dahinten liegt einer auf der Bank. Wahrscheinlich wird er besoffen sein, aber nein, der ist zugedeckt und hat jede Menge Gepäck bei sich. Da ahnt man Schlimmstes. Aber hier, in unserem Kaff? Sollte es doch stimmen, dass es immer mehr Arme gibt oder dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr öffnet? Ich bezweifle das eigentlich, denn diese Rechnung vergisst, dass es eine wohlhabende Mittelschicht gibt. Zu der gehören wir, und uns geht es gut. Jammern kann man immer, auch und gerade, wenn man ein Haus und zwei Autos hat und alle Nase lang in den Urlaub fährt. Wir sind nicht so überdreht, wie die Familie von Tobias, die fahren jedes Jahr mit zwei SUVs nach Italien, an einem hängt der Wohnwagen, an anderen das Boot. So ist es bei uns nicht. Wir fahren immer nach Kroatien. Mein Vater sagt, er mag das Flair des alten Ostens, außerdem ist alles billiger. Mein Bruder schwimmt in der glasklaren Adria, ich sehe mir die wunderschönen Altstädte an, mein Vater liest, da könnte er auch zuhause geblieben sein, und meine overprotecting Mutter kümmert sich bis zum Umfallen. Es gibt Arme, da scheint einer zu liegen, und es gibt Reiche, hier in unserem Kaff ist es nur der Apotheker. Aber die Menschen applaudieren nicht, wenn er aus seinem Porsche steigt. Sie üben sich lieber in Neid und wählen AfD. Noch komischer ist es, wenn sie auf die da unten neidisch sind. Der örtliche Führer der AfD warnt immer vor Bürgerkrieg und vor dem Aussterben der Bauern. In meiner Klasse ist der Sohn eines Bauern, denen geht es gut, sehr gut, bei denen ist alles in Ordnung, alles, aber auch alles. Dagegen ist unser Haus eine Bruchbude. Jammern kann man immer. Aber er ist mit 47%igem Direktmandat in den Bundestag eingezogen. Dagegen hatten sie bei der Bürgermeisterwahl, wo wir mitwählen konnten, keine Chance. Wogegen die alles sind, man fragt sich langsam, wofür sie eigentlich sind. Was machen die, wenn sie alles abgeschafft haben? So jetzt muss ich mich mal um den kümmern. Sollte es mit dem Medizinstudium klappen, kann ich mich auch nicht ekeln, wenn mal eine oder einer nicht aus dem Hochglanzmagazin stammt, sondern aus der vielzitierten Gosse. Man kann sich Menschen nicht aussuchen, sagt mein viellesender Vater, und da hat er wohl recht, mit seinen anderen Sprüchen liegt er nicht immer so gut.
Geht es Ihnen gut? Hallo, geht es Ihnen gut? Sind sie krank oder sind sie obdachlos?
Ja, im Moment. Noch gar nicht lange und auch gar nicht mehr lange.
Kann ich Ihnen irgendwie helfen?
Nein, danke, nicht nötig, aber trotzdem danke.
Sie wissen, dass es in unserer Stadt eine Obdachlosenunterkunft gibt?
Ja, das weiß ich, aber da will ich nicht hin.
Aber warum denn nicht? Sie können doch hier nicht auf dem Bahnhof schlafen.
Doch, doch, das kann ich, das ist nicht verboten. Ich habe über das Asyl schon viel Schlimmes gehört: Streit und Zank und Raub und Gier.
Ach so, das weiß ich natürlich nicht. Aber dann müssen Sie sich doch um eine Wohnung kümmern. Sie wissen, dass es hier in unserer kleinen Stadt freie Wohnungen gibt? Das ist hier nicht Berlin.
Ja, ich weiß, ich war auch schon bei einem Vermieter. Aber die haben keine Einraumwohnungen.
Ich würde auch mit Ihnen zum Amt gehen oder zu einem anderen Vermieter.
Nein, nein, danke, danke. Ich werde schon etwas finden.
Ja, das glauben Sie vielleicht wirklich, aber Sie wollen nichts dafür tun. Sie wollen eine Wohnung, aber Sie wollen nicht zum Sozialamt und zu dem nächsten Vermieter gehen.
Doch ich will schon gehen. Aber doch nicht jetzt.
Nein, jetzt nicht. Jetzt ist ja auch alles schon zu. Aber morgen früh. Morgen früh müssen Sie sofort zum Amt gehen. Ich gehe mit Ihnen. Ich schwänze sogar die Schule für Sie.
Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber es muss doch jemand verantwortlich sein für mich. Wenn man kein Gift hat, gibt es wohl nichts? Keine Wohnung, kein Brot, keine Wohlfahrt. Gift regiert die Welt.
Wohlfahrt? Gift?
Ja, so heißt das doch, wenn man sich um andere kümmert. So wie Sie.
Na gut, dann bin ich eben die Wohlfahrt. Dann müssen Sie mir aber auch folgen.
Nein, Sie sind sicher sehr nett und meinen es gut, aber Sie sind nicht die Wohlfahrt, denn Sie sind kein Amt und keine Kirche. Sie sind nett, aber niemand. Sie denken jetzt bestimmt: selbst schuld. Also dass ich selber schuld wäre an meinem Unglück.
Nein, das denke ich nicht. Ich denke, dass Sie Ihr Glück in die eigene Hand nehmen müssen. Also dass Sie selbst aktiv werden müssen. Also ich weiß jetzt nicht, wie ich es sagen soll, dass Sie mich verstehen.
Ich verstehe Sie gut, sagte Rolli unerhört. Aber es ist nicht so, wie Sie denken. Da ist nichts, was ich in die Hand nehmen könnte. Kein Glück, kein Unglück. Aber ich erwarte auch nichts. Sie erwarten etwas, weil Sie von der Gier und dem Gift beherrscht sind. EUER ENDLOS IST DIE GIER, DOCH WEITER KOMMT MAN OHNE IHR. Das ist mein Leitspruch. Das sagte mein Chef früher immer von der Pünktlichkeit. Der dachte, dass das Wichtigste im Leben die Pünktlichkeit ist. Dann aber ereilte ihn der Herzinfarkt, mich aber erwartete die Straße. Nun sagen Sie selbst, wer von uns beiden ist besser dran: er in seinem hübsch gepflegten Grab, ich auf meiner harten Bahnhofsbank.
Ich bin keine Richterin, sagte Maxi verstört, vielleicht werde ich mal Dichterin. Ich will, wenn Sie so nicht wollen, nicht Ihr Glück, Ihr Unglück schon gar nicht. Ich will nur, dass Sie nicht frieren und dass Ihnen hier nichts passiert. Als ich kam, haben Sie schon kurz an die Neonazis der neunziger Jahre gedacht, die schon einmal einen Obdachlosen angezündet haben, gar nicht weit von hier, in Greifswald, von Berlin ganz zu schweigen. Ich will, dass Sie ein Dach über dem Kopf haben und eine Tür zum Abschließen. Das ist alles, was ich will. Von Glück ist da keine Rede. Aber ich kann wollen, was ich will, wenn Sie nicht wollen, wird das alles nichts. Ich komme morgen wieder.
MEIERCHEN
Der liegt immer noch auf der Bank, der war doch schon gestern da. Du weißt es nicht? Du bist doch gestern auch neben mir gelaufen. Komm wir gehen mal hin und befragen den, was er hier will. Was wird er schon wollen. Wahrscheinlich will er nichts als nachts seine Ruhe haben. Aber wie will er ruhen bei dieser Kälte? Es ist doch nachts schon lausig kalt. So gesehen merke ich nichts vom Klimawandel und von der globalen Erwärmung. Dieses Jahr ist kalt, richtig kalt. Es gab schon Oktober, die waren wie Hochsommer. Aber es gab auch schon Oktober, die waren wie Winter? Ja, das mag sein. Aber dann ist der Mittelwert entscheidend. Weißt du, wie die rechtliche Lage ist? Ist es eigentlich verboten auf dem Bahnhof zu schlafen? Auf einer Bahnhofsbank? Nein, ich glaube es auch nicht. Solange er nicht in die Wartehalle einbricht, können wir ihm nichts anhaben. Wir müssten ihm schon mindestens eine Ordnungswidrigkeit nachweisen können. Ja, da hast du recht, eine Straftat wäre natürlich noch besser. Am besten wäre ein glatter Mord, dann wäre die Nacht schneller rum. Aber der liegt auf seiner Bank und denkt gar nicht daran, jemanden zu ermorden. Wenn er keinen Ausweis hat, können wir ihn wenigstens ausweisen. Nein, das war ein DDR-Witz: Bürger, können Sie sich ausweisen? Ach, kann man das jetzt selber?
Der schläft. Lassen wir ihn schlafen? Vielleicht hat er doch etwas auf dem Kerbholz. Außerdem müssen wir informiert sein über die Sicherheitslage im Stadtgebiet.
Mann, wachen Sie auf! Hallo, wachen Sie auf. Polizei, Personenkontrolle. Haben Sie einen Ausweis? Der Ausweis ist in Ordnung. Was machen Sie denn hier? Warum schlafen Sie nicht im Nachtasyl? Es ist nicht verboten, hier zu schlafen, aber es ist doch höchst unbequem. Sehen Sie, wir sind doch nicht nur für die Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten da. Wir sind doch sozusagen auch für das Glück der Bürger, für die gesegnete Nachtruhe und so gesehen für die Wohlfahrt da. Wir machen uns Sorgen um Sie. Sie könnten erfrieren, Sie könnten von der Bank fallen, Sie könnten überfallen werden. Hier gibt es tschetschenische Jugendliche und sehr weit rechte Mittelalte. Denen ist doch alles zuzutrauen. Es könnten Ihnen weitere Malaisen zustoßen, die wir jetzt nicht alle aufzählen können. Mann, packen Sie Ihre Siebensachen und trollen Sie sich ins Asyl oder zum Teufel. Was haben Sie gesagt? Wir sollen keinen Scherz und keine Tollerei mit Ihnen treiben? Nein, das machen wir nicht. Wie gesagt wollen wir nur Ihr Bestes und da Sie sich gerade im ziemlich schlechtest Vorstellbaren befinden, ist es ein Leichtes, Sie hier heraus und in bessere Zustände zu bringen. Du willst ihn liegen lassen? Wir haben ihn gewarnt, das stimmt. Wie weit müssen Warnungen Taten sein oder Taten werden? Reichen Worte, reichen Vorstellungen, reichen Ausmalungen nicht, um die Menschen auf die rechten Wege zu bringen?
Warum geraten die auf die schiefe Bahn nicht der Verbrechen, sondern des Lebens? Ich weiß es nicht, weißt du es? Auch nicht? Weiß es der Geier oder der liebe Gott? Ich glaube es nicht. Sie leben und laufen, aber kaum kommt eine schiefe Bahn, schon sind sie drauf. Und dann muss die Polizei helfen oder das Sozialamt oder die Volkssolidarität oder die katholische Wohlfahrt oder die Diakonie von Herrn Wichert oder Wicherl oder Wichers oder wie der hieß. Gut, es gibt auch Polizisten, die nicht rund laufen, so wie es unbelehrbare Lehrer gibt oder kranke Ärzte. Das gibt es alles, aber das ist doch keine Entschuldigung. Das Marktversagen ist auch keine Entschuldigung. Mag der Markt versagen, dann musst du doch nicht versagen. Sieh mal, im Straßenverkehr gibt es zu viele Schilder, aber das erlaubt doch niemandem so zu fahren, als wären da gar keine Schilder. Schilder sind Schilder, und nach denen musst du dich richten, ob es nun zu viele oder zu wenige sind. Du musst dich nach ihnen richten, du musst so fahren, wie es geschrieben steht. Der hier hat alle Schilder verpasst. Da stand ein Schild: Du sollst leben. Aber er hat gelesen: lebe vielleicht, vielleicht aber auch nicht, mal sehen, schaun wir mal. Das nächste Schild hieß: lernen, lernen und nochmals lernen. Da hat er wieder vorbeigeschaut, drüber, drunter, rechts daneben, links daneben. Überall hat er hingeschaut nur nicht auf das Schild, auf dem groß und deutlich geschrieben stand: du sollst lernen, bis dir der Kopf raucht, bis dir das Wissen zu den Ohren herausquillt. Aber er dachte: was geht es mich an, da sind doch genügend Musterschüler, an denen die Lehrer ihre Freude haben, und die Eltern, und die Sozialarbeiter und -arbeiterinnen, denn die meisten Sozialarbeiter sind Sozialarbeiterinnen. Und das letzte Schild: im Schweiße deines Angesichts sollst du deinen Lohn verdienen, denn sonst kriegst du nichts, das hat er ganz und gar überfahren. Das gibt es gar nicht mehr. Da hat er in der Zeitung gelesen, dass andere erben, wieder andere stehlen, wieder andere sind Influencer oder Youtuber. Alles neue Berufe ohne Arbeit, dachte er, als er das Schild überfuhr. Allen geht es besser als mir. Ich muss arbeiten, aber die verdienen fette Beute. Das hat er alles gedacht und flog er zuhause raus, also von da, wo er sein Zuhause noch zuhause hatte. Und nun liegt er hier auf der Bahnhofsbank in unserem menschenfreundlichen Kaff. Und wir, die beiden Streifenpolizisten der Nachtschicht, Meierchen und Ko, müssen überlegen, was wir mit ihm machen. Wir könnten ihn festnehmen und in die Zelle legen, ein Grund wird sich finden. Wir könnten ihn ins Nachtasyl bringen. Aber da ist jetzt niemand mehr, da müssten wir den Notdienst wachklingeln. Und schließlich könnten wir es so machen wie unsere Regierung: wir lassen alles beim Alten und lamentieren mit dem Volk gemeinsam, wie schwer wir es haben.
Da mussten sie herzlich lachen, die beiden Polizisten, Meierchen, den alle gut leiden können, die Verbrecher und die Polizeiführer, und sein Kollege, dessen Namen niemand weiß, weil er neu hier ist. Er stammt aus der Prignitz oder aus der Lausitz. Jedenfalls ist er nicht von hier. Hier ist er neu.
ROLLI
Das schlimmste an einem Bahnhof sind die Uhren. Immer muss man hinkucken, und die Zeit vergeht nicht. Jetzt kommt gleich der Vier-Uhr-Zug. Zehn Menschen warten bibbernd. Als ich noch zuhause Zuhause war, bin ich nie so früh aufgestanden. Ich stehe jetzt auch nicht auf, aber ich bin wach, hellwach. Die Polizisten sind weg, das Mädchen liegt bei sich zuhause im Bett und träumt von einem Jungen aus seiner Klasse. Und hoffentlich träumt der Junge auch von ihr. Dann wäre alles gut für die beiden. Wann ist schon einmal etwas gut für einen oder gar zwei Menschen. Je mehr es werden, desto weniger Glück haben sie. Glück scheint eine Zuteilung des Himmels zu sein. Der liebe Gott mit seiner großen Suppenkelle teilt es wie die Frau in der Tafel aus oder eben auch nicht. Seit ich dem Gift nicht mehr hinterher renne, kann ich über alles nachdenken. Ich glaube eigentlich nicht an Gott, aber das mit der Suppenkelle gefällt mir doch gut. Als ich bei der Armee war, damals im Osten, gab es eines Tages Weißkohlsuppe mit ganz viel Raupen. Der Koch stand mit seiner großen Kelle da und der Regimentskommandeur, den man geholt hatte, schrie ihn an. So würde ich mir Gott vorstellen, wenn ich ihn mir vorstellen würde. Das Mädchen wollte mir doch bloß helfen. Die hat es gut gemeint. Wahrscheinlich hält ihr Vater beim Abendbrot Vorträge über das Gutsein. Lass es gut sein, nein, lass uns gut sein. Lass uns gut sein, bitte. Man muss den Armen helfen, denn sie können nichts dafür. Aber ich brauche keine Hilfe. Ich brauche euer Gift nicht, ich habe gar kein Portemonnaie mehr. Die paar Piepen, die ich manchmal habe, habe ich in meiner Hosentasche, aber die hat ein Loch. Da muss man halt aufpassen. Aus dem Gift entsteht die Gier. Mehr als essen kann man nicht. EUER ENDLOS IST DIE GIER, DOCH WEITER KOMMT MAN OHNE IHR. Da hat sie gestaunt, die kleine Lady aus der erweiterten Schule. Aber die heißt jetze Gymnasium. Im Gym gehen sie turnen, im Gymnasium lernen sie ihr Gift verwalten. Soll und Haben. Bei mir war immer nur Soll. In der LPG hatten sie auch ein Soll, das sie nicht geschafft haben, das sie nicht schaffen konnten, das sie nicht schaffen wollten. Bei mir kam das Soll immer von selbst. Kaum war der Zehnte rum, sprang es in das rote Soll. Dann hieß es borgen. Bringt Kummer und Sorgen. Spinne am Abend.
Jetzt habe ich doch noch geschlafen. Jetzt kommt gleich der Sechs-Uhr-Zug. Der Bahnsteig ist voll. Alle machen einen Bogen um mich. Manche kennen mich schon, andere sind empört. Einer ruft lauthals: wo ist die Polizei, wenn man sie mal braucht. Zu unseren Kundgebungen kommen sie ungerufen, aber hier für Recht und Ordnung zu sorgen, sind sich diese Gutmenschen zu fein. Wenn wir regieren, wird sich das drastisch ändern. Wir ändern das. Das sind doch keine Zustände. Niemand beachtet ihn, zum Glück muss ich sagen, denn nichts ist schlimmer als ein Mob gegen unsereinen. Den Sieben-Uhr-Zug habe ich verpasst. Da muss ich noch einmal eingedruselt sein. Mit dem fahren auch nicht so viele. Der Acht-Uhr-Zug und der zehn-Uhr-Zug, die sind beide ziemlich voll. Da kann man sehen, wie viele Menschen nicht zur Arbeit gehen, jedenfalls nicht früh. Um zwölf Uhr kommen schon die ersten zurück, Berufsschüler mit Ausfall, Rentner mit Facharztterminen, Einkäufer. Um die Zeit sind immer noch viele Rentner unterwegs, auch ohne Termin. Sie fahren einfach so in der Weltgeschichte herum. Immer mit Wasserflasche und Rucksack. Viele werfen mitleidige Blicke zu mir. Heute wollte mir einer fünf Euro geben, aber ich habe sie nicht genommen. So billig sollen sie nicht davonkommen. Sollen sie ihr Gift doch behalten. Ich kann verhungern, das macht mir nichts, aber es verhungert sich nicht so schnell. Da findet sich noch immer etwas. Du weißt schon, die Bäckerfrauen mit ihrem ewiggestrigen Kuchen. Ganz ohne Moos.
Dann kommen die Schüler und die Leute, die gearbeitet haben, abends die ins Kino fahren, dann wird es langsam leer.
Der Zweiundzwanzig-Uhr-Zug ist durch und ich habe noch kein Auge zugetan. Das wird eine lange Nacht nach einem langen Tag. Ich muss aufhören, die Züge zu zählen und die Stunden. Das Leben wird noch länger, wenn man jede Stunde notiert. Manche schreiben ein Tagebuch. Das wäre bei mir langweilig, denn jeder Tag ist gleich. Ich könnte immer schreiben: heute siehe gestern oder siehe morgen. Es ist immer alles gleich. Ich liege auf meiner Bank und zähle mein Gift, die paar Kröten aus der kaputten Hosentasche. Ich kucke auf die Uhr, welcher Zug kommt, oder auf den Zug, welche Stunde kommt.
Vielleicht kommen die beiden netten Polizisten wieder. Ich habe mich schlafend gestellt und es hat geklappt: sie haben mich nicht abgeschleppt in ihre Heime oder Gefängnisse. Auch Wohlfahrt kann Strafe sein. Die verstehen nicht: ich liebe meine Freiheit mehr als sie. Die verstehen das nicht. Eine Gesellschaft, die nur auf Gift und Gier aus ist, versteht nichts von Freiheit. Ich bin arm, aber gierlos. Es wäre schön, wenn das nette Mädchen noch einmal kommen würde. Sie hat es versprochen. Aber vielleicht gibt es heute Hähnchen zum Abendbrot. Da muss sie lange knabbern. Und der Vater hält wieder seine Vorträge über den Zusammenhang von Gift und Güte.
Da ist sie ja. Sie ist doch noch gekommen. Und sie ist heute noch schöner als gestern. Aber irgendwann ist auch sie gestern schöner gewesen als heute. So geht es uns. Mit neunzehn waren wir alle schön. Ich darf sie nicht so anstarren.
Warum sagen Sie eigentlich immer Gift?
Weil ich mal einen Film gesehen habe, da hat ein Junge in deinem Alter Gift bei einem Apotheker gekauft. Aber der hatte ein schlechtes Gewissen. Er war halt arm. Das gibt es heute gar nicht mehr: arme Apotheker. Die Menschen sind so krank, dass die Apotheker zwangsläufig reich sein müssen. Der reichste Mann von diesem Kaff hier ist der Apotheker. Aber damals war das nicht so. Damals, in diesem Film hatte der Apotheker echte Bedenken, denn er konnte sich schon denken, wozu der Junge das Gift braucht. Also hat der Junge ihn beruhigt und gesagt: mach dir keine Sorgen, Apotheker, nicht du gibst mir Gift, sondern ich gebe dir Gift. So war das. Da musste das Mädchen lachen.
