
Dass die Lehrerzimmer samt ihren Schulen der Gesellschaft den Spiegel vors Gesicht halten, die Gesellschaft aber allzu gern und allzu lang die Augen verschließt, das ist trivial, wird aber seit Melanchthons Zeiten fast täglich beklagt. Doch darüber bemerkenswerte Kunstwerke zu machen, die ihrerseits den Schulen Spiegel sind und uns vielleicht, vielleicht zu besseren Eltern, Schülern und Lehrern machen, das ist so selten wie wünschenswert. İlker Çataks Drama ‚Das Lehrerzimmer‘ gehört auf jeden Fall dazu. Die junge Carla Nowak, topfit und engagiert, lehrt an einem Gymnasium Mathematik und Sport, hört, dass an ihrer neuen Schule gestohlen wird, sieht jemanden Geld aus der Kaffeekasse entnehmen und hat eine Idee aus dem neunzehnten Jahrhundert: den Täter in flagranti zu überführen. Sie präpariert ihr Portemonnaie und ihren Laptop und die Täterin geht in die Falle. Aber wir sind nicht mehr in der Vergangenheit. Die vermutliche Täterin, die Sekretärin Friederike Kuhn, verschanzt sich hinter ihrer Würde und dem Mangel an Beweisen. Sie inszeniert sich nicht als die arme Täterin, die Not leidet und Essen für ihre Kinder braucht, sondern als die gestresste, böswillig verleumdete Unschuldslämmin. Sie kann aber auch Psychopathin oder Kleptomanin sein, die nur durch die Existenz ihres Sohnes gebremst wird. Sohn Oskar, Mathe-As und Lieblingsschüler von Frau Nowak, entfaltet durch sein bloßes Dasein das Dilemma der überforschen und sichtlich überforderten Lehrerin samt ihrer Direktorin Dr. Bohm. Fast wie aus dem Baukasten erscheinen der cholerische Zyniker Liebenwerda, der vorauseilend gehorsame, überangepasste stellvertretende Direktor und die empathische Kollegin, die immer im richtigen Moment zur Stelle ist. Aber dieser Baukasten erinnert uns nur daran, dass Geschichten eben konstruiert sind, das Leben dagegen wie ein neuronales Netz von tausend Inputs getrieben, tausend nicht vorhersehbare Outputs produziert, pro Millisekunde, versteht sich. Das Schicksal in unserer Geschichte nimmt seinen Lauf, indem der kleine Oskar, es handelt sich um eine siebte Klasse, emotional auf der Seite seiner Mutter steht, bis zum Verbrechen, motivational aber auf der Seite seiner Lehrerin, denn in ihr sieht er seine Zukunft. Er genießt ihre Zuwendung, aber er misstraut ihrer Loyalität.
Das hat mit Schule nichts zu tun, die Schule ist hier nur das Abbild oder Paradigma jeder sozialen Gruppe oder gar gesellschaftlichen Gesamtheit. Selbst im Klassiker aller vermeintlichen Schulfilme, dem ‚Club der toten Dichter‘, geht es nur vordergründig um Schule und Unterrichtsmethoden, denn die beziehen sich auf Gegenstände, hier speziell auf Poesie und Prosa. Aber schnell wird klar, dass die Vater-Sohn-Tragödie von Neil, der Schauspieler werden will, aber vom Geist seines marionettenhaften Vaters in den Tod getrieben wird, die Lehrmethoden an Wichtigkeit weit übertrifft. Selbst die ein bisschen überromantische und klischeehafte Liebesgeschichte überragt die Schule, und es scheint so, als ob der zunächst nur tappende und suchende Todd Anderson, der dann mit seinem Rap über sich selbst hinauswächst, ein autobiografisches Bild des Verfassers Tom Schulman und der eigentliche Anlass für die Entstehung dieses Meisterwerks gewesen sein könnte. Die Gesellschaftskritik dieses Films steht soweit über der Schulkritik, dass man sich heute fragen kann, wie überhaupt die Vereinigten Staaten ein so innovatives, hocheffektives und uneinholbares Land geworden und geblieben sein können, mit so einem erstarrten, an Großbritannien angelehnten Elitenschulsystem. Kurz könnte man glauben, dass es doch auf Autorität und Faktenvermittlung ankäme. Aber diese Sicht ignoriert, dass es sich um eine Eliteschule handelt, dass fast alle Schüler aus Familien stammen, die ihren Kindern auch weiterhin alle Wege offenhalten können und dass der individuelle Spielraum schon allein aus der Tatsache erhellt, dass einer der Absolventen ein solch gültiges, fast schon klassisches Kunstwerk daraus zaubern konnte. So wie Goethes Werther trat auch dieses Meisterwerk zum exakt richtigen Zeitpunkt seine Reise in die Herzen der Menschen an: am Ende des Kalten Krieges, an dem wir alle, wenn nicht an das Ende der Geschichte, so doch allzu gern an den ewigen Frieden glauben wollten. Vor allem aber wollten wir an einen Bruch mit den verstaubten Traditionen glauben, alles würde sich bessern und auf Dauer gut werden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks wies den Weg in eine lichte Zukunft, aber wir übersahen dabei, dass dieser Zusammenbruch auch ein Sieg der anderen Seite war: ‚Mr. Gorbachev, tear down this wall‘ und die Mauern brachen und Millionen jubelten, aber andere Millionen sannen auf Rache, Revanche und Revision. Ein kleiner Oberstleutnant fuchtelte in Dresden mit seiner Pistole in der Weltgeschichte herum, und schon zehn Jahre später, von uns im Freiheitstaumel unbemerkt, hatte er es geschafft, in seinem korrupten Riesenreich zu herrschen und alles umkehren zu wollen.
Aber wir hatten noch etwas anderes übersehen: Wenn wir Freiheit ernst meinen, dann müssen wir auch eine wirklich offene Gesellschaft sein. Arbeitskräfte, Asylsuchende und Freiheitsträumer waren und sind uns willkommen, bringen aber nicht nur den schönen Götterfunken der Freude mit. Von diesen Problemen handelt ein weiterer, leider wenig beachteter Schulfilm, ‚Die Klasse‘ von Laurent Cantet. Er belichtet das Problem der Demokratie. Gerade der Lehrer, der sich am meisten öffnet, der das Chaos einer Multikulti-Klasse am besten erträgt, wird das Opfer verletzter Emanzipation. Souleyman aus Mali, der nicht glauben kann, dass sein Lehrer seine Fotos wirklich gut findet und als Selbstportrait akzeptiert, kann den Widerspruch zwischen seiner ihn liebenden Mutter, seinem streng traditionellen Vater und der Demokratie und Freiheit der Schule nicht anders lösen, als er es aus seinen bisherigen Konfliktlösungen kennt: mit brutaler Gewalt, mit dem Recht des Stärkeren, der in dieser Szene eben er ist und nicht sein Vater und schon gar nicht sein Lehrer. Auch die Schulkonferenz lastet dem Lehrer sein Fehlverhalten an, das darin bestand, zwei Schülervertreterinnen als schlampig im Sinne von unordentlich bezeichnet zu haben, was diese selbstverständlich in ihre Sprache übersetzen: Prostituierte oder Promiskuitive. Dieser Film zeigt die teils harte, aber auch wieder nicht unwitzige Realität in einer Pariser (oder Berliner) Problemschule. Manchmal dringt der Lehrer kaum durch, dann wieder erreicht er einen Teil der Klasse mit seinen guten Aufgaben und seiner verständnisvollen Zuwendung. Auch seine Geduld ist bewundernswert. Aber zum Schluss wird er als ein Vertreter des ungeliebten Systems verraten und geopfert. Es gibt jedoch eine versöhnliche Schlussszene: am letzten Schultag freut sich der multikulturelle Haufen über die liebevoll gedruckten und gebundenen Arbeitsergebnisse. Man spielt zusammen Fußball.
Die Verrechtlichung und demokratische Codifizierung fast jeden Handelns verbirgt die Tragödien und Begabungen. Der Mensch tritt hinter dem Gesetz und der Regel zurück, die er für sich, zu seinem Schutz geschaffen hat. Inzwischen verstehen auch immer weniger Menschen, Schüler, Lehrer, Eltern, Großeltern die Sprache dieser justiziablen Codifizierung. Das wird in den beiden jüngeren Filmen durch die tatsächliche Mehrsprachigkeit, besonders der Eltern, deutlich. Souleyman muss seiner Mutter die Worte des Lehrers und dem Lehrer die Worte der Mutter übersetzen und man sieht in seinem Gesicht das Ringen mit der und um die Wahrheit. Translation ist immer eine Chance zur Neuinterpretation. Alis Vater, der mit dem Verdacht gegen seinen Sohn, er wäre der Dieb, nur in seiner Muttersprache Türkisch fertig werden kann, muss erst aufgefordert werden, ins Deutsche zu wechseln, und da sagt er, und niemand ist erschrockener als sein Sohn: Ali klaut nicht. Und wenn er klaut, breche ich ihm die Beine.
Dagegen wirkt die kleine zierliche Hatice wie die personifizierte leidende Vernunft, die es jedem, auch der Mathematik, recht machen will, aber nicht kann. Sie ist eine wunderbare Metapher für unseren Gewinn durch Migration.
‚Das Lehrerzimmer‘ zeigt die Gleichzeitigkeit des Kollaterals der Ereignisse linear umgestülpt in achtzehn Schritten, die jeder traditionellen Dramatik wider-, aber der Wirklichkeit entsprechen: Es wird immer schlimmer. Schon als Frau Kuhn unter vier Augen zur Rede gestellt wird, zeigt sich der Schrecken. Sie springt in eine anscheinend vorgeübte psychische Rolle. Die Schulleiterin erkennt: Oskar ist glasklar, wir sind die Verwirrten. Ja, wir haben die Wirklichkeit mit unserem Netz von Gesetzen, Regeln, Handlungsanweisungen, Arbeitskreisen, überhaupt Gremien überzogen und verwirrt. Kaum einer traut noch seinen Gefühlen oder spontanen Intentionen. Es gibt kaum noch Initiativen und wenn, werden sie zerredet und bis zur Unkenntlichkeit verschriftlicht, schon das Wort, genauso wie ‚beschult‘ oder ‚bestuhlt‘, ist ein Ungetüm. Lehrkraft, Elternteil, Ortsteil all das sind die sprachlichen Opfer der Verrechtlichung. Kommt es dann doch zu empathischen Reaktionen wie durch die Lehrerin Carla Nowak gegenüber dem begabten Oskar, dann findet sich gleich ein wohlmeinender Kollege, der warnt: ‚Du musst den Jungen vergessen!‘
Die schönste Metapher in İlker Çataks Meisterwerk und bestem Schülerfilm seit dem ‚Club der toten Dichter‘ ist, neben Hatice, der Zauberwürfel, der perfekte Trost für einen verletzten Mathematiker. Interessant, dass noch vor dreißig Jahren Poesie als Lösung galt, jetzt aber Mathematik, vor allem in der Anwendung als IT. Aber der Schein trügt: was uns hilft sind die Geschichten im Buch, im Theater und im Kino. Danke dafür!
Und was passiert in den realen Lehrerzimmern?
In Deutschland gab es im zwanzigsten Jahrhundert einige, teils heftige Paradigmenwechsel. Sowohl 1918 als auch 1945 nannten die Menschen den Systemwechsel ‚Zusammenbruch‘ statt Aufbruch. Trotzdem ging das Leben weiter. Am erstaunlichsten war, und das zeigt die Trägheit jedes Systems, dass wenige Wochen nach der absoluten militärischen und politischen Niederlage erstens die Rentenzahlungen wieder aufgenommen werden konnten, und zweitens aber der Schulunterricht. 1945 gab es sogar zwei verschiedene Modelle: im Osten wurden alle belasteten Lehrer, soweit sie erkennbar waren, entlassen und so genannte Neulehrer im Schnellverfahren ausgebildet, im Westen dagegen setzte man auf den angeborenen Opportunismus der Beamten. Aber auch die Aufbrüche von 1933 und 1989 sind in ihrer Tiefe nicht zu unterschätzen. Die Lehrerschaft hängt zwar finanziell und geistig am jeweiligen Staat, hat aber auf der anderen Seite ein lebendiges, stets fragendes, auf Zuwendung und Sicherheit angewiesenes Gegenüber, die Schüler. Ohne Eid und Schwur kümmern sich zu allen Zeiten die Lehrerinnen und Lehrer überall um die ihnen anvertrauten Kinder. Dies gilt auch in Perioden der Kritik. Selbst die völlige Verkehrung des Eltern-Lehrer-Kinder-Verhältnisses durch staatliche Übergriffe (Honecker-Effekt) oder Helikoptereltern (double income, one kid) können an dem insgesamt positiven Bild kaum etwas ändern. Es gab immer auch verheerende Beispiele schwarzer Pädagogik wie Prügelorgien, Demütigungen und Suizide auf beiden Seiten der didaktischen Barrikade. Und trotzdem: trotz wachsender Weltbevölkerung und in einigen Ländern wachsender Zuwanderung bleibt das Gesamtklima der Schule stabil. In Deutschland leiden wir zusätzlich noch unter quälender Untätigkeit der im Föderalismus gefangenen Bildungspolitik, deren Wahn zu glauben, dass Bildungsreform gleich Schulreform ist, nur dazu führte, dass es inzwischen etwa siebzig Schultypen gibt. Auch das seit der Zeit vor dem ersten Weltkrieg mehr als umgekehrte Verhältnis der Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern besonders in der Grundschule ändert nichts an der positiven Grundierung der Schule.
Sie beruht vermutlich auf dem von Konrad Lorenz 1943 entdeckten Fürsorgeprinzip, dessen Auslöser er Kindchenschema nannte. Entgegen seinen teilweise sozialdarwinistischen Ansichten aus der Nazizeit beschrieb er an der berühmten Graugans eher antirassistisches und solidarisches Verhalten, wofür er 1973 den Nobelpreis erhielt. Dagegen ist die von ihm befürchtete ‚Verhausschweinung‘ des Menschen, seine Verwahrlosung und Kriminalisierung nicht nur nicht eingetreten, sondern hat sich als Nachkriegsverhalten herausgestellt, das dem Wohlstand, der Demokratisierung und Liberalisierung wich.
Auch in frühen Gesellschaften gab es schon eine Fürsorge-Delegierung etwa in der Großfamilie, bei der Jagd oder bei Initiationsriten. Schule ist so gesehen eine uralte Institution. Niemand wird bestreiten, dass die Schule für extrem Begabte und extrem Unbegabte teilweise schwierig zu durchlaufen ist, so dass diese Minderheiten oft trotz und nicht wegen der Schule das Leben bestehen. Niemand wird bestreiten, dass es unbeliebte, inkompetente und böswillige Lehrerinnen und Lehrer gibt. Aber ebenso wird kaum jemand bestreiten, dass er oder sie einen Lieblingslehrer und/oder eine Lieblingslehrerin hatte. Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass in der Schule, in welcher Form auch immer, ein zweites, ebenfalls von Konrad Lorenz entdecktes, imprinting stattfindet. Da Schule meist in der Jugend stattfindet, verbinden sich die Erinnerungen an die Schule symbiotisch mit den typischen Jugenderlebnissen und werden oft als sehr positiv empfunden. Selbst so scharf ablehnende und schulkritische coming-of-age-Romane wie ‚Unterm Rad‘ und ‚Der Fänger im Roggen‘ beruhen auf dem klassischen bürgerlichen Bildungsideal, davon abgesehen, dass sie nicht etwa outlaw-Lektüre, sondern absolute Klassiker des Bücherkanons sind.
Vor einiger Zeit hingen in Mecklenburg-Vorpommern überall Plakate, auf denen stand, dass Bauer der wichtigste Beruf der Erde sei. Aber irgendwo hat der Bauer auch schreiben gelernt, irgendwohin geht er, wenn er krank ist, irgendjemand holt seinen Müll. Solche rankings sind natürlich unsinnig. Aber es ist schon sinnvoll, wenn wir uns, besonders durch Geschichten, hin und wieder an unsere und unseres Nachbarn Stellung in der Arbeitsteilung erinnern.
Insofern ist der kleine Oskar aus der siebten Klasse des Gymnasiums im Film ‚Das Lehrerzimmer‘, dessen Titel eine Fortsetzung von ‚Frau Müller muss weg‘ befürchten ließ, die Metapher für die neuen Widersprüche und die alten Stärken der Uralteinrichtung Schule. So zerrissen das Lehrerkollegium auch erscheinen mag – und in der Realität auch oft ist -, so zeigt sich doch: Ziel des Tuns der oft verächtlich ‚Lehrkräfte‘ genannten Wunderheiler ist der Schüler Oskar. Er wird seine Mutter durchschauen oder im besten Fall sogar bessern. Die Geschichte zeigt auch, dass wir oft, meist sogar, nur einen Bruchteil eines Vorgangs erkennen können. Er wird, sollte er Mathematiker werden, ab seinem siebzehnten Lebensjahr nicht mehr mit uns kommunizieren können, aber mit siebenundzwanzig den berühmten Satz des… bewiesen oder widerlegt oder entdeckt haben. Ziel ist aber auch Hatice, dieses liebenswürdige Geschöpf des Ausgleichs und des sozusagen ewigen Friedens. Aber auch mit den zeitweilig als Ekel erscheinenden Mitmenschen müssen wir auskommen, und viele Lehrer sind da leuchtende Vorbilder. Man kann sich Menschen nicht aussuchen, die Schule ist der sprechendste Ort für diese These.
Der Film ‚Das Lehrerzimmer‘ lässt sie alle sprechen. Eine Geschichte bricht das Schweigen der Dinge und Prozesse. Aber eine Geschichte ist oft auch nur ein Blitzlicht auf einem weißen Blatt. Wir gehen nach Hause und überlegen von diesem Moment an neu.