BROKEN MESSAGE

NATHAN DER WEISE IN DRESDEN

Der Rikschafahrer, der eigentlich durch die Stadt führen wollte, freute sich, dass ich wegen des Theaters nach Dresden gekommen war. Er kannte die Inszenierung und fand sie auch gut. Jedoch gestand er mir, dass er nicht verstanden hatte, warum das Mädchen, ‚aber eigentlich ist sie ja kein Mädchen‘, er meinte Recha, plötzlich einen Vortrag über das Judentum hält.

In älteren, meist schon recht angestaubten Inszenierungen wartet man sehr lange, bis endlich die Ringparabel kommt, fast genau in der Mitte [III,7] des recht langen Theaterstücks. Die neueste Dresdner Inszenierung beginnt mit der noch ungebrochen scheinenden, aber lieblos hingehaspelten Botschaft, nimmt, sozusagen, die theoretische Lösung, die Aufforderung zur gegenseitigen und andauernden Duldsamkeit, als selbstverständlich und unumgänglich vorweg.

Die eigentliche Eingangsszene, das Straßentheater, das die Kriegsmaschinen und Hinrichtungen figuriert, figuriert die Gegenwart des Nahen Ostens und erinnert uns zugleich an die Vorgeschichte, an die Tragödie des Nathan, den Krieg, den dritten Kreuzzug der höllischen Heerscharen. Das Straßentheater zeigt ein Märchen, aber das Märchen zeigt die Wirklichkeit der Welt: ‚nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab‘. Die Märchenmaschinerie ist das Instrumentarium der Zeitlosigkeit. Um es gleich vorwegzunehmen: die Enthauptungsorgien und die Rachefeldzüge gehen weiter trotz Ringparabel, Bergpredigt und Marsch auf Washington. Das Theater spielt auch gegen die relative Unbelehrbarkeit von uns Menschen an.

Sultan Saladin (Philipp Grimm), dessen Text durchaus auch einen kleinen, lernenden Weisen abgeben könnte, wird hier als Karikatur der Macht vorgeführt. Alle Mächtigen, jedenfalls fast alle, wollen Pharaonen und Halbgötter sein, die Monarchen und Autokraten mehr, die Demokraten weniger, aber auch Scholz posiert noch als grinsender Zwerg der Macht. Saladin, der hier in Dresden selbst gerne weise wäre, steigert sich immer mehr in die Verächtlichmachung des tatsächlich oder wenigstens apostrophiert weisen Nathan. Keiner ruft den Namen ‚Nathan‘ öfter und lauter und verzweifelter. Aber ist nicht dieser ständige Verruf der Eliten auch ein Ruf nach neuen Eliten, auch wenn sie alte weise Männer sind?

Sittah (Fanny Staffa), die Schwester des Sultans, durchaus auch seine Einflüsterin und Kreditgeberin, ist Katalysatorin des Geschehens und Mentorin von Recha, der Pflegetochter Nathans. Sie führt im Schachspiel die Unkalkulierbarkeit des Lebens vor.

Das Verhältnis Nathans zu seiner Tochter und seiner Tochter zu Nathan ist der eigentliche emotionale Kern der Inszenierung. Nathan ist tiefdankbar, als er nach seiner Wiederkehr in das abgebrannte Haus Recha gerettet und unverletzt vorfindet. Er ist dem Tempelherrn (Paul Kutzner) nicht nur dankbar, sondern überwindet an ihm und durch dessen Tat jegliche Rache und jegliches Vorurteil. Beinahe könnte man sagen, dass die beiden einen Modellversuch für den Nahen Osten abgeben. Recha ist durch ihre Rettung in eine wahnhafte Verzückung geraten. Sie, die außer Nathan keinen Mann kennt, hält den Tempelherrn für einen Engel und betet ihn an. Nathan kann mit dieserart emotionalem Fundamentalismus gut umgehen.

Er muss es auch bei Daja (Gina Calinoiu), seiner Haushälterin, einer Kreuzzugskriegerwitwe. Daja, deren stumpfe Autoritätsgläubigkeit schon eine Entfremdung an sich bedeutet, entfremdet sich durch ihren Akzent noch mehr und fast möchte man glauben, freiwillig. Dafür spricht ihre eigenartige Zwitterrolle (Haushälterin versus Aktivistin) im Religionskampf und Shakespeares schöner Gedanke vom Theater als Spiegel und abgekürzter Chronik des Jahrhunderts [Hamlet, II,2]. Schließlich leben wir in einer großen Sprache mit vielen Akzenten und Facetten. Dagegen spricht allerdings, stupid, die Verständlichkeit und die sprachliche Vorbildrolle des Theaters. Aber das ist vielleicht nur eine Besetzungsfrage.

Bühnenbild, Kostüme und ein Großteil der Regie beziehen sich auf die anachronistische Struktur des Textes und illustrieren sie hervorragend. Die drei Zeitebenen, Kreuzzug (1189), Aufklärung (1779) und Gegenwart (25. 09. 2024) treten plastisch hervor. Lessing selbst bezweifelte die Bühnenwirksamkeit seines Textes, und erst Goethe (Regie) und Schiller (Redaktion) gelang der Durchbruch auf der Bühne. Hier nun in Dresden wird der manchmal tatsächlich leicht didaktische Text zum wahren, guten und schönen Spektakel. Zu Zeugen rufe ich die beiden neunten Gymnasialklassen auf, die hinter mir saßen und immer aufmerksamer wurden, und den Rikschafahrer.

Der zweite Anlauf, die Ringparabel zu präsentieren, wird jäh unterbrochen. Recha (Nihan Kirmanoğlu) macht sich zur Sprecherin der jungen Generation, der neuesten Gegenwart und der brachialen Gegenseite. Wie ein Einwurf der Vorurteile, wie eine durch Feedback übersteuerte Palästinenserdemonstration mit ihrer menschlichen Berechtigung und ihrer abscheulichen Hybris zelebriert sie den Protest gegen das überlieferte Bild, die notwendige neue Sicht, die Veränderung der Verhältnisse und auch sogar die veränderte Vater- und Tochterrolle. Nur dass das kein Vortrag ist, sondern ein misslungener Aufbruch. Denn Ignoranz ist keine Navigation in die Zukunft, die Synthese ist immer schwerer als die Antithese. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Recha aus der Schwärmerei kommt und nun in die Welt der Argumente stolpert. Nathan hat sich unterdessen im Kostüm des achtzehnten Jahrhunderts in seinen Übervater Lessing verwandelt und spielt nun, im dritten Anlauf, die Ringparabel. Dass das die verstocktesten Intoleranten nicht überzeugt, sieht man an den Wahlergebnissen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Aber das ist nichts Neues auf der Erde. Hafez-al-Assad, der Vater des syrischen Kriegstreibers und Massenmörders, hat sich einst zum neuen Saladin erklärt und für weise gehalten. Zur Erinnerung: Saladin hat gewonnen, weil er weise war, Assad dagegen hat verloren, weil er nicht weise war.

Nathan wird trotz alledem immer überzeugender: nun verlegt er das Parkett der Aufklärung als aalglattes Puzzle und folglich können nun alle Menschen die Arien der Aufklärung [‚In diesen heil‘gen Hallen kennt man die Rache nicht…‘, 1791] mit Füßen treten.

Den skandalösen und obszönen Auftritt des Patriarchen mit seinem dreimaligen ‚TUT NICHTS, DER JUDE WIRD VERBRANNT‘ könnte man für übertrieben oder satirisch halten, wenn er nicht so wahr wäre und heute noch fast täglich stattfände, wenn die kardinalen Woelkis dieser Erde ihre gestrigen Parolen lallen. Die bitterste Schmach im Zusammenhang mit dem Lessingtext besteht darin, dass keine der ewig streitenden und spaltenden Religionen auch nur im Ansatz ihre Botschaft von Liebe, Toleranz und Frieden verwirklicht hat. Dagegen ist die relativ junge Botschaft des Nathan – auch nicht ungebrochen – weiter verbreitet und ihre Verwirklichung wenigstens in Sichtweite. Gegen den mittelalterlich-kuriosen Aufzug des Patriarchen steht Nathans Bücherwand im Bühnenbild und in unseren Köpfen. Wir hoffen und argumentieren in seinem Sinn. Die Familie mag auch nicht mehr orthodox daherkommen, doch verstehen wir alle die Freude der Umarmung, die Lust der Verwandtschaft, den Segen der Grenzenlosigkeit.

Ahmad Mesgarha, der früher schon, auch in einer Dresdener Inszenierung, den Saladin gab, glänzt als weiser Nathan, als liebevoller Vater, als Reicher mit Verstand, als lernender und praktisch tätiger Denker, als toleranter Nichtschwätzer und Gestalter großer Gedanken und Emotionen. Als junger Mann hätte er auch einen stylischen Tempelherrn abgegeben. Die Schauspieler haben doch Glück, es ist ein schöner Beruf und eine noch schönere Berufung, und wenn sie dann älter werden, kommen noch einmal ganz große Rollen in ihr Leben: Faust, Lear und eben Nathan. Wir gratulieren Dresden zu diesem Weisen, zu dieser Ringparabel, zu dieser Botschaft und schließlich zu dieser Inszenierung!

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