ROMEO UND JULIA AUF DEM DORFE

The world is not thy friend

nor the world’s law.

[Romeo and Juliet 51]

Vielleicht gibt es keine Familienkriege mehr, weil es – außer im organisierten Verbrechen – keine Familien mehr gibt. Passend zum Tag der deutschen Einheit, vor dem manche Zeitgenossen immer noch etwas ratlos zurückschrecken, zeigte das Neustrelitz/Neubrandenburger Theater die – welt- und zeitweit wievielte? – Premiere des wohl berühmtesten Dramas über Fehde und Liebe: Romeo und Julia von William Shakespeare, der seit mehr als vierhundert Jahren tot ist, den Tag der Einheit gibt es dagegen erst seit 35 Jahren.

Neustrelitz hat ein kleines bisschen Romeo-und-Julia-Ambiente: die Adelsvillen, die minaretthafte Tudorgotik der wunderschönen Schlosskirche, die Balkone in lieblicher Landschaft, Skulpturen und Sichtachsen, das ist alles aus einem so schönen Gestern, dass man es sich beinahe zurückwünscht. Aber – auch das ein Blick in die Tragödie – der letzte Großherzog, der seinerzeit der reichste Junggeselle Europas gewesen sein soll, hat sich aus Kummer erschossen. Passend liegt er auf der Liebesinsel seiner Sommerresidenz in Mirow begraben.  

Die unverwüstliche, schon vierhundert Jahre währende Lebendigkeit von Romeo und Julia (gespielt von Charlotta Grimm und Kevin Knobloch) kommt durch ihr Schwanken zwischen Tragödie, worum es am Ende geht, und Komödie, wie das Leben so spielt, zum Vorschein. Man kann, wie Robert Wilson in seiner weltberühmten Inszenierung der Shakespeare-Sonette durch antikisierende Kostüme und entsprechendes Bühnenbild das Pathos der Texte betonen, oder, wie gestern in Neustrelitz geschehen, die Komödie zur Farce öffnen. Damit wird das mobile Theater mit vorgestellt, das so oft bei Shakespeare vorkommt, und das derb-obszöne Stegreif-Theater, das es höchstwahrscheinlich auch im Hause des Meisters gegeben hat. Es kann die aus heutiger Sicht skurrile Jugendlichkeit der beiden Protagonisten betont werden, die auf der Bühne mit ihrem komischen, akrobatischen, verkrampften, verkorksten Spiel meisterhaft vierzehnjährige Jugendliche imitieren. Aber diese hüpfenden Youngsters reden – angestiftet durch ihre Eltern und deren haarsträubende Konventionen – fortwährend von Heirat und Liebe als wären es Kürbisse auf dem Wochenmarkt. Auch die Mutter von Julia (Lisa Scheibner), die als Doppelrolle auch die Amme spielt und dadurch die Mutter in die Gefährtin und die absurde Erzieherin zweiteilt, trägt markante heutige Züge. Man sieht die prekär schreienden Mütter in den Kassenreihen der Supermärkte, wie sie versuchen, ihre Kinder von Zucker und Sucht fernzuhalten, an die sie sie längst verloren und wohl auch schon abgegeben haben.

Überhaupt: die Gegenwart, sie zeigt sich zuerst natürlich im Publikum, das sich gern, und für meine Begriffe etwas zu intensiv auf die Farce einlässt. Gelacht wird aber trotzdem fast ausschließlich über die originalen Shakespeare-Sätze. Erst ganz zum Schluss, als eine Leichenrede auf die andere folgt, kommt auch das Publikum zur Ruhe. Dadurch wird der Ernst des Lebens als Tragödie in den vorangegangenen zwei Stunden etwas verschenkt, ins Nebulöse verblasen. Mir schien das nicht die Intention der Inszenierung zu sein, sondern ein ungewollter, etwas bedauerlicher Nebeneffekt. Auch die ohrenbetäubende Lautstärke mancher Text- und Musikpassagen ist dieser Übertreibung geschuldet. Emphase übertönt hier die mögliche Empathie. Wenn auch Theater in der Übertreibung einen Wesenskern findet, wäre hier weniger mehr gewesen. Umso mehr kommt aber auch der Vater Romeos (Matthias Horn) mit seinem gut gespielten natürlichen Pathos zum Zuge.

Die Gegenwart zeigt sich aber auch in dem sozusagen in zweiter Ebene verhandelten Verhältnis von Realismus, Tragödie, Komödie und Farce. Es wird ja, in Bezug auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse, ein Satz von Karl Marx häufig zitiert, der besagt, dass alles in der Geschichte zweimal passiert: einmal als Tragödie und dann als Farce. Putin und seine autoritären Kollegen zeigen dagegen, und das haben sie mit dem paradigmatischen Drama vom Liebestod zweier blutjunger Protagonisten gemeinsam, wie jede Farce zur bitteren Tragödie verkommt. Im Falle Putins werden hunderttausende junger Menschen verkauft und geopfert. Daran wird man unweigerlich erinnert, wenn man die Zeit vor der Vorstellung zu einem Spaziergang durch den prachtvoll restaurierten Schlosspark ohne Schloss nutzt, der abrupt in einem sehr großen und sehr breiten sowjetischen Soldatenfriedhof mündet und endet. Das Theater in Neustrelitz gibt es schon seit 250 Jahren, aber der Bau mit dem schönen Dr.-Dr.-Schiller-Zitat ist identisch mit dem einst gleichnamigen Theater in Eisenhüttenstadt, und in dieser Stadt gab es einige Jahre lang das Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge. So hängt alles zusammen. Aber ob alles eine bloße und große Farce ist, das wage ich dann doch zu bezweifeln.

Zur Gegenwart, mit der das Theater immer, was es auch spielen mag, korrespondiert, gehört auch das plötzliche Auftauchen von Gundermann. Einerseits passt er natürlich zum Haus und zu uns, dem wahrscheinlich überwiegend östlichen Publikum, aber passt er andererseits, und sei es nur als ferner Kommentar, auch zum großen Stück des großen Shakespeare? Das zergrübelte ich und geriet – ohne es zu wollen – in den Schluss, und siehe da, die Musik wurde Requiem und fand sich damit in ihrer ureigentlichen und jahrtausendwährenden Funktion wieder.     

Das aufwändige Bühnenbild wurde zwar eifrig ausgespielt, aber es erschloss sich mir nicht ganz, blieb Magie, aber: ‚Der Dichtung heilige Magie | Dient einem weisen Weltenplane‘, so spricht Schiller in dem schon erwähnten Gedicht weiter. Lediglich die riesigen Lusitanischen Wegschnecken [Arion vulgaris], Schrecken aller professionellen und dilettantischen Gärtner, können als Metapher für schnelle Ausbreitung, Gefräßigkeit, Zerstörung des Gleichgewichts, Ekel und Allgegenwart verstanden werden. Auch vor dem Theater machen sie nicht Halt.

Gina Maria Böhlau als Benvolio und Vanja Hawemann sogar in einer Doppelrolle als Tybalt und Franziskanermönch müssen mit großer Leistung extra erwähnt werden, weil sie noch Studierende der Berliner Hochschule für Schauspielkunst sind. Hawemann choreografierte zudem die turbulenten Kampfszenen, auch sie ein Bild des Lebens wie des Straßentheaters, Klamauk auf seinen Urpunkt gebracht. Die ungeheuer voluminösen Kostüme zeigen als Nebeneffekt die Verwandtschaft zwischen Prunk und Punk. Die Zeiten kommen und gehen, sind sich aber ähnlicher als man denkt. Das gleiche gilt für die Menschen.

Mein Ideal für ein Shakespeare-Theater wäre ein Originaltext – the more I give the more I have for both are infinite [Romeo and Juliet 2²]  -, dazu Musik vom zweiten zeitlosen Genie Bach und ein Bühnenbild vom dritten im Bunde: Michelangelo. Aber in mein Theater würde niemand kommen oder wer käme, würde nichts verstehen. Deshalb bringen nur Kompromisse zu diesem Ideal volle, ausverkaufte Häuser und ein Publikum, das herzlich, aber nicht frenetisch applaudiert. Das war ein langer Abend voller Überraschungen und großen Leistungen.