HOFFNUNG

THE WORLD IS NOT THY FRIEND NOR THE WORLD’S LAW[1]

Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen[2].

schnelllangsam
TechnikHeimat
GeldLiebe
KommunikationGlaube
MobilitätNobilität
KulturNatur

Gift und Geld sind zwei schnelle Lösungen für hoffnungslose Situationen. Ein junger Mann will seine Geliebte und sich umbringen – ihm fehlt das Gift. Einem Apotheker fehlt das Geld, aber stattdessen hat er reichlich Zweifel und Skrupel. Romeo, der resignierte junge Mann, sagt in seiner forschen Jugendlichkeit: die Welt ist nicht dein Freund. Freud hat es 1930 allgemeiner beschrieben: das Leben ist zu schwer ohne Schlaf und Traum und Betäubung[3], denn wo die Hoffnung fehlt, regiert das Gift.

Einerseits bemächtigen sich fast alle Ideologien, Philosophien und Religionen der Hoffnung als willfähriges Instrument, andererseits wird sie als vermeintliche Weichspülung verächtlich gemacht. Wer an das Recht des Stärkeren glaubt, braucht keine Hoffnung, denn er glaubt sich schon als Gewinner. Wer sich als Verlierer sieht, braucht meist auch keine Hoffnung, denn er sieht sich schon verloren. Hoffnung ist das Salz in der Suppe.  

Wohl die meisten Bewohner des Anthropozäns setzen auf die schnelle Hoffnung, auf Technik und Geld, auf die Geschwindigkeit der Gedanken und Gestalten und glauben an die Macht der Raserei. Aber es gibt auch die Fraktion der Langsamkeit. Sie setzt auf Heimat und Glaube und glaubt, dass Heimat nicht vergeht und Liebe ewig fortbesteht. Letztlich geht es immer auf die uralte Fehde zwischen Freiheit und Ordnung zurück. Wir erfinden eine Technik nach der anderen, das Rad und den Roboter, um uns die Arbeit zu erleichtern und beschleunigen. Andererseits hängen wir an der inneren und äußeren Heimat, an der Muttersprache wie am Vaterland. So sagen manche: Geh dahin, wo du hingehörst. Sie wollen die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht gestatten und hoffen selber auf den Bestand, darauf, dass sich alles gleichbleibt.

Selbst im Sprichwort wird die Hoffnung diskreditiert: hoffen und harren / hält manchen zum Narren. Da ist sie wieder: die Zweiteilung, die Dichotomie, damit die einen gut und richtig sein können, müssen die anderen zu Narren erklärt werden. Wer auf Emanzipation hoffte, war ein Narr wider die Ordnung. Darüber wurde das gesamte neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert zur Epoche der Emanzipation der Frauen, der Kinder, der Afrikaner, der Mühseligen und Beladenen, der Kranken, all jener, die anders sind. Es sollte und wird kein Anders mehr geben, nichts anderes heißt ja ALLE MENSCHEN WERDEN BRÜDER[4], wie der Schwesternfreund nicht nur wegen des Reims und wegen des Rhythmus dichtete, nein, auch wegen seiner zeitgemäßen Blindheit.   

‚Vielleicht liegt die Wurzel unserer Misere, der menschlichen Misere, darin, dass wir die ganze Schönheit unseres Lebens opfern, uns von Totems, Tabus, Kreuzen, Blutopfern, Kirchtürmen, Moscheen, Rassen, Armeen, Flaggen und Nationen einsperren lassen, um die Tatsache des Todes zu leugnen, die einzige Tatsache, die wir haben.‘[5] Vielleicht wird alles besser, wenn wir die Hoffnung als Tatsache zulassen und nicht mehr als Narretei abtun.

Ziel der Hoffnung ist das Ende jeder Dichotomie, wenn wir das Sowohlalsauch nicht mehr als Beliebigkeit oder Synkretismus oder als cancel culture verstehen, sondern als Chance, als Synthese, als Komposition, als Kreation unseres Selbst. Ziel der Hoffnung ist es, dass auf unserm Klavier keine Reihe von Tasten als unberührbar gilt.[6]  Ziel der Hoffnung ist es, dass die Hoffnung nicht aufhört.   


[1] William Shakespeare, Romeo und Julia, 51

[2] 1. Brief des Paulus an die Korinther, 1313

[3] Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main 1984, S. 73

[4] Friedrich von Schiller, Ode an die Freude, Werke, Cotta 1869, Band 1, S. 53

[5] James Baldwin, Nach der Flut das Feuer, dtv München 2018, S.100

[6] Albert Schweitzer, Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, Ostberlin 1963, S. 59

KAFKA IN GOGOLOW

Eine Geschichte

1

Der Name Wagenseil leitet sich tatsächlich von dem ausgestorbenen Beruf des Wagenseilers her, der Seile für die verschiedenen Wagen herstellte, während der Wagner die Räder baute und der Stellmacher die Grundkonstruktion des Wagens erdachte und herstellte. Und, so dachte Dr. Zofijah Wagenseil auf ihrer Fahrt durch das herbstliche Nordostdeutschland, und die Grundkonstruktion der Gesellschaft wäre es, die völlig neu durchdacht werden müsste. Ihre Mutter, eine belesene Bibliothekarin, hatte der kleinen Zofijah nicht nur das innere und äußere Schönheitsideal einer Rosa Luxemburg anerzogen, sondern auch den tiefen Bezug zu den altehrwürdigen Handwerksberufen wie man sie in Jena, der Heimatstadt der Mutter und der kleinen Zofijah, noch in den Namen der alten Gassen, wenigsten der Wagenseiler- und der Fischergasse ablesen kann. Als Zofijah noch klein war, wirklich klein, interessierte sie sich natürlich nicht so sehr für die Namen der Gassen und ihren eigenen Namen, sondern sie ging – erfolglos – der Frage nach, warum sie eigentlich, obwohl sie sowohl schön als auch ziemlich schlau war, gemobbt wurde, und warum ein so großer Dichter wie Schiller in seinem Garten ein so kleines Denkhäuschen sich hatte bauen lassen. Später, etwa in der zehnten Klasse, las sie dann – quasi als Erklärung des Gartenhäuschenphänomens – den berühmten Satz des Jenaer Großmeisters Nr. 2, die Nummerierung rührt daher, dass ihr später klar wurde, dass Hegel die Nummer 1 erhalten musste, dass die Dinge der Welt zwar eng sind, die Gedanken im Hirn aber weit. Die Gedanken sind weiter und breiter als die Welt, das, so glaubte Zofijah nun, könne man auch an ihrem Dienst-Audi-A 8 sehen, der ihr als Vorsitzende einer im Bundestag vertretenen Partei mitsamt Chauffeur zustand.

Sie fuhren die Autobahn A 11 in den Nordosten und Zofijah stellte sich vor, wie Hitler bei deren Einweihung mit zum Hitlergruß erhobener rechter Hand die Strecke von Berlin nach Stettin in seinem offenen Zwölfzylindermercedes gefahren ist. ‚Wieviel Zylinder haben wir eigentlich?‘ fragte sie unvermittelt den Chauffeur. Der Chauffeur stutzte. Seine Chefin, Dr. Zofijah Wagenseil, fragte ihn schon manchmal etwas, zum Beispiel wieviel ein Stück Butter kostet oder ob seine Frau auch arbeitet und ob sie mit dem Geld auch nicht hinkommen, trotz double income no kids. Aber über das Auto hatte sie noch nie etwas wissen wollen. ‚Wir haben sechs Zylinder, Frau Doktor, aber die bringen fast dreihundert PS.‘ ‚Aha‘, antwortete Wagenseil, die schon längst mit ihren Gedanken wieder bei Hitler war. Den bewunderte sie natürlich nicht wegen seiner Leistungen, besser Untaten. Aber sie fand schon, dass er diesen eigenartigen Ton des Nichtlesers oft gefunden hatte. Aber er war ja auch ein Nichtleser. Angeblich hatte er nur antisemitische Broschüren gelesen, und das auch nur bis zum Beginn des Weltkriegs. Da hatte sie es schwerer, denn sie war und ist Leserin und musste mühsam den Sound der Nichtleser nachahmen. So viele Sollleser und nur eine Istleserin. Deshalb erhob sie beim Reden immer die Arme wie die Adorantinnen im Neubrandenburger Neuen Tor. Sie schwärmte schon von sich und das wussten sie und der Fahrer auch. Würde sie jetzt an der Raststätte Buckowsee aussteigen und einen Kaffee trinken wollen, so wüsste der Fahrer, dass es sie nicht nach Kaffee, sondern nach einem Bad in der Menge dürstete. Wäre sie aber tatsächlich ausgestiegen, so hätte sie bemerkt, dass es hier keine Menge gab, außer wenn zwei Tränenbusse gleichzeitig eintrafen. Tränenbusse sind Rentnerfahrten in die alte Heimat, aber nicht mehr bis Tilsit, nur noch bis Tauroggen. Buckowsee ist nicht Hermsdorfer Kreuz.

Aber sie hatte noch genügend Kaffee in der Thermoskanne, die ihr Gustav Wasserthor, ihr zweiter Ehemann bereitet hatte. Ihr erster, geschiedener Ehemann hatte sich neulich in Moskau als alternativer Bundeskanzler in Szene gesetzt. Aber vor dem Vorhang saß wohl niemand, kein Lawrow, kein Medwedew, kein Schojgu, schon gar kein Putin. Das wäre eine gute Querverbindung gewesen: der Rainer beim Putin und der Gustav beim Papst. Gut, jetzt hatte sie den Gustav mit all seinen Erfahrungen und connections. Neuerdings, seit die Partei läuft, gibt er wieder Interviews. Und er wuselt, wenn er mitkommt, rührend in ihrem Hintergrund, immer die Thermoskanne in der Hand und die Augen aufs ZDF gerichtet. Nun waren sie schon an der Raststätte Buckowsee vorüber, als das Telefon klingelte. Zofijahs Mutter quälte sich schon ein Leben lang mit der ungewollten Vaterlosigkeit ihrer Tochter. Sie hatte deshalb ein innerfamiliäres perfektwokes overprotecting entwickelt und verfolgte noch jetzt, wo ihre Tochter schon die fünfzig überschritten hatte, jeden Schritt daraufhin, ob er ein Defizit wegen des fehlenden Vaters aufweisen könnte. Aber Zofijah hatte präventiv und prophylaktisch zweimal wesentlich ältere Männer geheiratet, einen Reichsbürgeranwärter und einen dunnemals und krachend gescheiterten Kanzlerkandidaten. Das war Vaterersatz mehr als genug, so dachte sie, aber so dachte nicht ihre Mutter, die wohl lebenslang das Defizit hütete und vor sich herschob. Es war ihr ewiges Alibi zur Dauerüberwachung, die wiederum die Leerstelle in ihrem Leben ohne Bücher und Bibliotheken ausfüllte.   

Wenn Zofijah ihr Leben überschaute, war schwer zu entscheiden, was ihr mehr geschadet hatte: der fehlende, flüchtige oder jedenfalls verschwundene Vater, die Helikoptermutter, wie man heute sagen würde, das Mobbing in der Schule, die falsche Lektüre, der sich so wenig um sie kümmernde Staat. Der Kraftfahrer dreht seinen Kopf in den Rückspiegel. Er kannte das Seufzen seiner Chefin. Er wusste aber auch, wie sehr sie sich im Beifall der Menge sonnen konnte. Er kannte ihren Kummer nicht, darüber sprach seine Chefin nie. Er vermutete, dass es Differenzen zu ihrem nun doch schon alternden Ehemann waren, den er von vielen Mitfahrten auch recht gut kannte. Er sah in sein Navi: noch vierzig Minuten bis Buffalo aka Gogolow.

Man erkennt die Uckermark schon von weitem an den Windrädern. Die Diskrepanz zwischen den hiesigen zu hohen Strompreisen und der Inflation dieser Gestelle und Leuchttürme der Postmoderne bringt die Leute auf. Die Strompreise kann man nicht von heute auf morgen ändern. Der scharfe Gegensatz zwischen dem hochkomplexen Verfahren und dem mangelnden Gestaltungswillen so vieler Politiker verhindert das auf absehbare Zeit. Zofijah, obwohl seit fast dreißig Jahren im Bundestag, dessen Sitzungen sie aber meidet wie der Teufel die Taufkirche, weiß das alles. Aber die Leute wollen halt hören, dass die Grünen die gefährlichste, schädlichste, nutzloseste – an der Stelle musste Zofijah immer lachen -, und verlogenste Partei sei. Die CDU zu bekämpfen, ist kein Kunststück, die Wähler aber holt man bei den Verwandten ab, indem man ganz ähnliches, aber immer auch ganz radikales fordert. Im Moment geht natürlich am besten die dümmste Regierung und die dümmste Partei.

2

Dr. Hellmuth Herbstlaub, der Jubilar, zu dem die Wagenseil mit ihrem schwarzen Audi eilte, saß in seinem Sessel am Fenster und blickte auf sein Leben. Er hätte lauter sein müssen und weniger milde, sagte er sich. Wie oft ist er gefragt worden: Pfarrer sein und Kommunist – wie geht das? Da hätte er, statt weise zu lächeln, laut schreien müssen: nur so geht es. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt. Das ist die Metapher in der Metapher, denn nach einer Auslegung soll Yesus gar nicht das Öhr einer Nadel gemeint haben, sondern eine Gasse in Yerusalem, die so eng ist, dass ein beladenes Kamel nicht hindurch gehen kann. Das ist die wahre himmlische Gerechtigkeit, dass die Reichen die mit Unrat und Untat und Unmut und Unsinn beladenen Kamele sind, die nicht in den Himmel kommen.  

Da sitzt er nun in seinem selbst gewählten Exil in seinem Sessel an seinem Fenster. Gegenüber gibt es eine Wohngemeinschaft für alte Menschen, aber ihm steht noch Braunschweig in Flammen und er läuft noch als Kindersoldat ohne Marschbefehl. Die Kindheit und Jugend drängt in sein Greisentum. Ganz krumm läuft er durch die kleine Stadt, immer zur selben Zeit geht er – schleppt er sich – in den DIE KETTE genannten Laden, der früher der Konsum, als er noch Bischof der Reformierten war, im Nachbardorf, im unheizbaren Pfarrhaus aus roten Klinkern, in dem die Kinder froren, aber er den Minimalismus predigte. Dieser Minimalismus, den er bevorzugte, kam nicht aus den Modezeitschriften, schon gar nicht aus Amerika, sondern aus dem Geist der Reformierten, aus dem Calvinismus. Während Luther, der verhinderte Kardinal und Lebemann, die Pracht beibehielt, verwarf Calvin selbst die Bilder, warf sie in den Straßenkot zum Verrotten in der Notdurft der Hunde. Der Minimalismus kam aus dem brennenden Braunschweig seiner Kindheit, aus dem freiwilligen Wechsel von West nach Ost und schließlich aus seinem bergpredigthaften Kommunismus, den er in den Weißenseer Heften propagierte. Den hatte er in der SED nicht gefunden, in der PDS nicht, in der DKP nicht, nicht in DER LINKEN, mit der die Wagenseil seit dreißig Jahren stritt.   

Die gottlose Genossin, die er erwartete, sah in ihm wohl den Propheten eines göttlichen Sozialismus. Insofern hätte er nach Zehdenick ziehen sollen, an den Südrand der Uckermark, links der Barnim, rechts das Oberhavelland. Aber bei allem Respekt für den Glauben der Gläubigen und die Fähigkeit des Einzelnen, Berufenen, bleibt der Begriff und die Tätigkeit eines Propheten suspekt. Diese Formatierung des Blitzgedankens, der Eingebung also, gibt es heute nicht mehr, oder sie findet vielmehr in den sozialen Medien oder wenigstens auf dem Papier statt. Heute, dachte Hellmuth Herbstlaub, sieht man nicht mehr Yesus hinter dem Propheten leuchten, sondern Prophet ist, wer gelesen wird. Die Leselampe ist der neue Heiligenschein. Jüngere Genossen betreiben einen podcast. IM ANFANG WAR DAS WORT. Wir leben aber im Zeitalter des Bildes, einer Reikonisierung, was früher das Alphabet ersetzte, ist nun Beischiff eines neuen Analphabetismus, durchaus auch begleitet vom Hunger nach dem Wort. Da ist ein neuer Hunger und ist eine neue Welt! Gerade kam in den Nachrichten, dass Quincy Jones einundneunzigjährig starb. Er hat damals mit WE ARE THE WORLD fünfzig Millionen erwirtschaftet und für das hungernde Äthiopien gespendet, in dem der Genosse Mengistu Haile Mariam mehr schlecht als recht regierte. Ost und West halfen, wir beteten in Weißensee und bei uns daheim im Dorf. Die Kaltschmidtorgel schwieg. Und so viele Menschen wurden gerettet damals. WASSER TUTS NICHT, SONDERN DAS WORT.

Herbstlaub, in seinem Sessel sinnend, erinnerte sich des quälenden Schmerzes durch die Frage, ob er eine Sekte gründen sollte oder der Rufer in der Wüste bleiben. Das Wort Sekte stammt aus der Kirche, wird aber auch bei den Kommunisten gern für Abtrünnige verwendet. Das Schisma ist das Kreuz Wahrheit. Ob nun der Binnenschiffer Fischer in Zehdenick eine Wahrheit entdeckt hatte oder der Wahrheit entflohen war, wer wollte das entscheiden. Karin brachte den Tee und legte die Hand auf seine Schulter. ‚Hellmuth, du zergrübelst dein großes Leben. Es war alles gut und es ist noch lange nicht zuende. Heute kommt deine Nachfahrin. Schade, dass sie so ungläubig, so gänzlich ungetauft ist. Vielleicht nimmst du dir das einmal als eine hilfreiche Nebenwirkung vor: wenden Sie sich an mich als Ihren Arzt, liebe Genossin Wagenseil, der Gustav war doch auch Messdiener in seiner Jugend. So weit müssen Sie nicht gehen. Ihnen dient man, Sie sind keine Dienerin.‘ Sie mussten beide lachen, obwohl Karins Gedanke so schlecht nicht war. Wer würde sein Erbe weiterführen, da er nun doch keine Sekte im schlechten wie im guten Sinne gegründet hatte? Aber sie, die Wagenseil, war nun einmal erklärte Atheistin. Der junge Pfarrer hier in Gogolow behauptet immer, dass die Menschen nicht nichts von Gott wissen wollen, sondern Gott einfach anders benennen und Angst vor den Ritualen hätten, Kasualien ja, Rituale nein, wie das geht, schickte er sich seit Jahr und Tag an herauszufinden. Die würden schon das Höhere, das Übergeordnete in ihrem Leben erkennen, aber eben nicht mehr traditionell. Jedermann liebt nicht nur den Samstagabend, sondern braucht auch einen Benefactor. Lieber junger Bruder, sagt Herbstlaub dann zu ihm, kümmern Sie sich lieber um die Armen in Ihrer Gemeinde als um die Transzendenz und die Orgeln und die Gemeindeausflüge nach Amerika und wer weiß, wo noch hin. Er hatte manchmal noch den Ton des Bischofs vermengt mit dem des Propheten, manche nahmen das als väterlichen Rat, aber andere als durchaus unerlaubte Einmischung und Anmaßung, sogar Amtsanmaßung war ihm schon vorgeworfen worden. Der Tee war getrunken, die Nachbarn gegenüber waren zu ihrem frühen Abendessen gestolpert und gehumpelt. Die Glocken begannen ihr ewiges C-Dur. Erst heute fiel ihm auf, das C-DUr sozusagen die Tonart der CDU war. Rein und klar von der Intention her, aber von Anfang an korrupt und demagogisch. Er wusste, was er sagen wird, wenn er vor seinem himmlischen Vater steht: nicht nur meine Intentionen waren rein, auch mein Wille und mein Weg war klar, aber ich hätte lauter sein müssen und weniger milde. Die Güte darf aggressiv sein und nur das Böse verlogen. Hörte er schon den Motor der schweren Regierungslimousine  oder war es der Pick-up des Landschaftsgärtners am Ende der kleinen Straße?         

3

Das macht die Menschen menschlich, der Zweifel. Die Wagenseil war immer froh, wenn sie das Gekeife im Bundestag nicht anhören musste. Ihr reichte es meist, wenn sie selber redete. Über das mediale Echo konnte sie nicht klagen. Zuhause zählte der Gustav, wie sie, wo sie und wann sie zitiert und interviewt, gezeigt und angezeigt wurde. ‚Du hast dich wieder schön empört‘, sagte er dann zur Begrüßung. ‚Du bist meine zweite Jugend, Liebste.‘ Sie dachte: na gut, aber doch auch schon die vierte zweite Jugend. In diesem Moment, als sie das lächelnd dachte, horchte sie auf: ‚Machen Sie mal schnell das Radio lauter‘, sagte sie zum Fahrer. ‚Zum Rücktritt des Bundespräsidenten hören Sie jetzt einen Kommentar aus dem Saarländischen Rundfunk‘, sagte der Nachrichtensprecher Tarik Kiziltaş. ‚Haben wir im Kofferraum ein Grundgesetz?‘, fragte Wagenseil den Fahrer. ‚Das kann sein, es ist sogar wahrscheinlich. Wir sind in einer Viertelstunde da. Ich suche es dann‘, antwortete der Fahrer und blickte in seinen Rückspiegel. ‚Nein, ich brauche es sofort. Halten Sie bitte an.‘ Der Fahrer hielt, suchte seine Taschenlampe, obwohl im Kofferraum selbstverständlich Licht war, sicher ist sicher, dachte er. Im Kofferraum waren mehrere Taschen. Der Fahrer begann zu suchen.

Dr. Wagenseil überlegte inzwischen schon die neue Situation. Die Regierungskoalition war geplatzt. Der gescheiterte Kanzler kann die Vertrauensfrage stellen, der Oppositionsführer kann ein konstruktives Misstrauensvotum einleiten, aber nur, wenn er sich sicher ist, dass er die Mehrheit hat, so wie Kohl 1982. Der Kanzler hat keine Mehrheit. Er muss nach der missratenen Abstimmung den Bundespräsidenten bitten, das Parlament aufzulösen. Aber nun war der Bundespräsident schneller zurückgetreten als der Kanzler. Warum eigentlich? War es wirklich dieser Schriftsteller gewesen, den keiner kennt, den aber jemand eingeladen hatte, die Gedenkrede zum Mauerfalljubiläum zu halten. Was sagt man da. Wagenseil dachte, mich dürfen sie nicht fragen oder gar einladen. Ich würde Ihnen die Leviten verlesen. Sie musste Gustav fragen, was das eigentlich bedeutet, jemandem die Leviten zu verlesen. Also besser gefragt: was sagt man gewöhnlich zu diesem Anlass: unerträgliche Zustände, greise Führung, Flüchtlingswelle, Vertrauen verscherzt, hunderttausende auf den Straßen, Realitätsverlust. Und so weiter. Der Schriftsteller, den keiner kennt, sagte das auch alles, aber dann sagte er plötzlich, dass leider immer die polnische  Solidarność vergessen wird. Ohne sie wäre das alles nicht passiert. Sie hat den ersten Stein aus der Mauer genommen, bildlich gesprochen, denn die Mauer war aus Betonfertigteilen. And the walls came tumbling down – ja, das singt sich so leicht, aber die Mauern fallen nicht so leicht. Die erste Posaune wurde also auf der Leninwerft in Danzig geblasen, dann in Stettin und so weiter. Dann sagte er, dass man auch nicht vergessen dürfe, dass die unselige Russlandpolitik von Kohl über Schröder bis Merkel und bis jetzt dazu beigetragen hat, dass wir das haben, was wir haben. Man sah den Bundespräsidenten innerlich schäumen. Man sah neben ihm den alten Ex-Bundestagspräsidenten schäumen – auch äußerlich. Er fragte sich mit Blicken und Gesten, warum der Genosse Bundespräsident – obwohl seine Parteimitgliedschaft ruht, solange er Präsident ist – warum er nicht einschreitet. Da fallen selbst die demokratischsten und sozialsten Sozialdemokraten in die autoritäre Stein- und Stalinzeit zurück. Aber der Bundespräsident klatschte keinen Beifall, zeigte offen seine Verärgerung und Verachtung, ging in der Pause auf den Schriftsteller, den keiner kennt, zu, und schrie ihn an: ‚Das macht Ihnen wohl Spaß, Politiker zu diffamieren?‘ ‚Ja, aber Sie diffamieren doch gerade einen Bürger.‘ ‚Sie sind hier als Gast, vergessen Sie das nicht.‘ ‚Sie haben es schon vergessen, dass Sie hier auch nur Gast sind.‘ Der aufgebrachte Bundespräsident schäumte weiter: ‚Sie haben ja keine Ahnung von Außenpolitik.‘ ‚Das kann sein‘, sagte der Schriftsteller ganz ruhig, ‚aber Sie offensichtlich auch nicht, sonst wären wir nicht in dieser Lage, dass ein offensichtlicher Autokrat so lange geduldet wurde, weil Sie ihn für schlauer und besser hielten als er war. Und Sie hielten sich für schlauer als Sie waren und offensichtlich sind.‘

Dann hörte man ein paar Tage nichts. Die Zeitungen brauchten eine Weile. Normalerweise sind die Ereignisse im Schloss Bellevue wenig aufregend. Aber dann ging ein Sturm der Entrüstung los: ein arroganter Sozialdemokrat als Kanzler, ein ignoranter Sozialdemokrat als Bundespräsident, die Opposition triumphierte, die Presse zerriss die gesamte Sozialdemokratie samt Restregierung in der Luft. Wieder gingen ein paar Tage ins Land. Und nun hatte Dr. Zofijah Wagenseil die wohl beste politische Idee der letzten Jahrzehnte. ‚Hören Sie bitte auf zu suchen‘, rief sie dem Fahrer zu. ‚Ich brauche eine Telefonnummer. Können Sie mir bitte helfen?‘

‚Ja, selbstverständlich‘, sagte der Fahrer erleichtert, denn es konnte sein, dass sie gar kein Grundgesetz an Bord hatten. Das ist auch überflüssig. Man kann ja heutzutage alles googeln. ‚Googeln Sie bitte die Nummer der Vorsitzenden der Alternativen Volkspartei.‘

‚Gehen Sie jetzt bitte ein bisschen die Füße vertreten,‘ sagte Wagenseil zum Fahrer. Der Fahrer sah auf seine Uhr und sagte:‘ Wir müssen dann aber auch bald weiterfahren. Der Jubilar wird neunzig, da ist man nach 18.00 Uhr nicht mehr so frisch.‘

‚Ja, Sie mögen recht haben, ich beeile mich.‘

Die Vorsitzende der Alternativen Volkspartei konnte es nicht glauben, was ihr da geschah. Sie versicherte sich durch Nachfragen, beauftragte gleichzeitig von ihrem zweiten Telefon aus ihr Sekretariat mit der Überprüfung der Echtheit des Anrufs und der Anruferin. Es war, wenn es stimmte, wie ein Sechser im Lotto, vor allem, weil sich die Partei gerade im Abwind der Regierungskrise befand. Man konnte besser streiten und Streit von Zaun brechen, wenn der Zaun noch stand. Der Partei ging es so, wie den aufmüpfigen Bauern: gegen welche Regierung wollen sie Ende des Monats eigentlich protestieren?

Sie hatte auch noch keine Nachrichten gehört, so dass der Anruf suspekt war, die Anruferin und sogar die Nachricht. Mehr Unsicherheit konnte die Vorsitzende der Alternativen Volkspartei nicht vertragen. Solange sie mit der Wagenseil über das Wetter und dann über die Nachricht redete, musste sie über ihr Sekretariat versuchen, ihren Co-Vorsitzenden, den Tischlermeister aus Senftenberg ins Gespräch hineinzuholen. Er ist so eine ostdeutsche Heulsuse, der sich immer als Opfer sieht, immer hintergangen, immer reingelegt.

4

Schon lange beschrieben viele Zeitungskommentatoren die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Frauen. Die eine war Nationalbolschewistin, die andere Sozialnationalistin. Aber beruhten ihre Politiksysteme nicht vielmehr auf Kritik, Krawall und Katastrophe? Sie waren wahre Meisterinnen der Dekonstruktion, die sie angeblich erbittert bekämpften. Auch links und rechts, das betonten beide immer wieder, würden sie nicht annähernd beschreiben, das entsprechende Jandl-Gedicht LECHTS UND RINKS eingeschlossen.

Die Rechte gab sich also hocherfreut und sagte, dass sie schon so lange auf diesen Anruf gewartet habe. Worauf die Linke antwortete, dass sie ihrerseits ebenso lange auf die Gelegenheit zu diesem Anruf gewartet habe. Warten, warten. Die meiste Zeit des Lebens wartet der Soldat vergebens, das hat mein Großvater immer gesagt, sagte die Rechte. Aber nun, sagte die Rechte, bin ich gespannt, was sie mir zu sagen haben. Nicht nur zu sagen, sagte die Linke, ich habe Ihnen, verehrte Frau Kollegin, einen ungeheuerlichen Vorschlag zu machen. Spannen Sie mich nicht auf die Folter, hauchte die Rechte. Das Gespräch verlief, ungeachtet seines hochbrisanten Inhalts, wie ein Plausch im Café am Rande der Stadt. Sie wissen, dass der Bundespräsident zurücktreten musste, weil so ein linker Spinner die damalige Außenpolitik von Steinwalter kritisiert hat, Steinwalter, der damals noch richtiger war. Er wollte das, was wir jetzt wollen, der Walter. Ich wusste es nicht, sagte die Rechte, aber ich lasse es gerade prüfen. Seien Sie bitte nicht verstimmt, Verehrteste. Sie rufen mich zu halber Nacht an – man hörte im Hintergrund die Kinder, die Linke stand auf dem letzten Parkplatz vor der vorletzten Ausfahrt in Deutschland, umgeben von tausend verhassten Windrädern – und sagen mir Neuigkeiten, die ich selbst noch nicht wusste. Im Zeitalter der Lügen muss man alles prüfen. Sie prüfen ja sogar jedes eintrittswillige potenzielle Neumitglied. Prüfen Sie, sagte die Linke etwas pikiert. Während Sie prüfen lassen, habe ich eine wahrhaft geniale Strategie entworfen, die die Altparteien hinwegfegen wird. Das Volk wird sich erheben. Es kommt zu dem Bürgerkrieg, den Sie schon lange an die Wand gebeamt haben. Die Rechte, die sich forsch geglaubt hatte wie immer, wurde leicht unsicher, Schweißperlen quollen aus ihrem streng gescheitelten rein deutschen Haar. Oder war es westfälisch? Was sollte diese Ironie? Reden wir hier über Politik oder sind wir noch im Wahlkampfmodus? Die Linke bemerkte über den Äther die Verstimmung. Man spricht deswegen auch gern von atmosphärischer Stimmung oder eben Verstimmung. Sie ist in den Schwingungen der Stimmungen zu hören oder zu erspüren. Nur wenige beherrschen die Kunst, zwischen den Zeilen, die es gar nicht gibt, zu lesen. Die beiden Frauen haben verblüffende Parallelen ihres Lebenslaufes. Beide stammen aus einer kleinen Großstadt, die in Wirklichkeit nur eine große Kleinstadt war, so ähnlich wie Thomas Manns Kaisersaschern oder Uwe Johnsons Jerichow. Große Geister geisterten durch die Heimatstädte dieser deutschen Führerinnen: Schiller und Hegel, Zeiss und Häckel hie, Johannes Kuhlo und Carl Bertelsmann da. Aber Häckel würde besser zu ihr passen, dachte die Linke. Beide Frauen waren aber auch nicht nur von den Männern emanzipiert, sondern auch von ihrer Herkunft.   

Jetzt musste die Linke in den Ärmel greifen, um ihren Trumpf herauszuzaubern: was, verehrte gnädige Kollegin, wenn Sie und Ihre Gesinnungsgenossen…ich bitte Sie, sagte die Rechte…Parteigenossen kann ich schlecht sagen, erwiderte die Linke schlecht gelaunt…wenn Sie mit Ihrer ganzen Fraktion für den scheidenden Kanzler stimmen, auf dass der gar nicht scheiden muss. Scheiden tut weh, das wissen wir alle, und nicht nur im Winter, sondern auch im Wintersturm oder im Winterpalais der kalten Politikposse. Aber halt stopp, halt stopp. Damit wir beide etwas von diesem Treppenwitz haben, will ich wenigstens finanziell entschädigt werden. Sie zahlen mir 100.000 € für meine Partei, den KGW, den Kampfbund für Gerechtigkeit und Weltfrieden. Was sagen Sie nun?, fragte die Linke triumphierend. Ja, was sage ich nun, sagte die Rechte ratlos wie immer. Da bin ich erst einmal sprachlos wie nie. Da fällt mir gar nichts ein, aber halt stopp, halt stopp. Die Rechte hoffte, dass sich auf ihrem zweiten Telefon oder auf dem eilig von ihrem Stiefsohn aufgeklappten Laptop der Ostvorsitzende, das ewige Opfer, melden würde. Aber vielleicht lernte er gerade ein deutsches Gedicht auswendig oder las endlich ein Buch. Sie musste, so schien es ihr, endlose Minuten totschlagen, bis es in Senftenberg endlich funkte. Wann will der antworten? Sie gab ihrem Stiefsohn lautlose Zeichen, dass der sein Telefon, das nunmehr dritte, herbeiholte, um die Geheim- und Eilnummer des tränigen Tischlers zu wählen. Aber da meldete er sich dann doch. Nimm es an, sagte er in seinem brandenburgischen Sächsisch oder sächsischem Brandenburgisch, nimm das Angebot an, das Geld haben wir. Sie hat sicher, schrieb er weiter, für den Fall vorgebaut, dass wir es tun, ohne zu bezahlen. Das können wir nicht machen. Der Schaden würde sich verdoppeln und verdreifachen. Das hatte ich auch nicht vor, schrieb die Rechte, nun wieder forsch, wie es ihre Art war. Ich wollte nur dein Einverständnis, dass es hinterher nicht wieder heißt, die Wessis würden schlau vorpreschen, um sich wichtig zu machen, und die Ossis hätten wie immer dumm das Nachsehen. Nein, das habe ich jetzt nicht gedacht, schrieb der Ostführer. Der Stiefsohn wurde in sein Zimmer geschickt, allzu lange hatte er schon regungslos verharrt, um besser lauschen zu können. Er konnte locker drei bis vier Endgeräte simultan überblicken. Aber ein deutsches Gedicht kannte auch er nicht.

Gut, Frau Kollegin, sagte die Rechte, wir können es machen. Wir wissen beide nicht, wie es ausgehen wird. Hoffentlich nicht, wie das Hornberger Schießen. Aber man weiß es ja nie, wie…Man weiß schon recht gut, warf die Linke ein, wie die Geschichte weiter geht. Geschichte wird gemacht. Ah, ja, sagte die Rechte spöttisch, wem nützt es?, Sie sind ja eingefleischte Marxistin, da drücken Sie doch nur schnell auf den Knopf, der ‚Dialektik‘ heißt, und schon wissen Sie wie es weitergeht. Unsereins muss warten. Aber für uns gibt es auch Hoffnung, und die heißt Treu und Glauben. Trotzdem muss ich sagen, dass die Zeitungen wohl recht hatten, die uns eine Seelenverwandtschaft andichten wollten, gegen die wir uns gewehrt haben, weil wir uns mit unseren Parteien verwechselt haben. Übrigens hat Biden die Raketen für den Beschuss Russlands freigegeben. Scholz dagegen bleibt unserer Linie treu. Da haben Sie es wieder: Treue, Glauben, und, diese drei, aber die Treue ist die größte unter ihnen.

Jetzt musste die Linke lachen: witzig war die Rechte, das war wohl wahr. Vielleicht kam es durch die Stiefkinder.

Sie, die ehemals linke Dr. Wagenseil, sieht sich eher als streng. Ihr ganzer Stil, heute sagt man wohl style, wirkt abgeschlossen und damit ausgeschlossen, aber keinesfalls aufgeschlossen. Ihre teuren Kostüme wirken wie billige Uniformen. Sie ist eine Generalin ohne Armee, aber mit einem netten Adjutanten. Jetzt, seit sie über fünfzig ist, findet sie sich auch noch fertig, im Sinne von komplett, perfekt, eben abgeschlossen. Das sagt auch ihr Fachmann zuhause, Gustav Wasserthor, der alte Experte für Partei, Netzwerk, Strategie, Taktik und Scheitern. Sie weiß, warum sie ihn geheiratet hat. Sie weiß, warum das früher Scheiterhafen hieß.

‚Frau Dr., jetzt gibt es auf meiner Seite ein Problem.‘ ‚Das passt nicht gut, wir müssen mal da ankommen. Wie weit ist es denn eigentlich noch?‘ ‚ich dächte,‘ sagt der Fahrer, ‚dass es nur noch wenige Minuten sind. Aber unser Navi ist gestört.‘ ‚Wie kann das denn passieren?‘

Wenn sie, statt in sich hinein, einmal nach draußen geblickt hätte, dann hätte sie in der Abenddämmerung eine wunderschöne, wenn auch etwas dürftige Allee mit Sommerlinden gesehen, die schnurgerade die ärmliche Landschaft teilte: links waren die ferne Autobahn und die bedrohlich blinkenden Windradansammlungen zu sehen, rechts würde sie sagen: nichts, aber dann schien es ihr, als ob dort Schemen von Schafen huschten.    

Sie fuhren noch wenige Meter, dann hielt der Fahrer erneut. ‘Kennen Sie diesen Honeckerwitz?‘ ‚Nein, erzählen Sie,‘ sagte die Wagenseil, obwohl sie nicht wissen konnte, welchen er erzählen wollte. ‚Honeckers Fahrer überfuhr ein Schwein auf einer Dorfstraße. Jetzt gehen Sie in das Haus und entschuldigen sich und bezahlen das Schwein, sagt Honecker. Der Fahrer geht in das Haus und kommt lange nicht wieder. Dann endlich kommt er, mit Blumen und Geschenken überhäuft. Was ist passiert, fragt Honecker. Nichts, sagt der Fahrer, ich habe gesagt, ich bin der Fahrer von Honecker und das Schwein ist tot und da sind sie mir um den Hals gefallen. Ich gehe jetzt in das Haus und frage nach dem schnellsten Weg. Das ist unkomplizierter, als wenn ich die Fahrbereitschaft in Berlin anrufe.‘

Direkt neben dem Haus, das offensichtlich das letzte eines Dorfes war, stand das Ortsschild: Altenfels. Das Haus war hinter eine Hecke versteckt, ein alter Hund bellte müde. Rechts, gegenüber, in einem freistehenden Haus, ging das Licht an. Nach einer Weile kam ein ungeheuer dicker Mann aus der gut beleuchteten Haustür. Er blickte sich um, sah anscheinend nichts, obwohl das dicke Auto direkt vor dem Haus seines Nachbarn stand.

Nach einigen Augenblicken kam der Fahrer mit einem ältlichen Ehepaar aus dem linken Haus. Der Fahrer machte unmissverständliche Zeichen. Wagenseil tat zunächst so, als ob sie nichts verstünde. Eigentlich liebte sie das Bad in der Menge, Selfies, Händeschütteln. Das war immer mit überdurchschnittlichem Lob und höchster Anerkennung verbunden. Aber genauso liebte sie auch eine gradlinige und zielgerichtete Terminierung: 18.00 Herbstlaub, 19.00 Rückfahrt, 21.00 Abendessen mit Gustav Wasserthor und Auffüllen der Thermoskanne, 22.00 informatives Treffen mit den führenden Genossen aus Thüringen. Altenfels kam in diesem Terminplan nicht vor. Nachdem sie dem Fahrer ein Zeichen gegeben hatte, öffnete dieser die Tür. In dem Moment wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, wie man die Tür von innen öffnete. Manchmal glaubte sie, das sei auch der Schlüssel zu ihrer Politik: man kam gut hinein, saß dann bequem seine Zeit ab, aber wie kommt man wieder heraus? Der Wähler, dachte Wagenseil im Angesicht des ältlichen Ehepaares, das da frierend auf der unbeleuchteten Dorfstraße stand, der Wähler ist zu unberechenbar. Das Leben ist nicht kalkulierbar. Wo hatte sie das zuletzt gelesen?

Der Mann sagte: ‚Wir heißen Schiefmund, das ist meine Frau Elfie und ich bin der Bert. Seien Sie herzlich willkommen, Frau Wagenseil. Wir sind nicht nur Ihre Wähler, sondern seit langem Ihre Bewunderer. Sie sollten Bundeskanzlerin werden! Aber jetzt laden wir Sie erst einmal zu einem Kaffee oder Tee ein. Bitte, kommen Sie in unsere bescheidene Hütte!‘

‚Ich freue mich sehr, Sie zu treffen, leider haben wir gar keine Zeit. Wir müssen zu einem hochrangigen und hochzahligen Geburtstag. Aber wenn Sie ein Selfie machen wollen oder ein Autogramm haben wollen…‘ Sie gab dem Fahrer ein Zeichen, der ging zum Kofferraum, in dem zwar kein Grundgesetz, aber ein Stapel des neuesten Buches seiner Chefin war: DIE SELBSTERNANNTEN von Dr. Zofijah Wagenseil, Bundesvorsitzende des KGW, des Kampfbundes für Gerechtigkeit und Weltfrieden, kleiner hatte sie es nicht. Wenn man die Nichtleser erreichen wollte, musste man verständlich schreiben. Der Fahrer hatte in der Zeitung gelesen, dass sie allein mit diesem Buch 750.000 € verdient hatte, oder waren es schon 800.000 nach einer anderen Zeitung.

Der Mann mit dem schönen Namen Schiefmund war etwas verwirrt, dass sein Idol ihm nicht folgen wollte, aber schließlich sagte er: ‚Es ist uns eine große Ehre, ja, das wollen wir. Aber darf ich Ihnen wenigstens eine Frage stellen, die mir unter den Nägeln brennt?‘

Der Fahrer hielt das Buch in der Hand, der Mann zog sein Telefon aus der Tasche, man ging wenige Schritte bis unter die Beleuchtung der Haustür, im Nachbarhaus ging wieder das Licht an, diesmal blickte eine noch dickere Frau heraus. Das Telefon klickte und blitzte, das Autogramm wurde ins geschenkte Buch gekritzelt. ‚Jetzt die Frage,‘ sagte die Wagenseil. ‚Frau Wagenseil, wie kann es sein, dass die Grünen die altehrwürdige Universität, immerhin die zweitälteste im Ostseeraum, umbenennen wollen und dürfen. Wer erlaubt so etwas? Und warum unternehmen Sie mit Ihrer Partei nicht etwas dagegen?‘ ‚Ja, wissen Sie, Herr…  – sie blickte sich hilfesuchend nach dem Fahrer um, der sprang neben sie und flüsterte: Schiefmund – Schiefmund, ich wusste davon gar nichts. Ich habe in Jena studiert, und da heißt die Universität auch falsch, denn die Nummer eins in Jena, müssen wissen und werden Sie wissen, da Sie ein so interessierter und informierter Mann sind, die Nummer eins in Jena ist Hegel und nicht Schiller. Schiller, Sie erinnern sich: die tüchtige Hausfrau, sie wartet am Herd oder wo auch immer. Und zum zweiten Teil Ihrer Frage: die Grünen sind nun einmal die gefährlichste, schädlichste, nutzloseste – an der Stelle musste Zofijah immer lachen -, und verlogenste Partei. So nun müssen wir aber.‘ Der Fahrer öffnete die Tür, Wagenseil dachte: ich muss unbedingt fragen, wie sie von innen aufgeht, sie stieg, elegant ihren Rock raffend, ein, Schiefmund und seine Frau winkten, die Nachbarn, zwei ungeheuer dicke Leute, standen baff und mit Taschenlampe am Gartenzaun, das riesige Auto wendete zügig auf der schmalen Asphaltstraße und verschwand lautlos im Abendnebel.

6

Seit hundert Jahren soll Kafka tot sein, aber er erscheint uns doch als Adjektiv und auch in unserem Leben. Wie oft antwortet jemand ‚gibs auf‘ oder es verwandelt sich in eine Käferin, der früher ein dicker Junge war, oder vor dem Lageso in Berlin stehen abertausende Menschen über Nacht an und zum Schluss sagt der Türhüter: weg hier, das war dein Eingang, nun schließe ich ihn. Oder: In solchen Fällen helfen die Götter und schicken das fehlende Pferd. Dohlen flogen über den Marktplatz der kleinen Stadt Gogolow. Links neben der Feuerwehr steht die Kirche. An einem Anschlag verkündet der Fußballverein Schwarzweiß seine Siege. Dann kommt, versteckt, der Jugendklub, das ist ein Raum, in dem ein halbwüchsiger Junge an seiner Zigarette nuckelt, ein hässliches Mädchen hängt an einer Tüte. Der Bäcker und der Landarzt folgen, Tante Herthas Lebensmittel erheitern die Leere. Das einzige Hotel der Stadt ist jetzt eine Tagespflege für müde Wanderer. Dann kommt die traditionsreiche Apotheke mit dem geizigen Apotheker an der Spitze. Und hinter der Apotheke, dort wo es zur Schule geht, die Straße heißt Entenarsch, weil sie so eng ist, wohnt Dr. Hellmuth Herbstlaub und wartet sehnsüchtig auf die Wagenseil, die ihr Kommen pompös angekündigt hatte, ihr Sekretariat schrieb: Hochverehrter Genosse Dr. Herbstlaub, es ist uns eine Ehre und Freude. Der Fahrer lehnte es ab, in die schmale, unübersichtliche und noch dazu kopfsteingepflasterte Straße, an deren Ende die für die Winzigkeit der Stadt riesige zweistöckige Schule stand, zu fahren. Er befürchtete Aufsehen, Fahrwerksschäden und Irreversibilität.

Man parkte also auf dem Marktplatz, der so wunderbar die Welt abbildete. Wagenseil trug ihre Mappe und kämpfte mit dem Stöckelschuh gegen das Kopfsteinpflaster, der Fahrer trug die Blumen und das Präsent, eine Pracht- und Sonderausgabe vom KAPITAL.

Da schob sich über den im Dämmerlicht liegenden Markt, der in Wirklichkeit und passend zum Besuch und zum Besuchten Ernst-Thälmann-Platz und die Straße keineswegs Entenarsch, sondern Karl-Marx-Ring hieß, ein steinalter Mann. Wagenseil, in der es doch, entgegen aller sichtbaren Härte, Kälte und Stereotypie noch einen Funken Menschlichkeit gab, beauftragte den Fahrer, nach dem Rechten zu sehen. Er selbst, der Fahrer, machte bei solchen Aufträgen seiner Chefin immer den gleichen Witz, indem er sagte: na, dann werde ich mal nach den Rechten sehen, Frau Doktor. Und tatsächlich blickte der Alte von seinem sturen und starren Anschauen der Kopfsteine auf und murmelte etwas vom Führer und vom Friedhof. Er sah nicht wie ein Geist aus. Er war kein Geist. Denn er war vierschrötig, nicht klein, durchaus dick, jedenfalls nicht dünn, eher groß als klein, er hatte eine Joppe aus Uraltbeständen an, eine Skimütze der Wehrmacht. Am besten war sein Stock: ein Knüppel, mit dem man Menschen hätte totschlagen können, aber der Greis brachte sich nur mühsam vorwärts, Tippelschritt für Tippelschritt, der war kein Schläger mehr, wenn er es jemals gewesen sein sollte. Wagenseil und ihr Fahrer trafen ihn etwa in der Mitte der Diagonale des Marktplatzes, neben einer Stahlskulptur DIEWELLE, die hoffentlich nichts mit dem gleichnamigen Roman zu tun hat, der aber gut hier spielen könnte. ‚Können wir Ihnen helfen,‘ fragte die Wagenseil süßlich und ihr Fahrer griff symbolisch an den Ellenbogen des Greises. ‚Nein, nein, danke, danke,‘ sagte der. ‚Ich gehe jeden Tag zum Friedhof, ich bin hundert Jahre alt und muss mich an den Platz gewöhnen.‘ Den beiden lief es kalt den Rücken herunter. ‚Wir können Sie nach Hause fahren,‘ sagte die Wagenseil, ‚womöglich finden Sie nicht.‘ Der Greis stutzte: ‚Nein‘, sagte er, ‚danke. Ich bin doch hier zuhause und bald da. Ich finde. Ich musste nur gerade an den Führer denken.‘ ‚Kannten Sie ihn?‘, fragte die Wagenseil mit sicherem Instinkt.

‚Er hat meinen Herrn hier zu dessen fünfundneunzigsten Geburtstag besucht. Ich habe nur die Türen auf- und zugemacht und den Tee serviert. Sie haben, als ich Tee nachschenken kam, das Gespräch unterbrochen und geschwiegen. Schon viele haben versucht, aus mir herauszuquetschen, was der Führer alles gesagt haben könnte. Aber er hat in meiner Gegenwart nichts gesagt. Vielmehr wird anlässlich solcher Besuche der Geist weitergegeben. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie der Geist von einer Generation zur andern kommt? Er wird den Lebenden eingehaucht, denn die Toten müssen überwiegend schweigen. Aber auch sie schweigen nicht wirklich, denn sie sprechen durch ihre Grabstätten und durch die Erinnerungen und Erzählungen der Lebenden. Die Kinder standen früher an der Straße, wenn mein Herr angeritten kam, stolz wie ein Spanier, gerade, aufrecht, hart wie Kruppstahl, flink wie Leder, rissen ihre Mützen von den Köpfen und riefen GUTENTAGHERR-GENERALFELDMARSCHALL. GUTENTAGHERR-GENERALFELDMARSCHALL, das reicht, um einen lebenslangen Marschbefehl und Kompass mitzugeben. Tschingderassa Bumm. Dann hältst du dich eben gerade. Dann bleibst du im Herzen Soldat, mag die Umgebung noch so sehr flennen und weichherzig sein wollen. Zum Schluss setzt sich der Stärkere durch. Selbst der Hunger stählt dich. Wie der Stahl gehärtet wurde. Aber ich war nicht im Krieg, wenn Sie das meinen. Ich habe den alten Herrn gefahren mit dem Zwölfzylinderhorch. Und alle salutierten, wenn wir vorfuhren, darauf hat er Wert gelegt. Und auf seine Kirche. Und auf seinen Kaiser, aber der war tot. Und der Führer, den hat er geachtet und hat ihm Ratschläge gegeben für den Krieg, aber als Kaiser hat er ihn nicht gesehen.‘

Währenddessen hat der Greis immer mit seinem zentimeterdicken Knüppel auf die Erde geschlagen. Das war schon gruselig, wie in einem Märchenfilm, der böse ausgeht, denn es gibt auch Märchen und Geschichten, die schlecht ausgehen, wie auch oft das Leben.

Währenddessen war der Greis mit seinen Trippel- und Schlurfschritten langsam, aber stetig vorwärtsgekommen, so dass die kleine Prozession, geführt von Frau Dr. Zofijah Wagenseil, gefolgt von dem Greis und Geist  von Gogolow und beendet von dem Fahrer Tschibili von der Bundestagsfahrbereitschaft, nun am Schaukasten des Fußballvereins Schwarzweiß angekommen war. Auch klassenmäßig, dachte die Wagenseil, steht er zwischen uns: einerseits war er Diener und Fahrer, andererseits aber Zeitzeuge und Bekannter bekannter Führer. So spielt das Leben, dachte sie, bevor sie endlich umkehrten, den munteren Greis seinem unentrinnbaren Schicksal auf dem Friedhof überlassend.       

Währenddessen wartete der aktuelle Greis in seinem bequemen Sessel am Fenster zu einer kopfsteingepflasterten Straße auf seine hohe Gästin, so sagte man wohl heute, die aber nicht kam und nicht kam. Ungeduldig klopfte er mit seinem feinen Gehstock auf den Dielenboden, um seine Frau herbeizurufen, die ihn aber auch nicht trösten konnte, denn das war eines der untrüglichen Zeichen der Zeit: Unpünktlichkeit weit und breit und Kafka alles andere als tot.  

7

Wagenseil musste mit ihren Stöckelschuhen die Straße entlangbalancieren, die diesen hässlichen Folxmundnamen hatte, in Wirklichkeit aber noch unpassender Karl-Marx-Ring hieß, wobei der Ring auf die einst ringförmige Stadtmauer verwies, die rudimentär am Ende dieser Straße zu sehen war und dort einen Durchbruch hatte. Eine defekte Straßenlampe blinkte, als ob sie Zeichen in den Kosmos senden wollte. Was wollte sie uns sagen?  Ein Stolperstein hieß sie stolpern, aber niemand verstand, was er sagen wollte. Wagenseil las kurz den Namen, ein Jude, natürlich, und dachte an die armen Palästinenser, deren grausames Schicksal in ihren, Zofijahs, Händen lag, insofern als ihre Partei, ihr Kampfbund, eines Tages, wenn er die Mehrheit oder wenigstens die Koalitionsfähigkeit erlangt haben wird, die Rechte, das Leben und die Freiheit der Geknechteten des Nahen Ostens brachial durchsetzen wird, und zwar vom Fluss bis zur See.

Die Stätte, in der der Prophet Herbstlaub residierte und die er vorher sanieren lassen hat, war lange davor ein französisches Kolonistenhaus gewesen, Fachwerk, Ende des achtzehnten Jahrhunderts, insofern passend zum heutigen Herrn des Hauses und seiner ihm assistierenden Gemahlin. Denn er war nicht irgendein Pfarrer, sondern der Pastor und Bischof der reformierten, der schmucklosen, der politischen Gemeinden. Was aber gar nicht zusammen passte, war seine Verteufelung des Kapitalismus und Calvins Glaube, dass derjenige, der tüchtig ist, auch tüchtig verdient. Vielmehr war es Calvin als Kardinal Luther, der Max Weber dazu brachte anzunehmen, dass der Protestantismus jene Ethik der Arbeit hervorgebracht hatte. Unter Luther wären wir alle fromme Leibeigene geblieben. Herbstlaub wusste, dass er sich zwischen Marx und Max hätte entscheiden müssen. Aber er hatte es nicht getan. 

Karin, die Frau von Hellmuth Herbstlaub, wartete schon mit Schnittchen und wahlweise Kaffee, Tee, Wasser mit und Wasser ohne. Denn, so sagte Hellmuth immer, sie verkörpere das, was er hätte sein müssen oder wenigstens hätte sein können. Aber nun war er in seinem Sessel eingeschlafen, nein, nicht für immer – man lachte verhalten -, nur eingeschlummert im Warten und in der Einöde der kleinen Straße, über deren Kopfsteinpflaster man genauso gut stolpern konnte wie über Einlassungen in Herbstlaubs politischem Leben. Aber das war es gerade, was die Wagenseil faszinierte: immer das sagen, was sich andere nicht trauten und was Schlagzeilen generierte und damit Aufmerksamkeit.

Die Vorsitzenden der alten Parteien kannte inzwischen niemand mehr, noch nicht einmal dem Namen nach. Aber sie: kannten alle. Sie hatte einen Zeitungsausschnittdienst, der jetzt auch Kommentare in sozialen Medien auswertete, damit beauftragt, zu zählen, wie oft Autoren und Kommentatoren vorschlugen, dass sie Kanzlerin werden müsse oder wenigstens sollte. Sie genoss das. Und sie sagte, wenn sie darauf angesprochen wurde: ich habe das immer GENOSSEN, ohne Komma. Diesen Brüller verdankt sie selbstverständlich Gustav, der zuhause an seinem Fernseher sitzt und auf das ZDF schimpft. Auch er führt verschiedene Strichlisten, die aber alle dem Datenschutz unterliegen.

Ja, sagte Karin, erneut auf ihre Schnittchen verweisend, als Politikerin musst du ein abwaschbares Ego haben. Zofijah, hast du schon in die Memoiren der Merkel hineingeschaut? Ich weiß, die sind heute erst erschienen, aber ich dachte, du hättest ein Vorabexemplar erhalten, wie wir in der Redaktion. Wagenseil hatte Reaktion verstanden und sagte: nein, ich hatte noch keine Möglichkeit zur Reaktion oder was meintest du, Karin? Karin ihrerseits ließ den Missverstand auf sich beruhen und wechselte das Thema unmerklich: sie war doch einst dein Vorbild, oder liege ich da ganz daneben?

Nein, sagte Zofijah, sie war nie ein Vorbild für mich, sie war nur eine Frau wie ich. Und du kennst meine Meinung, dass wir alle in Gruppen hineingeboren werden, die zwar hierarchisch, aber einfach nach Größe geordnet sind. So sind wir zuerst Menschen, dann Frauen, dann Deutsche, dann Migranten, auch die Hugenotten gehören dazu, mein lieber Hellmuth, die Hugenotten sogar in ganz besonderem Maße, dann sind wir Parteimitglieder, Saarländer oder Brandenburger, und so weiter bis hinunter in den Skat- oder Canastaklub. Und der Canasta selbst beruht auf Gruppen von selbsternannten Gleichgesinnten – hier spielte sie geschickt auf ihr letztes Buch an – und gleichwertigen Selbstgerechten. Aber die Merkel ist trotzdem bemerkenswert. Obwohl ihr weder die Gabe des Redens noch ein Charisma gegeben waren, war sie über die Maßen erfolgreich, das muss der Neid ihr lassen. Sie sagte nicht, wer in der Runde am meisten neidisch auf Merkel gewesen war oder sogar noch sei oder werden wird. Was wird das letzte Gericht sagen, wenn wir da erscheinen müssen, Hellmuth?, fragte sie den greisen Genossen. Wird der Erfolg reichen oder müssen wir die gute Absicht bis in alle Einzelheiten darlegen. Und wieder spielte die Wagenseil auf ihre rhetorischen Künste an, glaubte sich im Vorteil vor den stammelnden und stotternden Zeitgenossen. Nur Habeck war ihr ein Dorn im Auge mit seinen Kinderbüchern und seiner Dissertation und seinem Ruhm jenseits der Politik. Auch Churchill bekam den Nobelpreis für Literatur, nicht für Parteiengezänk.       

8

‚In welcher Vergangenheit wollen wir leben?‘, fragte der nun wieder muntere Greis, nachdem ihm Karin neuen Tee gemacht und gebracht hatte. ‚Wir wollen erst einmal festlegen, wie wir vorgehen. Ich muss auch meine weiteren Termine absagen‘, sagte die Wagenseil, indem sie ihr Telefon nahm und in die Küche verschwinden wollte, aber da saß schon der abgeschobene Fahrer mit einem Berg halal-Schnittchen und einer Thermoskanne Kaffee. Sie ging also zum Hinterausgang, da war der Empfang auch besser. Die sternenklare Nacht wurde begrenzt durch die Fragmente der Stadtmauer. Eine Wiekhausruine spendete Mondschatten. ‚Gustav,‘ sagte sie überlaut, denn er hörte manchmal schon etwas schwer, besonders am Telefon, ‚Gustav, kannst du bitte meinen Termin mit den Thüringer Genossen managen und selbst nicht verstimmt sein, dass du wieder einmal Abendessen umsonst gemacht hast. Du kannst auch mit dem Nachtzug nach Hause fahren, wenn es dir nicht zu unbequem ist.‘ Die Wagenseil blieb noch etwas in der Nachtkühle stehen und genoss die absolute Reinheit und Ruhe der Kleinstadt. Sie dachte über Mauern nach, ja, sie hatte das frenetisch begrüßt, was heute Isolation der DDR genannt wird. Aber leider war die Isolation nicht perfekt, sonst hätte ihr Vater nicht durchschlüpfen können. Es geht natürlich nicht um eine perfekte Isolation, aber schon um eine Begrenzung.

In der überheizten Wohnstube mit ihrem perfekten Fenstersessel wurde inzwischen alles für eine kleine Konferenz vorbereitet. Zwei Laptops wurden aufgeklappt und auf dem Esstisch verkabelt. Der Greis wurde an den Tisch umgebettet, obwohl er gar nicht mehr selbst schrieb. Aber seine Gattin Karin gab ihm immer das Gefühl, dass sie jeden seiner Gedanken, ja, jeden Gedankensplitter getreulich in das Gerät und damit in die Dauer verpflanzte. Das ist überhaupt der Unterschied des Computers zur Schreibmaschine: diese bannte die Gedanken für den Moment, jener aber von Ewigkeit zu Ewigkeit. Die Heutigen, namentlich die alten Heutigen, haben das noch nicht ganz verstanden: unendlich in Raum und Zeit, und Zeit. Damit fällt die Unzeit weg, es gibt sie nicht mehr. Kairos ist immer und nie. Das unterscheidet uns von früheren Zeitaltern. Aber das heißt ja nicht, dass früher alles falsch oder schlecht war. Im Gegenteil.

Mit diesen Gedanken bahnte sie sich einen Weg durch die schmalen Flure des historischen Hauses an der Stadtmauer eines winzigen, im Schatten der Vergangenheit stehengebliebenen Städtchens, das nichts hervorgebracht hatte als das Schwert, den Katte zu köpfen, als das Gut für den greisen Serbenschlächter und einen Nazi-Mörder als LPG-Vorsitzenden. Es wird Zeit, dass von hier aus der Aufbruch, das große Erwachen ausgeht.

Sie musste die Augen zukneifen als sie vom dunklen Korridor in das grell beleuchtete und zum Arbeitsraum umfunktionierte Wohnzimmer trat, sie konzentrierte sich auf ihren ersten Satz, denn sie wusste aus ihren vielen Reden, wie wichtig der erste Satz, die erste Aufmerksamkeit, das erste Erwachen des Publikums war. Oft hatte auch Oskar, die Thermoskanne in der Hand, beobachtet, wie die Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Schlafmützigkeit erwachten, genauso oft schlief er aber auch selbst ein, wenn sie sprach. Das geschah in der letzten Zeit immer häufiger.

‚Wir müssen die Selbstliebe wieder entdecken, zulassen und ins Programm aufnehmen.‘ Das war ihr erster Satz, mit dem sie alle schocken wollte, denn er widersprach so sehr dem christlichen, bergpredigthaften Volkskommunismus, der in diesem Haus seine (letzte?) Heimat gefunden hatte. ‚Selbstliebe‘, sagte Herbstlaub, ‚ist doch nur das dialektische Pendent zur Nächstenliebe. Wer an sich selbst nicht glaubt, der kann auch anderen nicht helfen. Allerdings sind wir nicht das Sozialamt der ganzen Welt. Wer halb Kalkutta aufnimmt, hilft nicht Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta.‘ ‚Bei allem Respekt, Genosse Herbstlaub, Indien kommt gleich hinter Deutschland, wirtschaftlich gesehen.‘ ‚Wir müssen darüber nicht streiten, aber bevor wir den ersten Satz für unser neues Programm formulieren, sollten wir erst einmal über Namen reden. Da gibt es wohl wirklich Streit. Du nennst es fälschlich Kampfbund, und ich werde wohl mit meinem Betbund nach dem Vorbild des Weißenseer Kreises nicht durchdringen.‘ Er blickte hilfesuchend zu Karin. ‚Auch mein Komitee zur Befreiung von Radovan Milošević…‘ ‚Der hieß Slobodan…‘  ‚…das weiß ich nicht mehr, also mein Komitee ist nicht über die Stadtmauern von Gogolow hinausgekommen.‘

‚Selbstliebe als dialektische Ergänzung zur Nächstenliebe ist gut, Nationalinteresse als dialektische Ergänzung zur Weltwirtschaft, die nicht in der Globalisierung versumpfen und versauern darf.‘

Karin, die mitschrieb, meldete sich: ‚Das habe ich, obwohl ich die beiden Verben nicht billige.‘

‚Die Verben sind zu Diskussion freigegeben. Jedoch muss dringend der Name diskutiert werden. Komitee, Kampfbund, Partei…das ist doch alles von gestern. Nicht nur die Altparteien haben abgewirtschaftet, der Begriff der Partei überhaupt widerspricht der Selbstliebe.‘

‚Mein Lieber, bei aller Dialektik, die du besser beherrscht als ich, dürfen wir nicht vergessen, dass wir alle immer zu natürlichen Gruppen gehören, wir sind Menschen, wir sind Männer, wir sind Deutsche, wir sind Christen, na, ich weniger, wir sind Linke und so weiter. Der Begriff der Partei mag verkommen sein, veraltet ist er nicht.‘

Karin entschuldigte sich kurz, ging aber nicht auf die Toilette, wie man am Ausbleiben der Spülung hören konnte, sondern kontrollierte unauffällig die Küche, denn bei aller Gastfreundschaft durfte man nicht die Andersartigkeit der Kulturen vernachlässigen. Die BRD verkommt zum Polizeistaat, aber der richtet sich nur gegen die eigenen Leute. Selbst hier in Gogolow, wo es noch nicht einmal einen Dönerladen oder einen Barbershop gab, konnte man das spüren, wenn man offen war für die eigene Wahrnehmung.

‚Die eigene Wahrnehmung muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden, wie es bei Marx über Hegel heißt.‘ Das sagte Karin, der alte Herbstlaub nickte, soweit sein deformierter Rücken das zuließ, aber nun war die Wagenseil in ihrem Element. ‚Hegel muss als der größte vormarxsche Philosoph wieder in seine Rechte eingesetzt werden. Die Marxisten haben die Welt nur verschieden interpretiert, wie müssen sie endlich zurückholen in die Hände des Volkes. Auch unsere Formulierungen müssen volkstümlicher werden. Ich zuerst, dann Deutschland, dann die Welt, hoch-die-internaz-jonale Soli-dari-tät, the people united will never be defeated.‘

‚Der Name!‘

‚Deutsche Demokratische Partei.‘

‚Deutsche Kommunistische Partei.‘

‚Deutscher Hegelbund.‘

‚Christlich-Kommunistische Versammlung.‘

‚Partei des göttlichen Sozialismus:

‚Die gab es schon.‘ ‚Die DKP gab es auch schon, warst du da nicht Mitglied?‘ ‚Ich bin es noch und will es auch, so Gott will, bleiben, wenn wir nicht heute und hier zu einem neuen Namen und einer neuen Partei kommen.‘

Wagenseils Telefon klingelte: el pueblo unido jamas sera vencido. Dran war der Senftenberger Malermeister oder war er Tischlermeister. Er sagte: Wir machen das, das Geld ist angewiesen, aber wir bieten Ihnen darüber hinaus eine wirklich große Koalition an: von ganz rechts nach ganz links. Das wäre doch was, was meinen Sie, Frau Doktor Wagenseil?

Die Wagenseil betrat pfeifend das Wohnzimmer: el pueblo unido…

‚Wenn wir uns nur erst einmal einig würden, dann können auch wir nicht besiegt werden. Viele denken so wie wir, nur sie können es nicht ausdrücken, sie sind noch nicht erwacht aus dem Schlaf der Ungerechten und Nichternannten.

‚El pueblo unido, ja, aber das gilt nicht für die Ukraine. Denn dort ist das Volk nicht einig, es spricht schon einmal zwei Sprachen, der eine Teil schielt nach Russland, der andere nach Europa. Russland wird hierzulande  geschmäht und gedemütigt, der Bettler aus Kiew hingegen wird vom Westen, von den Merkel, Scholz, Merz und Stracks-Rheinmetall hofiert. Da war es wieder, das böse Wort, das ihr ihre Klassenkameradin Berghilde um die Ohren gehauen hatte: ‚Warum hofierst du die Arbeiter, denen es nur um ihre Schmalzstullen geht.‘ Wagenseil war in der zwölften Klasse in die SED eingetreten und erprobte nicht den Aufstand, sondern die Rhetorik. Sie war der Zauberlehrling der Rhetorik, die Girlande der Revolution. Ja, warum hatte sie damals die Arbeiter hofiert, so wie heute der Westen die Ukraine, die nie ein selbstständiges Land war. Die Hälfte des Volkes dachte schon so, nun gut, nicht ganz die Hälfte, aber eben sehr viele. Je mehr die Leute über Gaza und die Ukraine nachdenken, desto mehr vergessen sie ihr eigenes Leid, wenn es überhaupt ein Leid ist, was sie erleiden. Jaja, der gekreuzigte Jesus ist ein schönes Symbol für das Leid der Welt, für das wir nicht aufkommen können. Wir wollen nicht Kalkutta, gut, man kann Indien, nehmen wir Kinshasa oder Lagos, da hast du es.     

Dr. Hellmuth Herbstlaub, der Prophet des Friedens und der Gerechtigkeit war eingenickt. Aber man muss auch bedenken, dass es nach 11 war, dass er 95 war, dass ein langes und kämpferisches Leben hinter ihm lag, dass er das Recht hatte, müde zu sein. Das sah Dr. Zofijah Wagenseil auch alles ein, aber sie war doch etwas beleidigt. Sie war eine große Vorkämpferin, hatte schon in der linken Partei eine große Rolle gespielt, eigentlich die größte, hatte dann ihre eigene Bewegung des Aufwachens gegründet, die nur an organisatorischen Problemen gescheitert war, wobei scheitern auch nicht das richtige Wort war, hatte nun ihren KGW gegründet, ihr liebstes Kind, mit dem sie die Bundestagswahlen zu sprengen beabsichtigte. So kamen ihr die beiden plötzlichen Angebote von der nationalen Front des Tischlermeisters oder war er Malermeister und des Sektengründers, der schon so lange eine so große Rolle von diesem kleinen Ort aus gespielt hatte. Er war der Mann hinter der Stadtmauer, aber an dieser Stadtmauer prangte in GROSSBUCHSTABEN die Zukunft, und das war die Vergangenheit.

‚Die Lösungen‘, sagte die Wagenseil so laut, dass Herbstlaub aufschreckte, und sie fand schnell in ihren theatralischen Ton der acht Adorantinnen auf dem Neubrandenburger Neuen Tor, vor dem die Kühe warten, aber beide bleiben dauernd stumm, die Adorantinnen und die Kühe, ‚die Lösungen liegen alle in den Vergangenheiten. Die Vergangenheit als Singular gedacht, ist falsch, muss falsch sein, auch sie schreit, wie wir alle, nach dem Plural. Wir sind nur im Plural denkbar, ausgenommen die Führer.‘ Ihr fiel – fatal – gleich wieder Hitler ein, wie er mit erhobenem rechtem Arm die A 11 einweiht. Besser war es wohl, sich Stalin zu nehmen, wie er auf seinem eigenen Mausoleum thront, die Vergänglichkeit also eingeschlossen ist, wie er winkt, lächelt, brütet. Hätte es damals schon Smartphones gegeben, hätte er, vom Mausoleum aus, seine Feinde dahin schicken können, wo sie hingehören. Gut, sie sah doch ein, dass sich das heute nicht mehr gehörte. Man muss mit seinen Feinden leben, man muss sie ja nicht gleich lieben. Aber vielleicht, so dachte sie weiter, ist das ja so gemeint, dass man seine Feinde mehr lieben kann als seine Freunde, weil sie einem die Steilvorlagen liefern, die es braucht, um gut reden zu können. Und gut reden konnte sie, egal, in welcher Partei. Sie hatte nur das Thema der gottverdammten Migranten verfeinert. Schon in der linken Partei hatte sie den Scheinkordon der Menschlichkeit durchbrochen: wir können nicht alle aufnehmen, wir sind nicht das Sozialamt, sonst werden wir Kalkutta, Jutta. Jutta war die besonders perfide Ausländerbeauftragte. Auch in ihrem KGW gab es das Feigenblatt. Gerechtigkeit und Weltfrieden kann es nur dort geben, wo die Leute hingehören, dahin muss man sie schicken.

‚Wo die Wasser herkommen, da fließen sie wieder hin,‘ sagte auch der bibeltreue Genosse, nachdem er aufgewacht war. Und Karin schrieb eifrig mit.

‚Genossen, Freunde‘, sagte die Wagenseil und erhob sich, diesmal erhob sie nicht beide Hände wie zum Gebet, sondern die Faust wie zum Kampf, zum Kampf sind wir bereit, ‘das Programm steht, der Bund ist geschlossen, wir belassen es bei dem Namen und einigen uns auf die Farbe pink und nennen uns, wie die verlogenste‘ – da musste sie wie immer lachen – ‚dümmste und gefährlichste Partei nach unserer Farbe: DIE PINKEN.‘

Der Fahrer war aus seinem Exil in der Küche gekommen, weniger wahrscheinlich aus Neugier über die neue wasweissichwievielte Partei, weniger aus Hunger, obwohl die Schnittchen aus waren, sondern eher in der Hoffnung, noch diese Nacht nach Hause zu kommen. Er klatschte mit, obwohl es natürlich albern war, wenn vier erwachsene Menschen, davon einer steinalt, sich selber beklatschten. Der Fahrer hatte nach streng Hegelscher Dialektik Anteil, wenn auch geringen, sein Mitklatschen war durchaus berechtigt. Der Greis beklatschte seinen Lebenskreis, der sich irgendwann jetzt schließen musste. Seine Gemahlin Karin gönnte ihm den Triumph seiner letzten Stunden, sozusagen, denn es lag in Gottes Hand, wie alt einer wird oder nicht wird.

9

Wagenseil schien es beim Blick aus dem Wohnzimmer, welches nun zum Kreißsaal der Weltverbesserung geworden war, als ob der neue Tag schon sichtbar geworden wäre. Auch ging ein Mann mit Melone quer über den Marktplatz, vorbei an der Skulptur DIEWELLE, die hoffentlich nicht den Roman über die leichte Verführbarkeit der Jugend abbildete, sondern eher Metapher für das Auf und Ab des Lebens gab, der Mann, der zur Karikatur seiner selbst geworden war und später so sehr verehrt wurde, dass er ein sprichwörtlicher Dichter geworden war. Ja, so wollte sie auch werden: ein Sprichwort, eine Weltformel, ein Credo, kein Crucifixus, ein Manifest auf den Marktplätzen zu singen – oder ihretwegen auch zu beten, wenn es der Alte so wollte. Doch was war denn Hoffnung? War Hoffnung nicht das Warten, die Narretei, von der der Folxmund sprach? Oder war es dieses Versprechen, dass zum Schluss nur drei übrigbleiben, Glaube, Liebe und eben Hoffnung, aber hier irrte der frauenfeindliche Verfasser, nicht die Liebe war die größte unter den dreien, sondern die Hoffnung. Glaube ist das Fundament, die conditio sine qua non, Liebe ist der Glücksfall, der Sechser im Lotto, die ultima ration, nein ich habe mich nicht verdacht, aber die Hoffnung ist das, was du brauchst, um Glaube und Liebe zu überbrücken, wenn sie wanken und schwanken. Liebe vergeht wie Marmor, Stein und Eisen, aber dann, gerade dann brauchst du Hoffnung ohne Ende. Wenn die Felsen beben, dann brauchst du Hoffnung. Wenn das Wasser kommt, dann brauchst du Hoffnung. Wenn die Ordnung verfällt, when the walls come tumbling down. Sie wird den Moment nicht vergessen, wo jener sonderliche Schwachkopf im Fernsehen verkündete: ja, die Mauer fällt, ab sofort,  soeben, unverzüglich….Sie wird jenen Moment nicht vergessen, da sie in Mühlhausen vor dem Pfarrhaus des heiligen Müntzer stund und blitzartig der Gedanke kam: Allein das ist meine Sorge, dass die närrischen Menschen sich verwilligen in einen falschen Vertrag, darum, dass sie den Schaden nicht erkennen. Jedes Päckchen von Temu oder Amazon – wer ist der größere Verbrecher? – ist dieser falsche Vertrag. Sie erkennen den Schaden nicht. Es nützt nichts, ihn zu erklären und wieder zu erklären, bis die Worte wie Asche in meinem Mund werden. 

Die beweglichste Hoffnung liegt auf der Technik, die sich am schnellsten von uns fortbewegt. Schon nach fünfzig Jahren verstehen wir die Welt nicht mehr, sie besteht – so scheint es – nur aus Technik. Die starrste Hoffnung liegt auf der Heimat, von der wir uns nur unter Schmerzen fortbewegen. Heimat ist Starrsinn. Wir wollen nicht leiden, das ist unsere größte Hoffnung, aber sie wird gemeinhin wenig erfüllt. Wir würden, so glauben wir, die Welt verstehen, wenn wir in die Heimat zurückkehren könnten. Aber auch die Heimat ist mit Technik verstopft.

Der Tag dämmerte, obwohl die Sonne noch nicht aufging. Der Fahrer wurde gefragt, ob er fit sei oder ob man vielleicht ein Taxi rufen solle, das dem neuen Wagen der Bundestagsfahrbereitschaft entgegenfährt? Nein, das sei alles nicht nötig, er sei fit und freue sich auf die Rückfahrt. Er hoffe – HOFFE! – dass er zur Verbesserung der Welt an einem historischen Ort und in einer historischen Stunde – metaphorisch gesprochen – habe beitragen können. Er schweige wie ein Grab, beschwichtigte er die besorgten Gesichter der Verschwörer. Denn Verschwörer waren sie, zumindest vom Ziel her, wollten sie doch erneut die Parteienlandschaft aufmischen, die Altparteien jagen. Zunächst mussten sie sich aber per Stöckelschuh über Stock und Stein – metaphorisch gesprochen -, über das Kopfsteinpflaster der Straße im Entenarsch oder des Karl-Marx-Rings zum Marktplatz, der die Welt bedeutete, balancieren und ertasten. Das war Kunststück genug. Der Fahrer dachte: das ist die Abgehobenheit, das ist sie, sie laufen nicht auf Augenhöhe, sie stöckeln und wundern sich, dass sie niemand versteht. Hier schon gar nicht.

Kafka ging nochmals über den Markt, den einst die von der Wagenseil hochverehrten Russen ohne Sinn, ohne Verstand ohnehin, denn zum Bedienen einer Kalaschnikow und eines T32 braucht man keinen Verstand, zusammengeschossen hatten. Aber einen Grund dafür gab es natürlich. Aber es gab keinen Menschenauflauf. Hier waren gar keine Menschen, die hätten auflaufen können. Das tägliche Leben begann hier auch nicht um vier, auch nicht um fünf und höchstvermutlich nicht um sechs. Um sieben machte der Bäcker auf, der gar kein Bäcker war, sondern eine Filiale. Um acht öffnete die Apotheke, deren Besitzer, ein Erbe aus dem Westen, so geizig war, dass er nur Apothekerinnen aus dem Osten, also noch weiter östlich her, einstellte, die, wenn sie hier weniger Geld bekamen, immer noch mehr verdienten als ihre Kolleginnen daheim, also ihr daheim. Tante Hertha machte erst um neun auf. Ihr ging es auch gar nicht um Verkauf, sondern um Kommunikation. Der Audi A8 summte also unbeobachtet und unbeachtet über den Marktplatz auf die Kreisstraße 26 mit dem Hinweis auf die Autobahn. Das Navi war von der Fahrbereitschaft gerichtet worden, es funktionierte wieder, so dass man diesmal nicht dem Umweg über Altenfels nehmen musste, wo die Schiefmunds das Buch von der hochverehrten Wagenseil mit Glacéhandschuhen in den verglasten Teil des Bücherschranks gestellt hatten. Bald würden sie wissen, wer die Selbsternannten waren. Nun erst sah Frau Dr. Wagenseil, dass es einen ganzen Hof, den ehemaligen Gutshof, voller Stahlskulpturen gab. Aber nun gab es kein Halten mehr. Der Fahrer wollte nach Hause. Aber er hatte auch die Verantwortung für seine Abgeordnete, die glücklicherweise – für ihn glücklicherweise – auch Parteivorsitzende war, so dass er einen Audi A8 mit dreihundert PS und Panzerung fahren durfte. Er hatte aber auch ein Faible für Kalauer, und so sagte er nicht nur, dass er nach den Rechten sehen wolle, sein running gag, sondern er sagte auch: Parteivorsitz.Ende.

Nach zwei Dörfern, die alle -ow als Endung hatten, ging es auf die Autobahn, zunächst den Rest der A20, dann nach dem Kreuz Uckermark, Achtung Blitzer, auf die A11, und der Fahrer überlegte, ob er das Blaulicht aufsetzen sollte, denn dann könnte er links bleiben. Aber manchmal gab es auch überschlaue Polizisten, die dann nachträglich nach dem Grund fragten. Ein Bundesminister zum Beispiel muss um soundsoviel Uhr nach Brüssel. Aber die Wagenseil? Wo muss die hin?

Dr. Zofijah Wagenseil beugte sich, ihr Büchlein zuklappend, sie las, wenn sie Zeit hatte, immer ihre eigenen Bücher, nach vorne und sagte: Kann ich Ihnen mal eine diskrete Frage stellen? Der Fahrer befürchtete das Schlimmste, drehte sich dennoch freundlich um. Aber sie fragte nur, ob er ihr eine Pistole besorgen könne oder, wenn nicht, wo man die herbekäme.         

NARRENSCHIFFEVERSENKEN

ÜBER DAS NARRENSCHIFF VON CHRISTOPH HEIN

Wer in einer Zeit, in der sich viele Menschen fragen, ob und inwiefern der Osten anders tickt, einen fulminanten Roman über den Osten vorlegt, muss sich nicht wundern, wenn seine Leser Antworten über das Ostspezifikum suchen. Die Republik dieses Romans besteht aus Worthülsen und Opportunisten. Beides sind keine ‚Ostspezifika‘, wahrscheinlich besitzen alle Autokratien und Diktaturen spezielle Sprachen und unspezifische opportunistische Sprecher. Und auch der Untergang dieses kleinen närrischen Landes wundert nicht: alle Diktaturen sind zum Scheitern verurteilt und ihre schuldigen Protagonisten schmoren in der Hölle. Aber was machen die so genannten einfachen Menschen, die Opportunisten, die Mitläufer, die kleinen Funktionäre, die die Rädchen am Laufen hielten? Von ihnen handelt der Roman, leider sind die teils sehr warm und sympathisch gezeichneten Figuren fast alle etwas über dem Durchschnitt: das Politbüromitglied, der Hauptabteilungsleiter im Ministerium für Schwarzmetallurgie, der Referatsleiter Kinderfilm, der noch dazu ein international bedeutender Shakespeare-Forscher war. Ihm und seiner Neigung, alles in Proverbs auszudrücken, verdanken wir die schönen Zitate und Sprichwörter, die sich der auktoriale Erzähler zu eigen macht. Aber wir wissen immer noch nicht, was die Putzhilfe und der Arbeiter in der maroden Industrie dachten und taten. Immerhin wird eine kleine Luke zur industriellen Fertigung geöffnet, als die Stieftochter des Hauptabteilungsleiters, nachdem sie keinen Studienplatz erhielt, für ein Jahr in einem Weißenseer Betrieb als Kranführerin arbeitet. Dort erlebt sie die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Arbeit und ihrer Abbildung in den Berichten, eigentlich auch ein Sprachproblem. Um die Arbeitsnormen niedrig zu halten, wurde der Kran nur bei Kontrollen gebraucht, er verlängerte die Arbeitszeiten. Jeder wusste, dass Bauarbeiter oft tagelang biertrinkend und kartenspielend auf Material warteten.

Das faszinierende an dem Roman ist aber etwas anderes: die fast dokumentarische Breite und Tiefe der Schilderung. So wie Merkels Memoiren scheint auch dieser Ablauf aus einem – wahrscheinlich imaginären – Schreibtischkalender abgeschrieben. Während in Merkels Memoiren aber dann oft auch überlesbare Langeweile aufkommt, geht es hier spannend, unterhaltsam und zügig immer voran, sozusagen dem Ende entgegen. Von außen werden autoritäre Systeme oft als grau-in-graue Angstkäfige verstanden. Das waren sie sicher, aber die DDR war auch voller Witz und Alkohol, Nudismus und allgegenwärtigen Sex. Während nach außen das fest definierte semantische Skelett (‚antifaschistischer Schutzwall‘, ‚Klassenfeind‘, ‚Klassenkampf‘) zelebriert wurde, konnte man in den Nischen, Kneipen und Wohnstuben durchaus fröhlich sein und singen. Zudem gab es – außer in Dresden und Torgelow – überall das alternative Fernsehprogramm aus dem Westen, das technisch – im Gegensatz zu Nordkorea – nie ausgeschlossen war. Nordkorea ist so, wie die DDR – von oben gesehen – sein wollte, aber durch das westdeutsche Korrektiv nicht sein konnte. Ob das daran lag, wie der Roman unterstellt, dass Ulbricht und andere Führer lange an einer nationalbolschewistischen Entwicklung unter Einschluss der polnisch und sowjetisch besetzten Ostgebete festhielten, bleibt offen. Wenn es so wäre, dann hätten wir jedenfalls ein nationalbolschewistisches Kontinuum von Ulbricht, Schirdewan, Oelßner bis hin zur PDS, zur AfD und zu Sahra Wagenknecht. Als Erklärung reicht das natürlich nicht.

Während die Stieftochter des Hauptabteilungsleiters von diesem arg vernachlässigt (‚Pissnelke‘) wird, wird der Sohn, der ebenfalls Heinrich heißt, wie auch etwa die Hälfte der männlichen Figuren, verzärtelt und verwöhnt. Aber er verweigert sich der Anpassung und bleibt ein höchst eigenwilliges Kind. Als Jungerwachsener erwächst ihm allerdings sein opportunistisches Erbe. Er tritt in die Bauernpartei ein, die sich nach der Wiedervereinigung mit der CDU vereinigt. Allerdings scheitert er wie sein Vater am ganz großen Sprung: er wird nicht der Nachfolger des legendären Tierparkdirektors, der übrigens tatsächlich Heinrich hieß und dessen Lebensweg und Grundsätze Vorbild für den kleinen Heinrich aus dem Roman sind.

Der Hauptabteilungsleiter im Ministerium für Schwarzmetallurgie wird durchgängig als ‚Krüppel‘ oder ‚Kriegskrüppel‘ bezeichnet. Dieses Wort ist auf jeden Fall veraltet, wenn nicht diskriminierend. Schon nach dem ersten Weltkrieg, der Millionen von Menschen mit ernsthaften körperlichen Schädigungen erzeugt hatte, setzte ein Umdenken in deren Bezeichnung ein. Versehrt oder behindert schoben sich in den Vordergrund. Aber schon bald bemerkte man auch den Unterschied zwischen einem Behinderten und einem Menschen mit Behinderung. Ich sehe für den Autor drei mögliche Ausnahmen, die dem Gebot, das Wort ‚Krüppel‘ nicht mehr zu verwenden, widersprechen. Es mag sein, dass er so konservativ gegen jede wokeness ist, gegen jede Wachsamkeit gegenüber Diskriminierung. Dafür gibt es sonst in dem Text keine Belege. Es ist weiter möglich, dass das Wort als Trotzreaktion benutzt wird. Dann müsste dies aber ausdrücklich begründet sein. Schließlich kann es die Selbstbezeichnung eines Menschen mit Behinderung sein, aber dagegen spricht der fast inflationäre Gebrauch des Wortes zumindest in der ersten Hälfte des Romans.

Eine andere psychologische Studie ist die Frau des Hauptabteilungsleiters. Sie hat ihn überhaupt nur geheiratet, weil sie nicht über den Verlust des Vaters ihrer Tochter hinwegkommen konnte. Der wollte vor den Nazis fliehen, ist aber verschollen. Sie verdächtigt natürlich seinen Freund, mit dem zusammen er losging, des Verrats. Aber weder lässt sich dieser Verrat erhärten oder gar beweisen, noch taucht Jonathan je wieder auf. Sie flieht also in eine Versorgungsehe. Der Hauptabteilungsleiter seinerseits ist auch nicht von Liebe getrieben, sondern will auf andere Weise ebenfalls versorgt sein. Daran ändert auch sein Sohn Heinrich nichts, dem er sich ebenso entfremdet. Die Frau, Yvonne, flieht nun nochmals – über 750 Seiten den Romans -, in eine Welt des Konsums und des Alkohols. Sie kauft Schuhe, trinkt nachts gegen die Schlaflosigkeit, begibt sich in Sexaffären. Das alles ist auch die DDR. Nicht typisch dagegen ist ihre Freundschaft mit der Gattin des Politbüromitglieds, Rita, und dem Kinderfilmreferatsleiter Prof. Benaja Kuckuck. Das Politbüromitglied Emser, einst ein bürgerlicher Professor, kommentiert – unter ständigem Hinweis auf die notwendige Verschwiegenheit der Zuhörer – bei den gemeinsamen Essen die Politik seiner von ihm verachteten Genossen. 

Ganz anders der sonderbare Professor Kuckuck. Er feierte Triumphe als Shakespearekenner, der einst herausfand, dass Hamlet dreißig Jahre alt war, obwohl er schon an Atemnot litt. Aber er war in Großbritannien auch Mitglied der kommunistischen Partei. Deshalb erhält er im westlichen Nachkriegsdeutschland keine Professur. Das Misstrauen in Ostdeutschland begründet sich wiederum aus seinem Emigrationsort. So kann er nirgendwo an seine Erfolge anknüpfen. Er wird auf einen Versorgungsposten abgeschoben und mit der Zensur der Kinderfilme beauftragt. Schließlich, nachdem er auch endlich einen schwulen Partner gefunden hat, treibt ihn eine letzte Plage in den Tod: Alzheimer. Benaja Kuckuck, wenngleich ebenfalls nicht DDR-typisch, ist eine bemerkenswerte Studie menschlicher Möglichkeiten und Unmöglichkeiten.

Die DDR zerbröselt in diesem Buch nicht nur in den Enkelgeschichten der beteiligten Familien, sondern im Grundbuchstreit. Dreimal verschachteltes Unrecht ergibt immer noch keine Gerechtigkeit. Leider wird nicht gesagt, dass der – laut Grundbuch – rechtmäßige Besitzer der Emser-Villa diese ebenfalls unrechtmäßig einer jüdischen Familie abgejagt hatte, was man aus dem Jahr des ‚Erwerbs‘ schließen kann. Auch die Geschichte Jonathans, des Vaters von Kathinka, die den Anfang und das Ende des voluminösen Werks bildet, bleibt offen, wie im Leben eben auch manches offen bleibt. Das unterstreicht den semidokumentarischen Charakter des Romans. Das fiktive Element dagegen gibt die Spannung, die tatsächlich atemberaubend ist: man kann nicht aufhören zu lesen.

Dieser semidokumentarische Charakter scheint aber auch gleichzeitig tiefere Reflexionen zu verhindern. So wird zum Beispiel nicht weiter darüber nachgedacht, dass an den Sollbruchstellen der DDR-Geschichte 1953, 1956, 1961, 1968 und 1989 nach Meinung der Führung gar nicht ‚das Volk‘ handelte, sondern ‚vom Klassenfeind gesteuerte Elemente‘. Dieser Streit darüber, wer ‚das Volk‘ ist, hält merkwürdigerweise an. AfD und Querdenkerdemonstrationen berufen sich auf den Volksbegriff von 1989, der wiederum an 1968 und sicher auch an 1953 knüpft. Dieses Gedankenpotenzial wurde leider nicht genutzt. Das hinterlässt, bei aller Spannung und gleichbleibendem Interesse, doch auch eine Leere. Ob es zu einer Lehre hätte führen können, darüber seitenweise nachzudenken, muss offenbleiben. Was nicht offenbleibt, ist Kuckucks Vermächtnis für Ost und West und Nord und Süd: the world is not thy friend, nor the world’s law, aus Romeo und Julia 51, leider von Christoph Hein auf Seite 404 falsch zitiert.

ALTE ZEITEN. BRIEF ÜBER NANOPARTIKEL

Erstens bin ich Rentner, zweitens ist es Winter, drittens befinde ich mich seit längerem in einer grippalen Endlosschleife, so dass es gerechtfertigt ist, sich auch einmal einen völlig blödsinnigen Film anzusehen. Manchmal reizt auch das Lokalkolorit, wie zum Beispiel die am meisten fotografierte U-Bahn-Brücke Eberswalder Straße, die damals allerdings Dimitroff Straße hieß. Der Film[1], den ich heute erwischte, war aber so idiotisch, dass auch die schönen Fotografien vom Berlin vor der Mauer nicht als Trost ausreichten. Der Film ist die Mischung einer missglückten Satire und einer lächerlichen Agitation über einen äußerst dummen Westberliner Staatsanwalt. Der Film unterstellt, dass Westberlin die umgekehrte Projektion der Ostberliner Verhältnisse wäre, etwa nach der Negativformulierung der Goldenen Regel: was ich selber denk und tu, das trau ich auch andern zu.

Aber dann entdeckte ich Horst Schönemann in einer Nebenrolle. Beim nebenbei-Nachblättern sah ich, dass er als Regisseur des Dresdner Staatsschauspiels dem damals frisch eingetroffenen Jungschauspieler Ahmad M. begegnet sein kann, laut Wikipedia aber nicht in einem gemeinsamen Projekt. Aber woher kannte ich Horst Schönemann?

Als ich ein kleiner Junge war (so der Titel der Erich-Kästner-Autobiografie aus Dresden), lebte ich mit meiner Großmutter in deren Elternhaus. Ihr Vater, also mein Urgroßvater, war ein self made man aus Bellinchen an der Oder gewesen, der einst mit seiner Gitarre losgezogen war, um dem elterlichen und lehrherrlichen Wahn zu entkommen. Er wurde ein wohlhabender Malermeister in Senftenberg. Nun lebten wir bei seinem Enkel Günther Wendt, der, obwohl auch Malermeister, den Beruf und das Geschäft aufgegeben hatte, Kunstmaler, Sgraffiteur und Museumsdirektor geworden war, gemeinsam mit seiner Frau, nachdem diese aus der zehnjährigen GULAG-Haft zurückgekehrt war, ganze Ausstattungen für das Theater der Bergarbeiter[2] gefertigt hat, sie die Kostüme, er das Bühnenbild. Dieses Theater, übrigens in einem wunderschönen Bruno-Taut-Bau, war eine Art Modellbühne für das Deutsche Theater und das Maxim-Gorki-Theater in Ostberlin. Viele Biografien später berühmter DDR-Schauspieler, aber auch des Kreisredakteurs der Lausitzer Rundschau, Erwin Strittmatter, gingen durch das Wohnzimmer meines Onkels Günther. Und die angetrunkenen Gäste wankten zur Toilette durch das Atelier, in dem ich als riesige Kohlezeichnung an der Wand hing, sie war eine Vorlage für irgendeine Zeitung. Leider ist sie verloren gegangen. Damals erkannten mich die illustren Gäste auf dem Hof wieder, der heute bei Wikipedia als mustergültiges Denkmal abgebildet ist.

Beim Überfliegen der Wikipedia-Seiten fiel mir ein Film auf, an dem Sven D. als Redakteur und Ahmad M. in einer Nebenrolle mitgewirkt hatten: UNSICHTBAR, ein MDR-Tatort. Der Film ist als überladen kritisiert worden, ich finde, dass er, im Gegenteil, die Komplexität des Lebens zeigt, wobei die unsichtbaren Nano-Partikel gleichzeitig auch Metaphern für unsere Angst vor dem Verschlungenwerden sind: eines Tages werden wir perfekt verschwunden worden sein, der Traum aller Diktatoren und Geheimdienste und der Alptraum von uns armen Bürgerinnen und Bürgern. Lediglich für den Schluss hätte man noch einmal neunzig Minuten ausgeben müssen. Obwohl ich schon lange kein Fernseh- und Tatortkonsument mehr bin, war mir doch aus früherer Zeit der Name des MDR-Redakteurs aufgefallen. Was mich mit ihm verband, weiß ich nicht mehr, auch nicht die Klasse, in der er war. Jedenfalls war er eines Tages bei mir zuhause, und das Gespräch hatte meiner Erinnerung nach zwei Inhalte. Der erste Punkt war die Geschichte von der Stasi-Falle, in die ich nicht tappte. Ich war mit jener Klasse, in der Ahmad M. war, an der Müritz und wir zählten dort Graugänse und sahen uns alte Gebäude an, manche – so in Waren – waren kurz vor dem Einsturz, wie auch die Seitenkapelle einer sehr schönen Stadtkirche. In dieser Stadt kann man noch deutlich die Teilung in den einst slawischen und den dazugekommenen deutschen Teil sehen. Die Pastorin erklärte uns, dass die Rettung der Seitenkapelle gar nicht so sehr am fehlenden Material, sondern an der – wie man damals sagte – fehlenden Kapazität scheiterte: kurz, es gab keine Maurer, keine Firma und auch kein Geld. Da sagte einer der Schüler, vielleicht war es auch eine Schülerin, warum machen wir das eigentlich nicht? Einige Wochen lang wurde alles vorbereitet, eine neue Klassenfahrt beantragt, die Pastorin besorgte Quartiere, Essen und Material. Aber an dem Sonntag, nach dem es losgehen sollte, kam eine Schülerin zu mir und sagte mir, dass ihr Freund, ein Volkspolizei-Offiziersschüler, bei der Stasi sei und unsere Pläne verraten habe. Wir würden, sagte sie, ins offene Messer laufen und an der Tür zur Kapelle von den ‚Genossen‘ begrüßt werden. An diesem Sonntagnachmittag musste alles zurückgedreht werden. Die Klasse hatte einen Alarmplan mit teils telefonischer, teils persönlicher Information. Die Pastorin konnte aus – wie man damals so schön sagte – Sicherheitsgründen nicht angerufen werden, denn sie wurde garantiert abgehört, meine Schwester musste mit mir, weil ich kein Auto und keinen Führerschein hatte, in die kleine Stadt fahren, und am Montag früh musste ich dem Schulleiter meinen Fehler eingestehen. Der fand es richtig, dass ich ihm die Wahrheit sagte oder wusste er sie schon? Denn 1990 stellte sich heraus, dass auch er bei der Stasi war. Den Schülern habe ich nicht die Wahrheit gesagt. Bei der Zeugnisausgabe sagte trotzdem der Großvater eines Schülers, dass ich mich nur an ihn hätte wenden müssen, um das Unheil abzuwenden. Angeblich war er ein Stasi-General. Aber später, nach Erscheinen etlicher Handbücher suchte ich ihn vergeblich. Er stand in keiner Liste der Stasi-Generäle. Vielleicht war er beim KGB, dafürspricht, dass auch sein Enkel, mein damaliger Schüler, 1990 Deutschland verlassen hat. Ich erzählte Sven D. diese Geschichte unter der Maßgabe der Verschwiegenheit, so wie damals üblich. Aber er, wahrscheinlich der geborene Redakteur, bemerkte die Schleifspuren meiner Erzählung, was mich doch ein bisschen ritzte, obwohl es für seine Fähigkeiten sprach. Das zweite Thema kratzte noch mehr an meiner Konfidenz. Er fragte mich, warum ich eigentlich nur Lehrer an einer nicht besonders herausragenden Schule bin, um es freundlich auszudrücken. Je wortreicher meine Erklärungen waren, desto peinlicher wurden sie von Satz zu Satz. Erkläre mal deine Faulheit und Trägheit, deinen mangelnden Ehrgeiz und die Sucht nach dem schnellen Beifall! Andererseits bin ich froh, dass ich kein DDR-Schriftsteller geworden bin, auch kein DDR-Pädagoge, dass ich das gut und als Auszeichnung gemeinte Angebot zum Promovieren und Forschen abgelehnt habe, weil ich meine mittelmäßige Schule dafür verlassen und an die von Margot Honecker kontrollierte Forschungsschule der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften hätte wechseln müssen. Erst Ahmad M. erklärte mir, viel später, im vorigen Jahr nach einer Aufführung von Lessings NATHAN DER WEISE mit ihm als Titelfigur die Vergänglichkeit auch des längerfristigen Beifalls. Auch der Künstler, der das geworden ist, was er hatte werden wollen, leidet und dem Mangel an Mehr. Trotzdem hatte Sven D. damals recht. Ich habe ihn nie wiedergesehen, nur seinen Namen manchmal im Abspann von irgendwelchen Fernsehfilmen. Aber sind nicht die beiden und zum Glück noch einige andere die lebenden Beweise dafür, dass es nicht schlecht ist, wenn an einer, wie ich damals gerne sagte, gewöhnlichen Dorfschule gute Lehrer sind, denn ich war nicht der einzige. Auch nach der Wiedervereinigung konnten wir noch gut zwei Jahrzehnte den humanen genius loci unserer Schule beibehalten, dann fielen wir dem Versetzungs- und Verschiebewahn der eher unfähigen Berliner Schulverwaltung zum Opfer. Der Preis dafür war aber ein wunderschöner Schulneubau von Reimar Herbst[3], ein Beispiel für das Theseus-Paradoxon: es wird so lange repariert und reformiert, bis nichts mehr da ist.      


[1] Fackelträger, DEFA 1957

[2] jetzt Neue Bühne Senftenberg

[3] damals Seniorchef von herbst architekten

DAS PHILOSOPHENSCHIFF

Lenin ließ 1922 unliebsame Intellektuelle, darunter viele nichtmarxistische Philosophen, mit einem Schiff außer Landes schaffen. Das Schiff hieß ‚Oberbürgermeister Haken‘ und fuhr tatsächlich nach Stettin, wo Herrmann Haken ein bedeutender Oberbürgermeister gewesen war, an den die Hakenterrassen, das Gründerzeitviertel westlich der Altstadt und der Zentralfriedhof, auch heute noch der größte in Europa, erinnern. Einer der Philosophen war Nikolaj Berdjajew, der Lenins philosophisches Hauptwerk ‚Materialismus und Empiriokritizismus‘ verrissen hatte. Die tausenden Studenten des Ostblocks, die alle Lenins tautologisches Machwerk lesen mussten oder jedenfalls sollten, kannten leider Berdjajew nicht, andernfalls hätten sie es leichter gehabt und wären ihm dankbar gewesen. Seit der Antike werden Menschen ausgewiesen und abgeschoben, wenn nicht gar auf Inseln und in Lager verbracht oder erschossen. Kein Autokrat kann mit dem selbstverständlichen Gedanken leben, dass man sich Menschen nicht aussuchen kann, die Mutter und die Migranten nicht, den Vater schon gar nicht, die Kinder und Kollegen nicht, selbst der Partner oder die Partnerin ist durch genetische und soziale Merkmale zumindest präferiert, wie zahlreiche Versuche mit Mäusen zeigten: OF MICE AND MEN[1]. Wir müssen oder sollten mit den Menschen auskommen, die uns das Schicksal zugewiesen hat. Manche nennen das Schicksal Gott, andere nennen es Zufall. Vielleicht ist eine der Attraktionen der Autokraten, dass sie Menschen entlassen, abservieren, verbannen oder erschießen können. Sie machen kurzen Prozess und beeindrucken so ihre Follower immer aufs Neue. Hinterher will es keiner gewesen sein, niemand will dann Kain gewesen sein.

Aber die Dichter, Propheten und Philosophen haben Gegenmodelle bereitgestellt, die zwar nie zu hundert Prozent angenommen oder gar verwirklicht wurden, jedoch liegt das daran, dass es keine hundert Prozent, sondern zu jeder Meinung, zu jedem Modell und zu jeder Staatsführung immer eine Opposition gibt. Und das gilt sogar auch für die Autokraten. Das Versöhnungsparadigma der Christen ist zwar gründlich gescheitert, viele ziehen sich auf Rituale und Regeln zurück, aber sie haben der Welt mit Yesus doch ein Ideal gestiftet, das heute noch wirkt. Weniger bekannt ist die Geschichte der Antigone. Sie widersetzt sich dem Tyrannen, der verboten hatte, Antigones Bruder zu beerdigen, weil dieser sich wiederum seinem Bruder, dem amtierenden König, widersetzt hatte. Antigone sagt[2] zu ihrer Schwester: ‚Folg du jedwedem, der befiehlt, ich aber folg dem Brauch.‘ Der Brauch sind die übergeordneten Werte einer Gesellschaft oder eines Menschen. Der Befehl gibt zwar vor, den Interessen zu folgen, übersieht aber, dass die Interessen zwar objektiv sein können, genauso gut aber bloße Meinung. Aber der Tyrann hat einen Sohn, der und den Antigone liebt. Nun wissen wir nicht, ob er sich seinem Vater, dem Tyrannen, widersetzt, weil er Antigones Schönheit oder weil er ihren Prinzipien folgt. Aber das wissen wir bei keinem Menschen. Liebe kann immer auch ein egoistischer Impuls sein, während aber Egoismus niemals Liebe ist. Im Gegenteil: Je egoistischer ein Subjekt handelt, desto mehr zerstört es sich selbst. Das gilt für Menschen, Gruppen und Gesellschaften. Konkurrenz ist nur sinnvoll, wenn sie in Kooperation eingebettet ist. Die Verhältnisse der Menschen beruhen immer auf Vereinbarungen, Ausnahme ist lediglich die Pflege der Kleinkinder. Jede Vereinbarung ist auch kündbar.

Die Rhetorik von Trump, Putin und ihresgleichen hört sich wie  bellum omnium contra omnes[3]  von Thomas Hobbes an. Aber davon abgesehen, dass sich Europa für Rousseau entschieden hat, wissen wir – ganz ohne Theorie, aus bloßer Empirie -, dass alle Tyrannen in der Hölle enden, ja, dass die Hölle eigens für die Tyrannen konzipiert wurde. Normale Menschen haben in der Hölle nichts zu suchen. Das Recht des Stärkeren verliert letztendlich immer gegen die Goldene Regel. Wäre es anders, so wäre die menschliche Gesellschaft schon untergegangen und für immer aus der Welt verschwunden, in der zwar jeder jeden frisst, aber auch jeder mit jedem kooperiert. Das ist schwer zu verstehen. Aber kein Dichter, Prophet oder Philosoph hat uns versprochen, dass das Leben leicht oder leicht zu verstehen ist. Das Gute ist immer nur ein Nadelöhr, aber unverzichtbar.

Der Sohn schafft es tatsächlich, seinen bösen, starren und interessengeleiteten Vater zu versöhnen. Aber es ist zu spät. Antigone, die eingemauert worden war, hat sich, um dem Hungertod zu entgehen, erhängt, ihr Freund Haimon, jener gute Sohn, folgte seiner Geliebten, indem er sich in sein Schwert stürzte. Vorher schon hat sich ihre Mutter und Großmutter Iokaste aus Scham mit ihrer Haarnadel umgebracht. Beinahe möchte man sagen: und so weiter. Tod und Verderben sind allgegenwärtig. Aber das Leben geht doch weiter.

Ein großer Teil der Kraft wird durch die Strafen aufgefressen, wenn wir unser Leben Interessen, und gar nur unseren Interessen, unterordnen. Die milde Ordnung dagegen schafft den Fortgang des Lebens. Zwar ist der Mensch das ungeheuerste der Ungeheuer, aber er ist auch der Gipfel der Liebe. Statt die Goldene Regel für uns zu reklamieren, sollten wir sie einzuhalten versuchen. Statt andere zu verurteilen, sollten wir uns so verhalten, dass andere uns nicht verurteilen können. Das ist schwer.

Leider ist mir kein Beispiel bekannt, in dem der Diktator von seinem Sohn oder seiner Tochter dazu überredet worden wäre, die Seiten zu wechseln. Uns Heutigen erscheint es vielmehr so, dass die Kinder der Mächtigen sich zumeist auch in der Sonne der Macht baden wollen. Nach dem Vorbild der Monarchen streben einige sogar die Errichtung einer Dynastie an, das markanteste Beispiel ist Kim Il Sung mit seinem Sohn Kim Jong Il und seinem Enkel Kim Jong Un, die nacheinander seit 1948 den Nordteil der koreanischen Halbinsel in bizarrer Weise totalitär beherrschen. Merkwürdigerweise glauben viele Bewohner Deutschlands, das ein freies und reiches Land ist, dass es ein Land am Ende und kurz vor dem Untergang wäre, viele Nordkoreaner dagegen wissen, obwohl sie in einer absurden, unfreien und bitterarmen Diktatur leben, dass ihr Land einzigartig schön, groß und bedeutend wäre, so wie die Abbilder der Diktatoren.  

Obwohl mir die genderungerechte Semantik des Wortes VERSÖHNUNG bewusst ist, verteidige ich seinen Geist ebenso wie Schillers ALLE MENSCHEN WERDEN BRÜDER. Denn wer nicht versteht, dass alle Menschen erst Brüder werden mussten, um dann Geschwister werden zu können, wird auch nicht an Versöhnung glauben, die wichtiger ist als Gendern, das in gewissem Betracht aber auch seine Berechtigung hat. Wir hoffen, dass wir das mit der erneuten Würdigung von Antigone, die immerhin zweieinhalbtausend Jahre alt und über jeden Verdacht erhaben ist, deutlich machen konnten.  


[1] Roman von John Steinbeck

[2] Sophokles, Antigone, Übersetzung von Hölderlin, Bearbeitung von Brecht

[3] Krieg aller gegen alle

DAS LAMETTA IST VERWORFEN

Die Gans ist gegessen. Das Fest ist gefeiert. Das Lametta ist verworfen. Was bleibt, sind Müll und Gedanken.

Noch vor zehn Jahren erschien die Politik vielen Menschen langweilig und gleichförmig. Viele glaubten an die Politikverdrossenheit ihrer Raum- und Zeitgenossen. Aber es gab Vorboten: die Banken- oder Griechenlandkrise und Sarrazins dummes, böses Buch. Es war zum Glück auch – was wir damals ahnten und heute wissen – falsch. Deutschland schafft sich nicht nur nicht ab, sondern erfindet sich neu, weil es sich neu erfinden muss und kann. Der Grund ist allerdings weniger, dass es feindliche Machenschaften von Gates & Merkel und dem ausgedachten ‚Weltjudentum‘ gibt. Noch nicht einmal die ‚Reichsbürger‘ können Deutschland erschüttern, obwohl sie das so sehr gehofft hatten, Mahlsack-Winkemann, Heinrich XIII. Reuß und ihre Kumpane. Es ist auch nicht das Corona-Virus, was uns den Neubeginn aufzwingt.

Das Corona-Virus hat uns aber wie der Totalschnitt eines Pathologen oder Romanciers gezeigt, wozu wir fähig sind. Europa, dessen angeblich morbider Zustand immer wieder beschworen wird, hat nicht nur auf Urlaubsreisen, sondern vor allem auch und zum zweiten Mal auf Weihnachten verzichtet. Die Häme ist weitgehend aus der Politik gewichen. Für eine so große Krise arbeitet Europa erstaunlich gut zusammen. Obwohl die Demonstrationen, die sich 2016 gegen die Flüchtlingspolitik, nun aber gegen die antipandemischen Maßnahmen der Regierungen richten, ärgerlich, schändlich und vor allem lächerlich sind, werden sie weitgehend geduldet. Schädlich dagegen sind sie nicht und auch sie werden Deutschland und Europa nicht abschaffen.  

Abschaffen – ein Wort übrigens, das wieder eine Art von großem Administrator unterstellt – müssen wir unsere Lebensweise der Verachtung, Vermüllung und Vernichtung der Natur. Es wird bald mehr Plastikteile als Fische in den Weltmeeren geben. Aber weil es eben keinen Großadministrator gibt, müssen wir es selber tun.

Wer es geschafft hat, dem Corona-Virus zu widerstehen, der sollte es auch mit Weihnachten aufnehmen können. Weihnachten ist vom Fest der Yesusgeburt zu einem Konsumterrortiefpunkt der Verschwendung geworden. Das Symbol der Menschwerdung – nicht Gottes, sondern der Menschen – in der Verehrung eines neugeborenen Kindes unter widrigsten Umständen, wurde schrittweise in ein konsumistisches Horrorszenario verwandelt. Ob zum Beispiel der Weihnachtsmann dabei eine Rückkehr heidnischer Gebräuche oder der Trottel des Konsums ist, bleibt gleichgültig. Der Ersatz einer einzelnen wunderwirkenden Kerze durch elektrische, automatisch gesteuerte Beleuchtungen ganzer Vergnügungsparks und zu Vergnügungsparks umgewidmeter Innenstädte, der Wettbewerb der Hausbesitzer der Vorstädte um die hellste und brutalst verschwenderische Beleuchtung, die vierwöchige Dauerbeschallung und damit inflationäre Opferung der Weihnachtslieder – das alles ist bedauernswert, aber nicht unumkehrbar. Weihnachtmann und Weihnachtsbaum sind so gesehen Merkmale des Untergangs, den wir verhindern können, indem wir sie wieder abschaffen. Vielleicht beginnt der als Neuerer gepriesene Papst in Rom mit der Abschaffung der infantilen Yesuspuppe. Es gibt genügend Babys, die auf einen Träger warten.

Gefeiert wird eigentlich die Geburt eines Kindes, von dem sich später herausstellt, dass es der Menschheit einige der besten Sätze und Lehren brachte, das aber mit den Mächtigen ebendieser Menschheit kollidierte und demzufolge ermordet wurde.

Daraus muss folgen, dass es niemals mehr Mächtige geben darf, denen die Lizenz zum Töten oder auch nur Einkerkern von Störern ihrer Macht gegeben wird. Wer sich eine solche Lizenz anmaßt, muss gehen. Auch Tränengas und Wasserwerfer sind keine Argumente. Erkennbar sind solche autoritären Politiker an ihrem clownesken Verhalten, das nicht ihrem Verstand, sondern ihrem Unverstand entspricht und von den wirklichen und ernsthaften Clowns zurecht und gekonnt nachgeäfft wird. Wir haben vor Jahr und Tag schon auf das merkwürdige, verkehrt herum wahrgenommene Verhältnis von Chaplin und Hitler, die im selben Monat desselben Jahrs geboren wurden, hingewiesen. Hitler, der als arbeits-, obdach- und sinnloser Asylheimbewohner sicher oft ins Kino gegangen ist, sah dort den Tramp, den Wanderarbeiter, der das Gute will, aber durch tausend Schwierigkeiten, die zum Weinen und zum Lachen sind, muss. Hitler kannte das, denn er wurde in Wien wegen seiner lächerlichen antisemitischen Reden von Bauarbeitern vom Baugerüst geworfen. Sein clowneskes Verhalten behielt er bis zu seinem würdelosen Abgang bei. Er ahmte Chaplin nach, ohne dessen Qualität auch nur erahnen zu können.

Daraus muss weiter folgen, dass wir noch viel mehr die Möglichkeit jeder Tötung ächten und verhindern. Es muss die Ächtung geächtet werden, nicht Menschen. Die Verherrlichung von Waffen und die Waffen selbst müssen geächtet werden, nicht Menschen. Der Staat mit seinen Polizisten und Soldaten sollte den Anfang machen. Einige Länder, in denen überwiegend die Vernunft regiert, wie zum Beispiel Deutschland, sollten die Waffenindustrie stilllegen und den Im- und Export von Waffen verbieten. Alle Institutionen, Sozietäten, Gruppen und Vereine sollten diesem Beispiel folgen. Im Vatikan, in dem es außer dem Papst auch einen Nuntius der Hölle zu geben scheint, sollte ebenfalls begonnen werden, das Böse zu tilgen: Geld, Gier, Geschwätz, Lüge und Machterhalt.

Die Aufforderung zur Rückkehr oder die Rückkehr zu alten Gewohnheiten selbst, kann nur schädlich sein. Als vor hundert Jahren die spanische Grippe fast ungehindert wüten konnte, rief der Bischof von Zamora seine Mitbürger auf, die Reliquien des heiligen Rochus – der in seinem Grabe rotierte – zu küssen. Damit wurde diese Stadt zum hotspot der Seuche und die Seuche bekam daher ihren Namen, und auch weil einzig die spanische Presse unzensiert über den Verlauf und die Todeszahlen berichten konnte. Man kann des heilenden Rochus von Montpellier, der sich um Pestkranke kümmerte und deshalb verfolgt wurde, nur durch Selbstlosigkeit gedenken. An Reliquien sollte man dabei nicht glauben, man sollte Menschen lieben, aber keine Gegenstände. Heilend oder heilig können nur Medizin und Liebe sein, nicht Menschen und Dinge.

Wir können religiös nur durch die Ehrfurcht vor dem Leben sein. Wir müssen auch gar nicht mehr religiös sein. Vernunft und Aufklärung können heute genau das Gute bewirken, das früher fast nur durch die Religionen erreicht werden konnte. Fehlbar sind beide, Religion und Vernunft.  

Nach der Corona-Krise kam die noch größere Herausforderung durch den Ukraine-Krieg. Putin gab sein Konzept der schleichenden Vereinnahmung der Krim und des Donbas, die wir leider gutgläubig mit Appeasement beantwortet haben, zugunsten eines direkten Angriffs auf. Diesen als Blitzkrieg geplanten Überfall nannte er Spezialoperation und verharrte im Narrativ der praktisch unbesiegbaren zweitstärksten Armee der Welt. Die Abschreckung wurde ihm zur Wirklichkeit. Diktatoren lügen nicht nur selbst, sie werden von ihren Leuten aus Angst vor dem Verlust des Lebens und der Privilegien schamlos belogen. Seitdem ist nicht nur die Welt gespalten, sondern auch jedes einzelne Land. Große Teile der Bevölkerungen glauben an die Kraft des Autoritarismus. Sie sind gegen Demokratie, Solidarität und Freiheit, oft ohne es zu merken. Die anderen dagegen rufen zur Verteidigung der Freiheit in der Ukraine auf und helfen mit Waffen, Geld und Logistik. Es wird leider immer noch viel Blut den Dnipro hinunterfließen und das Schwarze Meer rot färben, bis das Gute siegt. Denn, wir haben es schon oft begründet, das Böse darf nicht nur nicht siegen, es wird auch nicht siegen und es hat auch noch nie auf Dauer gesiegt. Das Böse ist immer nur eine Spezialoperation mit allerdings oft langandauernden Schäden. Schon wenn man den Krieg Putins betrachtet, gibt es zwei Seiten: der Angriffskrieg, der in Monaten Zentimeter erobert, und die felsenfeste Solidarität der Nachbarvölker: Polen, Deutschland, Estland, Litauen, Lettland, Finnland, Schweden, Frankreich und nicht zuletzt Großbritannien. Großbritannien war es auch, das die letzte Warnung an Putin abgab, es war am 11. Februar 2022: Putin saß da mit seinem Verteidigungsminister Schoigu und seinem Generalstabschef Gerassimow. Der sagte: Russland ist praktisch unbesiegbar, die alte Geschichte. Aber der britische Generalstabschef Sir Tony Radakin, der neben seinem Verteidigungsminister Ben Wallace saß, sagte: Sie können und werden nicht siegen. Tun Sie es nicht! Der ideologische Hintergrund, den alle Autokraten brauchen, ist nicht etwa von uns beobachtet, sondern selbst verkündet: Orthodoxie, Autokratie und Nationalität, die Karamsin-Losung von 1833 ist Putins Richtschnur. Sie alle aber verkünden, dass sie der Widerstand gegen den Verfall, gegen die Dekadenz, gegen die Unmoral sind. Im Geiste ihrer Moral überfallen sie dann andere Länder und berufen sich auf das Vorbild der USA. Aber die Vereinigten Staaten haben in den letzten Jahrzehnten kein Land überfallen, um es zu besitzen. Die Fragwürdigkeit ihrer Militäreinsätze kann nicht die Erlaubnis zu noch fragwürdigeren Spezialoperationen bedeuten.

Wir leben nicht nur nicht in besonders harten Zeiten. Die Zeiten sind immer gleich hart und gleich warm und herzlich. Wir leben in Zeiten neuer Chancen, auch das ist nicht neu, aber wir können es jetzt besser erkennen als je zuvor. 1918, noch bevor die spanische Grippe beendet war, zerfielen fünf große und schädliche Reiche: das Osmanische Reich, das schon mehrere Jahrhunderte lang geschwächelt hatte (‚der kranke Mann am Bosporus‘), das Russische Zarenreich, ein Unort von Ausbeutung, Unterdrückung und Alkoholismus, die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, ein am eigenen Rassismus gescheiterter Vielvölkerstaat, das deutsche Kaiserreich, bis heute das Vorbild für Bürokratismus, Militarismus und Kadavergehorsam und, allerdings noch nicht vollständig und krass angeheizt durch die spanische Grippe, das British Empire. Sie gingen zurecht, weil sie sich überlebt hatten, unter, aber sie alle hatten auch gute Seiten. Das Osmanische Reich war von einem zwanzigjährigen Visionär, Mehmet II., errichtet worden, sein enormer Beitrag zur Musikgeschichte kann hier nicht ausgeführt werden, Russland brachte Lew Graf Tolstoi mit seiner Lebensreform hervor, Deutschland Bach, das Automobil und die Schallplatte, Österreich Beethoven und Kafka und Großbritannien Shakespeare und den Widerwillen vor kolonialer Ausbeutung.

Jede Zeit hat ihre Chancen. Wer mit Corona fertig wurde, kann auch Weihnachten in der heutigen konsumistischen Perversion abschaffen. Das wird natürlich kein administrativer Akt sein, sondern die durch Überzeugung erreichte Abänderung der Gewohnheiten.  Die Plastiktüte ist das Vorbild. Auch die Atombombe ist seit Hiroshima und Nagasaki nie wieder angewendet worden, sie kann weg. Der Plastikbecher muss das nächste Ziel sein. Dann kommt Weihnachten.

THESEUS IN PASEWALK

Theseus war ein sagenhafter König in Athen, und seine Heldentaten waren derart übergreifend und groß, dass man sein Schiff, das Medium seines Handelns, als Museum aufbewahrte und verehrte. Allerdings machten sich im Laufe der Jahrtausende Restaurationen und Erhaltungsmaßnahmen notwendig, so dass nach einiger Zeit nicht mehr erkannt werden konnte, was alt und echt und was neu und synthetisch war. Plutarch machte aus diesem Streit ein philosophisches Paradoxon.

Die Marienkirche zu Pasewalk, deren älteste Bauformen auf das Jahr 1178 zurückgehen, gotische Gestalt nahmen sie vielleicht um das Jahr 1350 an, prangt als übergroßes Mahnmal der Verwandlung. Am 7. August 1630 beschlossen kaiserliche, also katholische Soldaten, die Kirche niederzubrennen. Das geht nur, wenn man den Dachstuhl, der wahrscheinlich aus Eichenbalken besteht, zum Brennen und Einstürzen bringt, nur so zerstört man sicher das darunter liegende Gewölbe. Zum Schluss bleiben nur die Grund- und Umfassungsmauern stehen. So geschah es. Das Wüten der katholischen Soldaten ist als ‚Pasewalker Blutbad‘ in die unrühmliche Geschichte eingegangen. Erst 1734 begann der Wiederaufbau, der um 1850 mit der neogotischen Instandsetzung des Innenraums abgeschlossen wurde. Der große Baumeister Friedrich August Stüler bemerkte bei dieser Gelegenheit die künftigen statischen Probleme und ließ die Stützwerke aller Joche noch heute sichtbar verstärken. Das hielt fast 150 Jahre. Aber in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1984 brach die Nordwestecke des Turms, am nächsten Tag der gesamte Turm zusammen. Bei der anschließenden Sprengung der Reste des Turms, die aus Sicherheitsgründen notwendig erschien, stürzten die westlichen beiden Joche mitsamt aller Einbauten, einschließlich der größten Kaltschmidt-Orgel Mecklenburgs und Pommerns, ein. Im März 1986 deckte ein Orkan das Dach des ungesicherten Bauwerks ab. Das schien das Ende der Kirche zu sein. Die Hoffnung kam jedoch schon am 9. November 1989 aus Berlin. Der Zusammenbruch der DDR könnte die Auferstehung der Marienkirche sein, so dachten die Pasewalker Aktivisten. Tatsächlich bildete sich bald ein Freundeskreis, der Gelder generierte, und die bauliche Lösung für die nächsten 500 Jahre wurde ein Gleitkern aus Beton, mit Feld- und historisierenden Backsteinen ummantelt. Nun sieht man wieder von fern und nah: die viel zu große und überaus schöne Marienkirche. Aber ist es noch die Marienkirche? Und sind die Pasewalker noch die Pasewalker?

Allein das Trauma des Einsturzes eines jahrhundertealten äußerst stabilen Gebäudes muss die Menschen, die rings um dieses Gebäude wohnten, verändert haben. Hinzu kommt, dass 1989 nicht nur eine staatliche Ordnung, sondern auch eine durch lange Traditionen gestützte Lebensweise zerbrach. Viele Menschen wurden haltlos. Ihr Strohhalm ist fortan nicht die Kirche, denn die ist selbst eine Ruine.

Viele Menschen starben seither, nicht so viele wurden geboren. Viele sind weggezogen, einige kamen hierher. Aber auch schon vorher gab es drastische demografische Verschiebungen. Wenn man sich die heute zum großen Teil leerstehende Kürassierkaserne ansieht, ein schöner und monumentaler neogotischer Bau, dann kann man erahnen, welchen demografischen Einfluss die tausenden von Soldaten auf die weitgehend unverheiratete und unbefriedigte Bevölkerung hatte. Gerade also das traditionalistische Element, das oberflächliche Beobachter als Stabilisator der Kontinuität ansahen, hat die scheinbare genetische Homogenität aufgelöst. Überhaupt erwiesen sich die Garanten der Ordnung Monarchie, Kirche und Militär als Katalysatoren der Zerstörung. Oswald Spengler mag dies in seinem umfänglichen und symbolisch beachteten Untergangswerk gemeint haben. Aber damit trafen weder er noch seine Nachbeter den Kern der Sache.

Ein Kern der Sache ist das Theseus-Paradoxon: Identität löst sich auf, Definition ist immer provisorisch, die Gestalt wandelt sich, das Wesen wird Schatten, Herkunft verblasst gegen Zukunft. Selbst die festen Felsen beben, wusste schon Goethe. Hier gleichen sich, um bei Goethe zu bleiben, auch Natur und Kultur, beide verändern sich und lassen sich verändern. Das Einzige, was bleibt, ist der Wechsel. Das ist inzwischen Binse.

Aber warum bildet sich der doch recht einfache Zusammenhang nicht in der Politik ab und was macht das Problem der Demokratie mit uns?  Auch in der Politik gibt es, mit wechselnden Prioritäten und großen Schnittmengen, die Bewahrer und die Beweger. Die Bewahrer haben es leichter, weil sie verkünden, dass das Gestern, was jeder kennt, besser ist als das Morgen, was keiner kennt. Die Beweger dagegen wirken unsicher. Das Unbekannte verunsichert. Nur, wer zurück geht, kennt die Straße. Uns bestärkt zudem ein einfacher biologischer Umstand: mit neunzehn Jahren waren wir alle schön und stark. Unser Ideal liegt so gesehen immer hinter uns. Hinzu kommt: vieles ist bewahrenswert wie das Schiff des Königs Theseus, in Pasewalk die Marienkirche. Schnell aber wird man Pygmalion[1], auch er ein König, und verliebt sich in eine selbst geschaffene Statue. Wir beten seit altersher die selbst geschaffenen Symbole, Ikonen und Statuen an. Wir lieben auch im andern gern uns selbst. Wir sehen im Heute oft das Gestern. Selbst der Computer meldet: Ihr Endgerät wurde wiedererkannt. Thesaurus ist eine nach dem König der Veränderung benannte Schatzkammer oder Sammlung. Das Leben ist eine Sinuskurve, aber oben und unten heißt hier nicht gut und schlecht – wie beim Vermögen -, sondern bewahren und bewegen, jegliches zu seiner Zeit. Im Idealfall ist das eine ausgeglichene Pendelbewegung, die sich als Sinus abbilden lässt. Aber wann gibt es den Idealfall? Eher fällt das Ideal in sich zusammen.

Das Gestern dagegen ist immer sagenhaft, nie real. Wir erinnern uns lieber und öfter an unser Ideal als an die unliebsamen Fakten, die wir zudem weder wissen, noch recherchieren können. Auch die objektivsten Geschichtsbücher wurden von Subjekten geschrieben. Der König liebt sein Schiff, an dem tausend Arbeiter in tausend Jahren tausend Planken ausgetauscht haben. Der Christ und der Architekturliebhaber in Pasewalk, sie lieben ihre Kirche, obwohl kein Stein auf dem andern blieb, nur die Idee blieb erhalten: Die Idee heißt Halt. Wir suchen immer einen Halt, Leitplanken, Sicherheitsgurte, Baugerüste, Garantien, Versicherungen. Und trotzdem überleben so viele von uns das Blutbad, das es neben dem Ideal auch gestern gab. Danken wir dem König, der uns diese schöne Legende, dieses kraftvolle Paradoxon schenkte, über das man noch weitere mehrere tausend Jahre wird nachdenken können. Aber, fahren wir wie Brecht fort, dem Arbeiter sei auch gedankt, der das Schiff und das Kirchenschiff immer wieder aufbaut. Und nun stellen wir uns wie Albert Camus Sisyphos als glücklichen Menschen vor.


[1] Ovid, Metamorphosen

WEIHNACHTS- UND NEUJAHRSBRIEF 2024

Jeder Anschlag, jedes Verbrechen befeuert die immer gleiche Diskussion: irgendwer muss schuld sein, das muss gestoppt werden, früher war alles besser, wir brauchen drastische Strafen. Aber der Täter von Magdeburg ist gleichzeitig Hasser von Saudi-Arabien, dem Islam und Deutschland, er steht der AfD nahe.

Allen Religionen und Philosophien ist vorzuwerfen, dass sie es über tausende von Jahren nicht geschafft haben, Rache und Vergeltung, Hass und Gewalt, Mord und Totschlag, Genozid und Krieg zu ächten und zu verhindern. Sie haben, im Gegenteil, all diese Schandtaten befeuert. Die gute Nachricht, dass Bashar al Assad vertrieben wurde, wird überschattet durch den Verbleib der Gewalt in den Köpfen der Kinder. Im nordöstlichen, kurdischen Teil Syriens, gibt es in al-Hol ein Lager für Frauen und Kinder der getöteten oder gefangenen islamistischen Kämpfer. Ein Kamerateam nähert sich dem Zaun und ein kleiner Junge ruft: Wir werden euch alle töten. Die Reporter fragen: Warum? Die Antwort des kleinen Jungen war: Weil ihr Ungläubige seid und weil Frauen verschleiert sein müssen.

Denselben kleinen Jungen habe ich schon einmal kennengelernt, da hieß er Dima Nikolajewitsch, und seine Eltern erzählten ihm, dass Onkel Lenin alles Böse auf der Welt sähe und bestrafe. ‚Der liebe Gott sieht alles‘ – so drohte Schwester Hedwig in meinem Kinderheim, als ich der kleine Junge war.

Ich dagegen glaube, dass das Fernglas falsch herum gehalten wird. Der Fokus ist falsch. Unsere Natur heißt Kooperation. Wir werden – so sagt es auch die Weihnachtsgeschichte – egal unter welchen Umständen in eine Welt der potenziellen Liebe und Geborgenheit geboren, seien unsere Eltern nun Milliardäre oder Bettler. Und umgekehrt: wir sind geboren, um jemandem, sei er unser Kind oder nicht, genau diese Liebe und Geborgenheit zu geben.

Das ist nicht abstrakt, das ist im Gegenteil sehr konkret. Denken wir weniger über die Welt nach und beginnen wir einfach vor unserer Haustür. Immer wieder hören wir Ausreden und glauben sie lieber als all die Aufrufe zur Güte. Empörung und Verschwörung sind leichter als das zu tun, das nach bestem Wissen und Gewissen das Richtige, das Gute und das Machbare ist. Da fällt uns auf: wer das nicht alles schon gesagt hat und wem wir nicht alles schon vorgeworfen haben, dass das Sonntagspredigt wäre, Schönreden, unrealistisch, blauäugig, Gutmenschentum. Wollten wir nicht alle gute Menschen sein?

Es wird oft Putin mit Hitler verglichen. Das scheint mir auch richtig zu sein: beide sind kranke Diktatoren, Imperialisten, auch ganz wörtliche Gewalttäter, beide kämpften auf dem Hinterhof gegen die Ratten, beide haben eine nationalistische Ideologie. Aber während die Hitlerjungen sich noch im letzten Drittel des April 1945 begeistert dem ‚Feind‘ entgegenwarfen und starben, müssen Putins Soldaten mit viel Geld den armen Familien in Sibirien zum Sterben abgekauft werden. Verlieren mussten und müssen beide, nicht nur, weil das Böse nicht siegen darf, sondern weil es auch noch nie auf Dauer gesiegt hat. Die Welt wird besser, wenn wir alles besser machen als unsere Vorfahren.

Je demokratischer Politik und Gesellschaft sind, desto enttäuschender, weil wir Demokratie mit paradiesischen und widerspruchsfreien Zuständen verwechseln. Solange ein Autokrat herrscht, kann er sich zum Gott und seinen Staat zum Paradies erklären. Allerdings bleibt zum Schluss immer nur ein Scherbenhaufen übrig. Die Demokratie dagegen lebt deshalb vom Kompromiss, weil keiner recht hat und recht haben kann. Sie ist ein fortwährendes Suchen nach einem gangbaren Weg, für den es keinen Kompass gibt. Was aber beide, die Bewahrer und die Beweger, nicht schaffen, ist die Aufrechterhaltung eines Status quo. Denn die Welt verändert sich so schnell, wie wir uns verändern, die Menschheit und der Mensch.

Mir hat das Schicksal in diesem Jahr wieder einen unglücklichen ukrainischen Flüchtling zugewiesen, der gar nicht so schlecht Deutsch spricht, aber offensichtlich nicht ausreichend für die neunte Klasse des Gymnasiums. Eigenartigerweise fühlt er sich, obwohl er nicht aus dem Osten oder Süden des Landes kommt, zu Russland und zur russischen Sprache hingezogen. Seine Mutter weigert sich, Deutsch zu lernen. Er trauert seiner Großmutter mit ihrer Hühnerhofidylle nach. Sodann habe ich einen sechsjährigen Jungen, dessen Eltern aus der Prenzlauer Eritrea Community stammen, dessen Sprach- und Verhaltensniveau zwischen zwei und drei Jahren liegt. Ich gehe jede Woche eine Stunde mit ihm spazieren. Dabei lernt er. Jetzt haben wir schon einen noch sehr kleinen Dialog, er stellt auch Fragen und er macht einen gutgelaunten Eindruck. Meine Hauptaufgaben bleiben natürlich N. und die Nachhilfeschüler in Pasewalk und Löcknitz.

Wir können uns für die Welt nichts wünschen, denn die Veränderungen haben komplexe und multiple Ursachen. Die meisten und das meiste davon ist von uns unbeeinflussbar. Statt aber darüber zu lamentieren, sollten wir das für uns Beeinflussbare beeinflussen. Wer das Wetter nicht ändern kann, behüte sich und die seinen. Helfen wir dem Kind, das die Sprache nicht versteht, dem Alten, der die Welt nicht mehr versteht, dem Migranten, der die Paragraphen nicht versteht. Seien wir ab sofort freundlicher, hilfsbereiter und verbindlicher. Kümmern wir uns um vergessene Nachbarn.  

Ich wünsche allen dabei belebende Freude, nachhaltigen Erfolg und bleibende Gesundheit.

Mit den besten Wünschen    

        

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