SCHWEBEBAHN DER ZUKUNFT

Über den Roman ‚Schwebebahnen‘ von Hanns Josef Ortheil*

Obwohl die Rektorin der Volksschule wissenschaftlich, wahrscheinlich eher essayistisch interessiert ist, kann auch sie in Bezug auf die Verachtung der Kreativität und Bevorzugung der eher mechanischen Wissensaneignung nicht über ihren Schatten springen. Sie schwingt sich sogar zu einer heute eher selbstverständlichen emotionalen Regung auf, indem sie das Sorgenkind umarmt. Der Konflikt des autistischen Kindes wird damit allerdings nicht gelöst, verstärkt sich noch im hart leistungsorientierten altsprachlichen Gymnasium. Allerdings kann ich, obwohl zur selben Generation gehörig, diese Art Geistfeindlichkeit nicht bestätigen. In meiner Erinnerung gab es nur einen Schüler, der Beethoven-Sonaten spielen konnte und auch bei Schulveranstaltungen spielte, aber da war er in der elften Klasse.

Der neueste Roman von Hanns Josef Ortheil zeigt aus der Sicht des Kindes, das in der ersten Klasse ist, den Bildungs- und Gesellschaftskonflikt der Kreativität. Nachdem das Kind Josef in der Kölner Grundschule wegen seiner Weltfremdheit, wie man damals sagte, krachend gescheitert ist, lernt es bei seinem Vater Lesen und Schreiben, und die Familie zieht in die Eisenbahnersiedlung in Wuppertal. Dies lieferte dem Autor klein zwei wunderschöne Metaphern: die Welt der Eisenbahn und die faszinierende Schwebebahn, die immerhin – obwohl ein Meisterwerk der Ingenieurskunst – ein Mittelding zwischen Karussell und Fortbewegung ist. Diese Faszination trägt über das ganze Buch. In der Schule dagegen schwelt der Konflikt zwischen altem Lernen und zukunftsträchtiger Kreativität, allerdings abgemildert durch die investigativen Gespräche mit der Rektorin, fort. Dem kleinen Josef widerfährt aber noch ein weiteres Lebensglück: ab dem ersten Tag in der neuen Heimat hat er eine Freundin, die nicht nur mehr ist als Spielgefährtin, sondern auch ein weiteres Thema des Romans nämlich das Zusammenleben mit den damals so genannten Gastarbeitern. Die Familie von Mücke hat ein italienisch geprägtes Lebensmittelgeschäft, das im Laufe der Geschichte expandiert. Unbemerkt von den ultrakonservativen Zeitgenossen gibt es mittlerweile in jeder Kleinstadt unseres schönen Landes mindestens ein italienisches, ein griechisches und auf jeden Fall ein türkisches Restaurant. Den Fremdenfeinden zum Fraß vorgeworfen: Seit Himmler deutscher Innenminister war, gibt es Afrodeutsche. Eine Jungenbande im nahen Wald bezeichnet Mücke und Josef, die in ihrer Verfolgungsangst italienisch sprechen, folgerichtig als ‚hergelaufenes Pack‘. An mehreren Stellen des Buches ist die Perspektive des achtjährigen Kindes ohne erkennbaren Grund überdehnt. Mücke, die Freundin aus der zweiten Klasse, obwohl von Hause aus eher pragmatisch begabt und an die italienische Schlagermusik des Ladens ihrer Eltern gewöhnt, versteht auch die Musikalität Josefs. Dieser wiederum, der immer noch in der ersten Klasse ist, hört das Thema der Goldbergvariationen und improvisiert – nachdem ihm seine Mutter ein Glas Wasser bringen musste – eine erste eigene Variation. Überhaupt streift die Musikalität des kleinen Protagonisten an das Wunderbare, wenn nicht an das Wunder.

Aber vielleicht ist das die poetische Idee, die in der Sprache des Buches (und auch der anderen Bücher Ortheils) nicht so erkennbar ist. Die Sprache vermittelt vielmehr den Eindruck, dass das semibiografische Buch eine autobiografische Dokumentation sein könnte. Tatsächlich ist es aber höchstwahrscheinlich semifiktional, und darin liegt gerade seine Stärke und seine gute Lesbarkeit.

Während die Schule als das Konfliktfeld dargestellt wird, das sie auch heute noch ist, werden die Narrative der noch allmächtigen, reichen und stets gegenwärtigen katholischen Kirche ausführlich und ziemlich unkritisch geschildert und übernommen. Zwar zweifeln die beiden Kinder anlässlich ihrer bevorstehenden Kommunion an der Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut, aber die Erwachsenen, der Autor und die Leser bleiben scheinbar bei dieser abenteuerlichen Erklärung stehen. Diese Erzählung funktioniert nur, wenn die ganze Welt katholisch ist und Zweifel staatlicherseits verfolgt werden. Viel interessanter ist die Rolle des Gemeindepfarrers, der gleichzeitig ein Ordensmann ist. Er ist ein wirklicher Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens in dieser Industriegemeinde, die man sich – mit Ausnahme der Schwebebahn – als ziemlich düster vorzustellen gewohnt ist. Im Gemeindesaal steht ein Bösendorfer-Flügel, an dem Josef sozusagen Tag und Nacht üben kann. Die Mutter baut auf Kosten des Erzbistums Köln, das heute einen eher schlechten Ruf hat, eine Bibliothek auf, die so schnell wächst, dass bald eine zweite Bibliothekarin eingestellt werden muss. Das Buchzeitalter scheint in einem Aufbäumen zu enden. Aber ist die digitale Welt nicht eine ebenso literarische, nur mit einem anderen Trägermedium? Jetzt wehrt sich auch die Verbrennermotorlobby, und wir wissen noch nicht, ob die Zukunft der Menschheit das Elektroauto oder gar kein Automobil oder gar nicht ist. Sollte die minutiöse Darstellung der katholischen Glaubenswelt kritisch gemeint sein, so ist das schwer erkennbar. Vielmehr erscheint sie als der stabilere Teil gegenüber der heute staatlich dominierten Bildungspolitik. Man kann wohl kaum der Erfahrungswelt des Autors widersprechen, aber da es sich um einen Roman und nicht um Memoiren handelt, dürfen wir uns schon zweifelnd zurücklehnen und hoffen, dass es nicht nostalgisch gemeint ist.

Da es heute relativ weit weniger Kinder gibt, ist ihr individualistischer Raum um so größer. Zwar kollidieren immer noch einzelne Kinder mit der Welt der Erwachsenen, aber sie werden auch besser aufgefangen als in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. In jeder Schule gibt es Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Die Eltern haben ausgedehnte, manchmal sogar überdehnte Rechte. Die inzwischen völlig veraltete föderale Struktur verhindert jedoch die dringend notwendige Reformierung der Bildung, so dass immer wieder einzelne repressive oder ressentimentale Elemente zum Vorschein kommen. Immer noch ist die anekdotische Evidenz wichtiger als die immer noch zu langsam vordringenden wissenschaftlichen Erkenntnisse. Das notwendige Tempo der Modernisierung ist keine Idealvorstellung, sondern wird von der rasanten Technikentwicklung vorgegeben. Seit dreißig Jahren beklagen wir, dass die Kinder und Jugendlichen den Lehrern digital überlegen sind. Die Antwort darauf ist die Veränderung des Punktesystems der Bewertung, die insgesamt schon längst fragwürdig ist.

Über all das nachzudenken, fordert dieser neueste Roman Ortheils heraus. Liebevoll wird der kleine Individualist geschildert. Liebevoll erscheint aber auch seine kleine Kernfamilie, eine wahrhafte Verwirklichung des Kinderspiels Vater, Mutter, Kind. Das wird besonders deutlich als der Vater einen Schlaganfall erleidet. Diese kleine Familie ist beinahe eine paradigmatische Vorwegnahme heutiger Verhältnisse. Allerdings gibt es nun neue Probleme und Konflikte. Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft wird ebenso liebevoll erzählt. Dabei geht es nicht um die Idealisierung der Migranten, denn der jüngste Bruder der Mutter von Mücke, der aus Sizilien eilends herbeigeschaffte Manager der kleinen Großfirma, ist als Macho und Manchesterkapitalist durchaus unsympathisch. Das hindert die beiden Familien aber nicht, ein Modell der Zukunft zu leben. Deshalb meine Quintessenz und Forderung: Lasst uns nicht nach der Herkunft, sondern nach der Zukunft fragen und sagen!  

DON’T ASK WHERE YOU COME FROM, ASK WHERE YOU ARE GOING!

*Hanns Josef Ortheil ‚Schwebebahnen‘, Roman, Luchterhand, München 2025

Hinterlasse einen Kommentar