
Yüzünüzü güldürsün
Die Uecker heißt an dieser Stelle noch Ucker, kommt aus dem Unteruckersee und durchfließt die Uckermark. Im Stadtgebiet, aber doch beinahe schon am Rand, gibt es eine schlichte Betonbrücke, hinter der eine noch provisorische oder schon ruinöse Treppe auf den Ascheberg führt, der einen ziemlich großen Garagenkomplex beherbergt, der allerdings nicht mehr sehr zahlreich frequentiert wird. Viele Menschen werden die Garagen eher als Unterstell denn als Herberge für die geliebten Maschinen benützen. Wenn die Garagenansiedlungen nicht typisch für die untergegangene DDR sind, so sind sie es für die Zeit, in der die Autos noch neu und wertvoll und schützenswert waren und vielleicht noch nicht an jedem Tag gebraucht wurden. In jeder ostdeutschen Stadt gibt es sie sozusagen als Begleitung oder Beigabe der Banlieus oder Suburbs, wie hier die Neubausiedlungen bestimmt nicht hießen. Eher hießen sie Oststadt. Hinter dem so bebauten Ascheberg, dessen Name auf eine noch unrühmlichere Vergangenheit hinweist, kommt ein Feuchtgebiet, das von Kleinstlandwirtschaften, wie zum Beispiel Pferdezuchten, bestimmt ist. Es ist sogar ein historischer Ort, denn am 28. Oktober 1806 zog hier das am südlichen Ende von Prenzlau von den Franzosen vernichtend geschlagene Bataillon des Prinzen August von Preußen in Richtung Schönwerder, wo es noch einmal auf die Franzosen traf, so dass nichts von der Truppe übrigblieb. Das ist besonders peinlich, weil der Kommandeur ein später durchaus bekannter General wurde, dessen Adjutant viele Jahre der später ebenfalls berühmte, sogar weltberühmte General Carl von Clausewitz vielleicht hier über seine später allgemein bekannten Sätze und Grundsätze nachdachte: JEDER PLAN WIRD DURCH FRIKTIONEN ZERNICHTET! Der Generalquartiermeister des Hohenloheschen Armeekorps‘, Christian Reichsfreiherr von und zu Massenbach, ein Jugendfreund von Dr. Dr. Friedrich von Schiller, hatte durch seine Fehleinschätzung dieses Desaster zu verantworten. Hätte er mit Clausewitz gesprochen, so hätte er wissen können, dass es nicht auf die Truppenstärke ankommt. Dies schicken wir auch gleich noch als Telegramm an Putin, der das auch nicht zu wissen scheint.
Dies alles sollte nur andeuten, dass selbst der unscheinbarste Ort voll von Natur und Geschichte ist, ganz ungeachtet davon, ob wir das glauben, wissen, wahrhaben oder zur Kenntnis nehmen wollen.
An dieser Brücke traf ich an einem brütend heißen Nachmittag einen nicht mehr jungen, aber auch noch nicht wirklich alten Mann. Wir blickten beide in das schnell fließende und erstaunlich klare Wasser der Ucker, die an dieser Stelle DIE SCHNELLE heißt. Ich blickte da hinunter, weil vor einigen Tagen dort ein Fahrrad gelegen hatte, was jetzt – zum Glück – nicht mehr da war. Sind es Betrunkene oder Jugendliche, die zu solchem Vandalismus neigen? In jedem Fall ist es unschön.
Der nicht mehr junge Mann dagegen wollte mir unbedingt mitteilen, dass – wie der Fachmann sagt – der kleine Fluss entkrautet werden muss und dass das in der DDR in jedem Jahr akribisch gemacht wurde, damals von der Melioration, so hieß in jedem Landkreis ein zwischengenossenschaftlicher Betrieb, der sich mit Be- und Entwässerung, eben mit Bodenverbesserung beschäftigte. Da er die DDR in den höchsten Tönen zu loben anhob, wandte ich ein, dass das Krautschneiden in den kleinen Flüssen besser gewesen sein mag, aber bei weitem nicht alles, wie man daran sehen könnte, dass die DDR in Konkurs gegangen war. Es fielen ihm gleich Beispiele ein, die das bekräftigten: so hatte er als LKW-Fahrer Fleisch gefahren und Menschen in Uniform und mit einer Kluppe – ‚weißt du, was das ist?‘ – hatten das Fleisch vermessen und in Ost und West eingeteilt. Er wollte sagen: das Beste der DDR ging in den Westen. Um das Gespräch wieder auf unser heimatliches Flüsschen zu bringen, fragte ich ihn, ob er wüsste, was für ein Wasser dort hineinfließt. Er sagte sofort: Das ist Abwasser, das wüsste er von der Feuerwehr, er selbst hätte es schon oft abgepumpt. Ich sagte ihm, dass das keinesfalls Abwasser sein könnte. Abwasser stinkt, ist sichtbar schmutzig und es ist verboten, es in Flüsse zu leiten. Das sei, sagte ich leidenschaftslos, einer der vielen Punkte, die jetzt besser wären als in der DDR. Nein, sagte er, schrie er, in der DDR war alles besser, alles, dann bist du auch so ein Wendehals, wenn du nicht glaubst, dass früher alles besser war. Er nahm etwas zu viel Schwung, um auf sein Fahrrad zu kommen, verfehlte den Antritt, bekam sich kurz vor dem Absturz wieder in den Griff und fuhr wutentbrannt und laut schimpfend davon.
Ich blieb ratlos zurück, alles, was ich noch zu sagen hätte, wäre in den Wind gesprochen. Das sind sie also, dachte ich, die Wähler der einstigen PDS, der jetzigen AfD: wer anderer Meinung ist als sie, wird beschimpft und mit Etiketten statt mit Argumenten belegt. Ein Wendehals ist in ihren Augen jemand, der ihre Vergangenheit verrät. Heute heißt das wohl eher ‚Volksverräter‘. ‚Wendehals‘ stammt aus der regellosen und höchstkreativen Umbruchphase kurz vor und kurz nach der Wiedervereinigung. Sie – diese Wähler – fühlen sich beleidigt, wenn man Gegenstände oder Ereignisse unserer gemeinsamen Vergangenheit kritisiert. Kritisieren heißt ihnen immer verunglimpfen oder beschimpfen. Sie klammern sich an einen falschen Heimatbegriff: indem sie Heimat nicht einen Ort nennen, sondern einen Zeitabschnitt, noch schlimmer: ein kurzlebiges und zurecht untergegangenes Staatskonstrukt. Sie verwechseln ihre schöne Kindheit und Jugend mit einem politischen Gebilde, das selbst ein ‚Wendehals‘ und ‚Volksverräter‘ war, das die Geschichte und die Traditionen leugnete und sogar bekämpfte.

Unsere Heimat – unsere Krankheit: Wer sich auf solch einen kleinen Fleck zurückzieht, Fleck sowohl als Ort verstanden wie auch als Zeit, der verpasst die Gegenwart. Und noch wichtiger: der schrammt an seiner eigenen Zukunft vorbei. Statt ewig am museumsreifen RFT-Radio zu hängen, sollten wir lieber in die weite Welt fahren und andere Menschen kennenlernen, die Menschen, die zu uns kommen gut aufnehmen und soviel wie möglich Gutes tun. Ich glaube, dass viele Menschen sich gern an ihre Jugend erinnern, egal wo sie stattgefunden hat. Das Schöne der Erinnerung ist unsere Jugend, nicht die DDR. Das gilt für jeden Ort der Welt und für jeden Punkt der Weltgeschichte. Es ist leicht, sich über die Fehler der anderen zu beschweren, die von den ’neuen Bundesländern‘ sprechen, aber es scheint doch sehr schwer zu sein, selber mit diesem ewigen Blick nach hinten aufzuhören, ins Gestern, ins Verwesende und Verrottende zurückzublicken. Außerdem wundert mich immer, wie jemand ein Staatsgebilde für seine Heimat halten kann. Ich denke, dass ‚Heimat‘ – obwohl ich diesen Begriff selten bis fast nie verwende – allenfalls ein Gefühl der Vertrautheit mit Landschaft und Menschen sein kann, ganz unabhängig davon, wer gerade regiert. Ich sehe mich als Brandenburger und Europäer und Mensch. Mit der DDR verbindet mich nichts oder fast nichts, obwohl ich auch lange Zeit eine RFT-Stereoanlage hatte. Als Sieg der Kunst und der Technik habe ich aber meine erste CD empfunden, da musste ich mir dann allerdings einen CD-Spieler von Grundig kaufen, denn den gab es, da wo ich wohnte, bis dahin nicht.
Das Kraut muss geschnitten werden. Die kleine Brücke verdiente ein Denkmal.