
So findet doch alles ein gutes Ende: du hast dein Bestes gegeben und ich bin schuld. Aber war es nicht andersherum? Vielleicht liegt der Selbstbetrug in der falschen Kategorie: Selbstlosigkeit mag es geben, aber sie ist schon sehr selten. Wir kennen alle die Vorwürfe, die selbst Schwester Tereza oder Albert Schweitzer gemacht werden. Jeder weiß, dass Beziehungen nicht nur auf einer Seite brechen, vielmehr gibt es anscheinend die Eulerschen Knickfälle, also berechenbare Bruchstellen, auch im mentalen Bereich. Da wir aber keine Balken sind, sondern Menschen, ist uns das Selbst näher als die Wahrheit, die ohnehin nie zu ermitteln sein wird. Denn auch in der winzigen Gemeinschaft von zwei Menschen gibt es Geheimnisse und Unwägbarkeiten, obwohl wir selbst uns immer für gläsern-transparent halten. Aber wir gleichen wohl eher einem Hohlspiegel. Als Kinder haben wir uns auf dem Rummelplatz im Spiegelkabinett amüsiert, weil wir damals gesehen haben: das ist die Wahrheit über uns. Wir sind nicht schön, einmalig, hochbegabt. Sollte jemand hochbegabt sein, so leidet er eben an einem anderen Defizit. Das Defizit errechnet sich als Abweichung vom Ideal oder wenigstens von der Norm. Alle ideologischen Systeme treten mit dem Anspruch auf, ein neues Ideal schaffen zu wollen: den jeweils selbstlosen Menschen. Die Demokratie dagegen, die Ideologie, Religion oder Philosophie dem Menschen freistellt, geht vom selbstvollen Menschen aus. Aber das setzt natürlich ein Höchstmaß an Bildung voraus. Jetzt wird also um die Bildung gestritten: ist die deutsche Schülerin mit ihrem zentnerschweren Rucksack voller Bücher und Ordner die Norm oder der finnische Schüler mit seinem staatsfinanzierten Tablet? Ist überhaupt Wissen, also die beliebige Ansammlung von Fakten das Maß der Bildung oder nicht vielmehr das Denken, die Methode des Weltverständnisses? So streiten seit Jahrtausenden Pedant und Poet.
Wir können keine Wahrheit finden, weil wir nicht nur in der Wirklichkeit der Welt, sondern auch in angehäuften Narrativen leben. Man kann lange darüber streiten, ob der Aberglaube des Fegefeuers 1525 oder die Verwechslung von Fernsehen und Leben schlimmer sei. Die Journalisten sind die Welterklärer und Priester geworden, aber auch sie verbreiten Aberglauben. Der Spott der Denker gegen die selbsternannten Welterklärer dauert schon länger, die sich für absolut haltende Erklärung hat aber in unserer Welt des permanenten Bildes und des Dauerkommentars einen gewissen Höhepunkt erreicht. Schon der Oberscharlatan Scholllatour benötigte neben seiner Kamera eine Formel der Glaubwürdigkeit, seine lautete: ich war da. Er wollte seine staunenden Zuschauer glauben machen, dass seine bloße Anwesenheit Garant der Wahrheit wäre. Dabei weiß jeder, der schon einmal einen Unfall gesehen hat und anschließend als Zeuge befragt wird, dass er nichts gesehen hat. Tatsache und Blickwinkel klaffen meilenweit auseinander.
Genau so tief ist der Riss zwischen dem Individualismus, der durch den Wohlstand und die Demokratie ermöglicht wurde, und dem Auftreten des Menschen in immer größeren Massen. Wir behaupten unser ganz persönliches Recht auf Konsum und Wahrheit, bestellen aber in Wahrheit alle den Temu- oder Amazonplunder. Zur Abwechslung verbringen wir ganze Tage in Malls oder Einkaufszentren, die wir aber Center nennen. Wir kaufen in Läden, die es weltweit gibt und beklagen die Schließung des Bäckers um die Ecke.
Auch Diktatoren, die Komplementärschäden der Demokratie, berufen sich darauf, dass sie deshalb rechthaben, weil sie ihr Bestes geben. Schuld an allen Problemen sind also die anderen, vorwiegend das Ausland oder eine bestimmte auswärtige Gruppe. Die Grenze zwischen Demokratie und Diktatur verschwimmt wegen der zunehmenden Komplexität der Welt. Scharlatane hat es schon immer gegeben, der Begriff stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert, aber durch die geschickte Vermischung von Charisma und Inkompetenz können sich auch in Demokratien Scharlatane lange Zeit halten. Sie behaupten, das Gegenteil von korrupt zu sein, während in der Diktatur Korruption als Wesensmerkmal der Politik hingenommen wird: ein Mensch mit übermenschlichen Fähigkeiten und quasigöttlicher Kompetenz darf auch in außerirdischem Luxus leben. Darüber vergessen die Diktatoren, dass sie sterblich sind.
Statt uns also für immer richtig zu halten und die Schuld nach außen zu verschieben: es gäbe ‚kein richtiges Leben im falschen‘, sollten wir lieber auf die Barockdichter hören oder auf den allweisen König Salomo oder auf wen auch immer, und an unsere Endlichkeit denken. Wir sind zeitweise hineingeworfen in Geschichten und Verhältnisse und schwimmen im Meer der Zweifel. Jeder ist seines Glückes Müllmann, ist leicht gesagt, aber schwer zu glauben. Die Welt ist nicht dein Freund? Und trotzdem müssen wir jeden Tag hinaus oder wir glauben es zumindest. Kaum einer hält es nur mit sich allein aus. Zum Schluss schreiben wir verzweifelte Briefe und sehen wie Ralf Stegner aus.
