
Lenin ließ 1922 unliebsame Intellektuelle, darunter viele nichtmarxistische Philosophen, mit einem Schiff außer Landes schaffen. Das Schiff hieß ‚Oberbürgermeister Haken‘ und fuhr tatsächlich nach Stettin, wo Herrmann Haken ein bedeutender Oberbürgermeister gewesen war, an den die Hakenterrassen, das Gründerzeitviertel westlich der Altstadt und der Zentralfriedhof, auch heute noch der größte in Europa, erinnern. Einer der Philosophen war Nikolaj Berdjajew, der Lenins philosophisches Hauptwerk ‚Materialismus und Empiriokritizismus‘ verrissen hatte. Die tausenden Studenten des Ostblocks, die alle Lenins tautologisches Machwerk lesen mussten oder jedenfalls sollten, kannten leider Berdjajew nicht, andernfalls hätten sie es leichter gehabt und wären ihm dankbar gewesen. Seit der Antike werden Menschen ausgewiesen und abgeschoben, wenn nicht gar auf Inseln und in Lager verbracht oder erschossen. Kein Autokrat kann mit dem selbstverständlichen Gedanken leben, dass man sich Menschen nicht aussuchen kann, die Mutter und die Migranten nicht, den Vater schon gar nicht, die Kinder und Kollegen nicht, selbst der Partner oder die Partnerin ist durch genetische und soziale Merkmale zumindest präferiert, wie zahlreiche Versuche mit Mäusen zeigten: OF MICE AND MEN[1]. Wir müssen oder sollten mit den Menschen auskommen, die uns das Schicksal zugewiesen hat. Manche nennen das Schicksal Gott, andere nennen es Zufall. Vielleicht ist eine der Attraktionen der Autokraten, dass sie Menschen entlassen, abservieren, verbannen oder erschießen können. Sie machen kurzen Prozess und beeindrucken so ihre Follower immer aufs Neue. Hinterher will es keiner gewesen sein, niemand will dann Kain gewesen sein.
Aber die Dichter, Propheten und Philosophen haben Gegenmodelle bereitgestellt, die zwar nie zu hundert Prozent angenommen oder gar verwirklicht wurden, jedoch liegt das daran, dass es keine hundert Prozent, sondern zu jeder Meinung, zu jedem Modell und zu jeder Staatsführung immer eine Opposition gibt. Und das gilt sogar auch für die Autokraten. Das Versöhnungsparadigma der Christen ist zwar gründlich gescheitert, viele ziehen sich auf Rituale und Regeln zurück, aber sie haben der Welt mit Yesus doch ein Ideal gestiftet, das heute noch wirkt. Weniger bekannt ist die Geschichte der Antigone. Sie widersetzt sich dem Tyrannen, der verboten hatte, Antigones Bruder zu beerdigen, weil dieser sich wiederum seinem Bruder, dem amtierenden König, widersetzt hatte. Antigone sagt[2] zu ihrer Schwester: ‚Folg du jedwedem, der befiehlt, ich aber folg dem Brauch.‘ Der Brauch sind die übergeordneten Werte einer Gesellschaft oder eines Menschen. Der Befehl gibt zwar vor, den Interessen zu folgen, übersieht aber, dass die Interessen zwar objektiv sein können, genauso gut aber bloße Meinung. Aber der Tyrann hat einen Sohn, der und den Antigone liebt. Nun wissen wir nicht, ob er sich seinem Vater, dem Tyrannen, widersetzt, weil er Antigones Schönheit oder weil er ihren Prinzipien folgt. Aber das wissen wir bei keinem Menschen. Liebe kann immer auch ein egoistischer Impuls sein, während aber Egoismus niemals Liebe ist. Im Gegenteil: Je egoistischer ein Subjekt handelt, desto mehr zerstört es sich selbst. Das gilt für Menschen, Gruppen und Gesellschaften. Konkurrenz ist nur sinnvoll, wenn sie in Kooperation eingebettet ist. Die Verhältnisse der Menschen beruhen immer auf Vereinbarungen, Ausnahme ist lediglich die Pflege der Kleinkinder. Jede Vereinbarung ist auch kündbar.
Die Rhetorik von Trump, Putin und ihresgleichen hört sich wie bellum omnium contra omnes[3] von Thomas Hobbes an. Aber davon abgesehen, dass sich Europa für Rousseau entschieden hat, wissen wir – ganz ohne Theorie, aus bloßer Empirie -, dass alle Tyrannen in der Hölle enden, ja, dass die Hölle eigens für die Tyrannen konzipiert wurde. Normale Menschen haben in der Hölle nichts zu suchen. Das Recht des Stärkeren verliert letztendlich immer gegen die Goldene Regel. Wäre es anders, so wäre die menschliche Gesellschaft schon untergegangen und für immer aus der Welt verschwunden, in der zwar jeder jeden frisst, aber auch jeder mit jedem kooperiert. Das ist schwer zu verstehen. Aber kein Dichter, Prophet oder Philosoph hat uns versprochen, dass das Leben leicht oder leicht zu verstehen ist. Das Gute ist immer nur ein Nadelöhr, aber unverzichtbar.
Der Sohn schafft es tatsächlich, seinen bösen, starren und interessengeleiteten Vater zu versöhnen. Aber es ist zu spät. Antigone, die eingemauert worden war, hat sich, um dem Hungertod zu entgehen, erhängt, ihr Freund Haimon, jener gute Sohn, folgte seiner Geliebten, indem er sich in sein Schwert stürzte. Vorher schon hat sich ihre Mutter und Großmutter Iokaste aus Scham mit ihrer Haarnadel umgebracht. Beinahe möchte man sagen: und so weiter. Tod und Verderben sind allgegenwärtig. Aber das Leben geht doch weiter.
Ein großer Teil der Kraft wird durch die Strafen aufgefressen, wenn wir unser Leben Interessen, und gar nur unseren Interessen, unterordnen. Die milde Ordnung dagegen schafft den Fortgang des Lebens. Zwar ist der Mensch das ungeheuerste der Ungeheuer, aber er ist auch der Gipfel der Liebe. Statt die Goldene Regel für uns zu reklamieren, sollten wir sie einzuhalten versuchen. Statt andere zu verurteilen, sollten wir uns so verhalten, dass andere uns nicht verurteilen können. Das ist schwer.
Leider ist mir kein Beispiel bekannt, in dem der Diktator von seinem Sohn oder seiner Tochter dazu überredet worden wäre, die Seiten zu wechseln. Uns Heutigen erscheint es vielmehr so, dass die Kinder der Mächtigen sich zumeist auch in der Sonne der Macht baden wollen. Nach dem Vorbild der Monarchen streben einige sogar die Errichtung einer Dynastie an, das markanteste Beispiel ist Kim Il Sung mit seinem Sohn Kim Jong Il und seinem Enkel Kim Jong Un, die nacheinander seit 1948 den Nordteil der koreanischen Halbinsel in bizarrer Weise totalitär beherrschen. Merkwürdigerweise glauben viele Bewohner Deutschlands, das ein freies und reiches Land ist, dass es ein Land am Ende und kurz vor dem Untergang wäre, viele Nordkoreaner dagegen wissen, obwohl sie in einer absurden, unfreien und bitterarmen Diktatur leben, dass ihr Land einzigartig schön, groß und bedeutend wäre, so wie die Abbilder der Diktatoren.
Obwohl mir die genderungerechte Semantik des Wortes VERSÖHNUNG bewusst ist, verteidige ich seinen Geist ebenso wie Schillers ALLE MENSCHEN WERDEN BRÜDER. Denn wer nicht versteht, dass alle Menschen erst Brüder werden mussten, um dann Geschwister werden zu können, wird auch nicht an Versöhnung glauben, die wichtiger ist als Gendern, das in gewissem Betracht aber auch seine Berechtigung hat. Wir hoffen, dass wir das mit der erneuten Würdigung von Antigone, die immerhin zweieinhalbtausend Jahre alt und über jeden Verdacht erhaben ist, deutlich machen konnten.
[1] Roman von John Steinbeck
[2] Sophokles, Antigone, Übersetzung von Hölderlin, Bearbeitung von Brecht
[3] Krieg aller gegen alle