DAS LAMETTA IST VERWORFEN

Die Gans ist gegessen. Das Fest ist gefeiert. Das Lametta ist verworfen. Was bleibt, sind Müll und Gedanken.

Noch vor zehn Jahren erschien die Politik vielen Menschen langweilig und gleichförmig. Viele glaubten an die Politikverdrossenheit ihrer Raum- und Zeitgenossen. Aber es gab Vorboten: die Banken- oder Griechenlandkrise und Sarrazins dummes, böses Buch. Es war zum Glück auch – was wir damals ahnten und heute wissen – falsch. Deutschland schafft sich nicht nur nicht ab, sondern erfindet sich neu, weil es sich neu erfinden muss und kann. Der Grund ist allerdings weniger, dass es feindliche Machenschaften von Gates & Merkel und dem ausgedachten ‚Weltjudentum‘ gibt. Noch nicht einmal die ‚Reichsbürger‘ können Deutschland erschüttern, obwohl sie das so sehr gehofft hatten, Mahlsack-Winkemann, Heinrich XIII. Reuß und ihre Kumpane. Es ist auch nicht das Corona-Virus, was uns den Neubeginn aufzwingt.

Das Corona-Virus hat uns aber wie der Totalschnitt eines Pathologen oder Romanciers gezeigt, wozu wir fähig sind. Europa, dessen angeblich morbider Zustand immer wieder beschworen wird, hat nicht nur auf Urlaubsreisen, sondern vor allem auch und zum zweiten Mal auf Weihnachten verzichtet. Die Häme ist weitgehend aus der Politik gewichen. Für eine so große Krise arbeitet Europa erstaunlich gut zusammen. Obwohl die Demonstrationen, die sich 2016 gegen die Flüchtlingspolitik, nun aber gegen die antipandemischen Maßnahmen der Regierungen richten, ärgerlich, schändlich und vor allem lächerlich sind, werden sie weitgehend geduldet. Schädlich dagegen sind sie nicht und auch sie werden Deutschland und Europa nicht abschaffen.  

Abschaffen – ein Wort übrigens, das wieder eine Art von großem Administrator unterstellt – müssen wir unsere Lebensweise der Verachtung, Vermüllung und Vernichtung der Natur. Es wird bald mehr Plastikteile als Fische in den Weltmeeren geben. Aber weil es eben keinen Großadministrator gibt, müssen wir es selber tun.

Wer es geschafft hat, dem Corona-Virus zu widerstehen, der sollte es auch mit Weihnachten aufnehmen können. Weihnachten ist vom Fest der Yesusgeburt zu einem Konsumterrortiefpunkt der Verschwendung geworden. Das Symbol der Menschwerdung – nicht Gottes, sondern der Menschen – in der Verehrung eines neugeborenen Kindes unter widrigsten Umständen, wurde schrittweise in ein konsumistisches Horrorszenario verwandelt. Ob zum Beispiel der Weihnachtsmann dabei eine Rückkehr heidnischer Gebräuche oder der Trottel des Konsums ist, bleibt gleichgültig. Der Ersatz einer einzelnen wunderwirkenden Kerze durch elektrische, automatisch gesteuerte Beleuchtungen ganzer Vergnügungsparks und zu Vergnügungsparks umgewidmeter Innenstädte, der Wettbewerb der Hausbesitzer der Vorstädte um die hellste und brutalst verschwenderische Beleuchtung, die vierwöchige Dauerbeschallung und damit inflationäre Opferung der Weihnachtslieder – das alles ist bedauernswert, aber nicht unumkehrbar. Weihnachtmann und Weihnachtsbaum sind so gesehen Merkmale des Untergangs, den wir verhindern können, indem wir sie wieder abschaffen. Vielleicht beginnt der als Neuerer gepriesene Papst in Rom mit der Abschaffung der infantilen Yesuspuppe. Es gibt genügend Babys, die auf einen Träger warten.

Gefeiert wird eigentlich die Geburt eines Kindes, von dem sich später herausstellt, dass es der Menschheit einige der besten Sätze und Lehren brachte, das aber mit den Mächtigen ebendieser Menschheit kollidierte und demzufolge ermordet wurde.

Daraus muss folgen, dass es niemals mehr Mächtige geben darf, denen die Lizenz zum Töten oder auch nur Einkerkern von Störern ihrer Macht gegeben wird. Wer sich eine solche Lizenz anmaßt, muss gehen. Auch Tränengas und Wasserwerfer sind keine Argumente. Erkennbar sind solche autoritären Politiker an ihrem clownesken Verhalten, das nicht ihrem Verstand, sondern ihrem Unverstand entspricht und von den wirklichen und ernsthaften Clowns zurecht und gekonnt nachgeäfft wird. Wir haben vor Jahr und Tag schon auf das merkwürdige, verkehrt herum wahrgenommene Verhältnis von Chaplin und Hitler, die im selben Monat desselben Jahrs geboren wurden, hingewiesen. Hitler, der als arbeits-, obdach- und sinnloser Asylheimbewohner sicher oft ins Kino gegangen ist, sah dort den Tramp, den Wanderarbeiter, der das Gute will, aber durch tausend Schwierigkeiten, die zum Weinen und zum Lachen sind, muss. Hitler kannte das, denn er wurde in Wien wegen seiner lächerlichen antisemitischen Reden von Bauarbeitern vom Baugerüst geworfen. Sein clowneskes Verhalten behielt er bis zu seinem würdelosen Abgang bei. Er ahmte Chaplin nach, ohne dessen Qualität auch nur erahnen zu können.

Daraus muss weiter folgen, dass wir noch viel mehr die Möglichkeit jeder Tötung ächten und verhindern. Es muss die Ächtung geächtet werden, nicht Menschen. Die Verherrlichung von Waffen und die Waffen selbst müssen geächtet werden, nicht Menschen. Der Staat mit seinen Polizisten und Soldaten sollte den Anfang machen. Einige Länder, in denen überwiegend die Vernunft regiert, wie zum Beispiel Deutschland, sollten die Waffenindustrie stilllegen und den Im- und Export von Waffen verbieten. Alle Institutionen, Sozietäten, Gruppen und Vereine sollten diesem Beispiel folgen. Im Vatikan, in dem es außer dem Papst auch einen Nuntius der Hölle zu geben scheint, sollte ebenfalls begonnen werden, das Böse zu tilgen: Geld, Gier, Geschwätz, Lüge und Machterhalt.

Die Aufforderung zur Rückkehr oder die Rückkehr zu alten Gewohnheiten selbst, kann nur schädlich sein. Als vor hundert Jahren die spanische Grippe fast ungehindert wüten konnte, rief der Bischof von Zamora seine Mitbürger auf, die Reliquien des heiligen Rochus – der in seinem Grabe rotierte – zu küssen. Damit wurde diese Stadt zum hotspot der Seuche und die Seuche bekam daher ihren Namen, und auch weil einzig die spanische Presse unzensiert über den Verlauf und die Todeszahlen berichten konnte. Man kann des heilenden Rochus von Montpellier, der sich um Pestkranke kümmerte und deshalb verfolgt wurde, nur durch Selbstlosigkeit gedenken. An Reliquien sollte man dabei nicht glauben, man sollte Menschen lieben, aber keine Gegenstände. Heilend oder heilig können nur Medizin und Liebe sein, nicht Menschen und Dinge.

Wir können religiös nur durch die Ehrfurcht vor dem Leben sein. Wir müssen auch gar nicht mehr religiös sein. Vernunft und Aufklärung können heute genau das Gute bewirken, das früher fast nur durch die Religionen erreicht werden konnte. Fehlbar sind beide, Religion und Vernunft.  

Nach der Corona-Krise kam die noch größere Herausforderung durch den Ukraine-Krieg. Putin gab sein Konzept der schleichenden Vereinnahmung der Krim und des Donbas, die wir leider gutgläubig mit Appeasement beantwortet haben, zugunsten eines direkten Angriffs auf. Diesen als Blitzkrieg geplanten Überfall nannte er Spezialoperation und verharrte im Narrativ der praktisch unbesiegbaren zweitstärksten Armee der Welt. Die Abschreckung wurde ihm zur Wirklichkeit. Diktatoren lügen nicht nur selbst, sie werden von ihren Leuten aus Angst vor dem Verlust des Lebens und der Privilegien schamlos belogen. Seitdem ist nicht nur die Welt gespalten, sondern auch jedes einzelne Land. Große Teile der Bevölkerungen glauben an die Kraft des Autoritarismus. Sie sind gegen Demokratie, Solidarität und Freiheit, oft ohne es zu merken. Die anderen dagegen rufen zur Verteidigung der Freiheit in der Ukraine auf und helfen mit Waffen, Geld und Logistik. Es wird leider immer noch viel Blut den Dnipro hinunterfließen und das Schwarze Meer rot färben, bis das Gute siegt. Denn, wir haben es schon oft begründet, das Böse darf nicht nur nicht siegen, es wird auch nicht siegen und es hat auch noch nie auf Dauer gesiegt. Das Böse ist immer nur eine Spezialoperation mit allerdings oft langandauernden Schäden. Schon wenn man den Krieg Putins betrachtet, gibt es zwei Seiten: der Angriffskrieg, der in Monaten Zentimeter erobert, und die felsenfeste Solidarität der Nachbarvölker: Polen, Deutschland, Estland, Litauen, Lettland, Finnland, Schweden, Frankreich und nicht zuletzt Großbritannien. Großbritannien war es auch, das die letzte Warnung an Putin abgab, es war am 11. Februar 2022: Putin saß da mit seinem Verteidigungsminister Schoigu und seinem Generalstabschef Gerassimow. Der sagte: Russland ist praktisch unbesiegbar, die alte Geschichte. Aber der britische Generalstabschef Sir Tony Radakin, der neben seinem Verteidigungsminister Ben Wallace saß, sagte: Sie können und werden nicht siegen. Tun Sie es nicht! Der ideologische Hintergrund, den alle Autokraten brauchen, ist nicht etwa von uns beobachtet, sondern selbst verkündet: Orthodoxie, Autokratie und Nationalität, die Karamsin-Losung von 1833 ist Putins Richtschnur. Sie alle aber verkünden, dass sie der Widerstand gegen den Verfall, gegen die Dekadenz, gegen die Unmoral sind. Im Geiste ihrer Moral überfallen sie dann andere Länder und berufen sich auf das Vorbild der USA. Aber die Vereinigten Staaten haben in den letzten Jahrzehnten kein Land überfallen, um es zu besitzen. Die Fragwürdigkeit ihrer Militäreinsätze kann nicht die Erlaubnis zu noch fragwürdigeren Spezialoperationen bedeuten.

Wir leben nicht nur nicht in besonders harten Zeiten. Die Zeiten sind immer gleich hart und gleich warm und herzlich. Wir leben in Zeiten neuer Chancen, auch das ist nicht neu, aber wir können es jetzt besser erkennen als je zuvor. 1918, noch bevor die spanische Grippe beendet war, zerfielen fünf große und schädliche Reiche: das Osmanische Reich, das schon mehrere Jahrhunderte lang geschwächelt hatte (‚der kranke Mann am Bosporus‘), das Russische Zarenreich, ein Unort von Ausbeutung, Unterdrückung und Alkoholismus, die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, ein am eigenen Rassismus gescheiterter Vielvölkerstaat, das deutsche Kaiserreich, bis heute das Vorbild für Bürokratismus, Militarismus und Kadavergehorsam und, allerdings noch nicht vollständig und krass angeheizt durch die spanische Grippe, das British Empire. Sie gingen zurecht, weil sie sich überlebt hatten, unter, aber sie alle hatten auch gute Seiten. Das Osmanische Reich war von einem zwanzigjährigen Visionär, Mehmet II., errichtet worden, sein enormer Beitrag zur Musikgeschichte kann hier nicht ausgeführt werden, Russland brachte Lew Graf Tolstoi mit seiner Lebensreform hervor, Deutschland Bach, das Automobil und die Schallplatte, Österreich Beethoven und Kafka und Großbritannien Shakespeare und den Widerwillen vor kolonialer Ausbeutung.

Jede Zeit hat ihre Chancen. Wer mit Corona fertig wurde, kann auch Weihnachten in der heutigen konsumistischen Perversion abschaffen. Das wird natürlich kein administrativer Akt sein, sondern die durch Überzeugung erreichte Abänderung der Gewohnheiten.  Die Plastiktüte ist das Vorbild. Auch die Atombombe ist seit Hiroshima und Nagasaki nie wieder angewendet worden, sie kann weg. Der Plastikbecher muss das nächste Ziel sein. Dann kommt Weihnachten.

THESEUS IN PASEWALK

Theseus war ein sagenhafter König in Athen, und seine Heldentaten waren derart übergreifend und groß, dass man sein Schiff, das Medium seines Handelns, als Museum aufbewahrte und verehrte. Allerdings machten sich im Laufe der Jahrtausende Restaurationen und Erhaltungsmaßnahmen notwendig, so dass nach einiger Zeit nicht mehr erkannt werden konnte, was alt und echt und was neu und synthetisch war. Plutarch machte aus diesem Streit ein philosophisches Paradoxon.

Die Marienkirche zu Pasewalk, deren älteste Bauformen auf das Jahr 1178 zurückgehen, gotische Gestalt nahmen sie vielleicht um das Jahr 1350 an, prangt als übergroßes Mahnmal der Verwandlung. Am 7. August 1630 beschlossen kaiserliche, also katholische Soldaten, die Kirche niederzubrennen. Das geht nur, wenn man den Dachstuhl, der wahrscheinlich aus Eichenbalken besteht, zum Brennen und Einstürzen bringt, nur so zerstört man sicher das darunter liegende Gewölbe. Zum Schluss bleiben nur die Grund- und Umfassungsmauern stehen. So geschah es. Das Wüten der katholischen Soldaten ist als ‚Pasewalker Blutbad‘ in die unrühmliche Geschichte eingegangen. Erst 1734 begann der Wiederaufbau, der um 1850 mit der neogotischen Instandsetzung des Innenraums abgeschlossen wurde. Der große Baumeister Friedrich August Stüler bemerkte bei dieser Gelegenheit die künftigen statischen Probleme und ließ die Stützwerke aller Joche noch heute sichtbar verstärken. Das hielt fast 150 Jahre. Aber in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1984 brach die Nordwestecke des Turms, am nächsten Tag der gesamte Turm zusammen. Bei der anschließenden Sprengung der Reste des Turms, die aus Sicherheitsgründen notwendig erschien, stürzten die westlichen beiden Joche mitsamt aller Einbauten, einschließlich der größten Kaltschmidt-Orgel Mecklenburgs und Pommerns, ein. Im März 1986 deckte ein Orkan das Dach des ungesicherten Bauwerks ab. Das schien das Ende der Kirche zu sein. Die Hoffnung kam jedoch schon am 9. November 1989 aus Berlin. Der Zusammenbruch der DDR könnte die Auferstehung der Marienkirche sein, so dachten die Pasewalker Aktivisten. Tatsächlich bildete sich bald ein Freundeskreis, der Gelder generierte, und die bauliche Lösung für die nächsten 500 Jahre wurde ein Gleitkern aus Beton, mit Feld- und historisierenden Backsteinen ummantelt. Nun sieht man wieder von fern und nah: die viel zu große und überaus schöne Marienkirche. Aber ist es noch die Marienkirche? Und sind die Pasewalker noch die Pasewalker?

Allein das Trauma des Einsturzes eines jahrhundertealten äußerst stabilen Gebäudes muss die Menschen, die rings um dieses Gebäude wohnten, verändert haben. Hinzu kommt, dass 1989 nicht nur eine staatliche Ordnung, sondern auch eine durch lange Traditionen gestützte Lebensweise zerbrach. Viele Menschen wurden haltlos. Ihr Strohhalm ist fortan nicht die Kirche, denn die ist selbst eine Ruine.

Viele Menschen starben seither, nicht so viele wurden geboren. Viele sind weggezogen, einige kamen hierher. Aber auch schon vorher gab es drastische demografische Verschiebungen. Wenn man sich die heute zum großen Teil leerstehende Kürassierkaserne ansieht, ein schöner und monumentaler neogotischer Bau, dann kann man erahnen, welchen demografischen Einfluss die tausenden von Soldaten auf die weitgehend unverheiratete und unbefriedigte Bevölkerung hatte. Gerade also das traditionalistische Element, das oberflächliche Beobachter als Stabilisator der Kontinuität ansahen, hat die scheinbare genetische Homogenität aufgelöst. Überhaupt erwiesen sich die Garanten der Ordnung Monarchie, Kirche und Militär als Katalysatoren der Zerstörung. Oswald Spengler mag dies in seinem umfänglichen und symbolisch beachteten Untergangswerk gemeint haben. Aber damit trafen weder er noch seine Nachbeter den Kern der Sache.

Ein Kern der Sache ist das Theseus-Paradoxon: Identität löst sich auf, Definition ist immer provisorisch, die Gestalt wandelt sich, das Wesen wird Schatten, Herkunft verblasst gegen Zukunft. Selbst die festen Felsen beben, wusste schon Goethe. Hier gleichen sich, um bei Goethe zu bleiben, auch Natur und Kultur, beide verändern sich und lassen sich verändern. Das Einzige, was bleibt, ist der Wechsel. Das ist inzwischen Binse.

Aber warum bildet sich der doch recht einfache Zusammenhang nicht in der Politik ab und was macht das Problem der Demokratie mit uns?  Auch in der Politik gibt es, mit wechselnden Prioritäten und großen Schnittmengen, die Bewahrer und die Beweger. Die Bewahrer haben es leichter, weil sie verkünden, dass das Gestern, was jeder kennt, besser ist als das Morgen, was keiner kennt. Die Beweger dagegen wirken unsicher. Das Unbekannte verunsichert. Nur, wer zurück geht, kennt die Straße. Uns bestärkt zudem ein einfacher biologischer Umstand: mit neunzehn Jahren waren wir alle schön und stark. Unser Ideal liegt so gesehen immer hinter uns. Hinzu kommt: vieles ist bewahrenswert wie das Schiff des Königs Theseus, in Pasewalk die Marienkirche. Schnell aber wird man Pygmalion[1], auch er ein König, und verliebt sich in eine selbst geschaffene Statue. Wir beten seit altersher die selbst geschaffenen Symbole, Ikonen und Statuen an. Wir lieben auch im andern gern uns selbst. Wir sehen im Heute oft das Gestern. Selbst der Computer meldet: Ihr Endgerät wurde wiedererkannt. Thesaurus ist eine nach dem König der Veränderung benannte Schatzkammer oder Sammlung. Das Leben ist eine Sinuskurve, aber oben und unten heißt hier nicht gut und schlecht – wie beim Vermögen -, sondern bewahren und bewegen, jegliches zu seiner Zeit. Im Idealfall ist das eine ausgeglichene Pendelbewegung, die sich als Sinus abbilden lässt. Aber wann gibt es den Idealfall? Eher fällt das Ideal in sich zusammen.

Das Gestern dagegen ist immer sagenhaft, nie real. Wir erinnern uns lieber und öfter an unser Ideal als an die unliebsamen Fakten, die wir zudem weder wissen, noch recherchieren können. Auch die objektivsten Geschichtsbücher wurden von Subjekten geschrieben. Der König liebt sein Schiff, an dem tausend Arbeiter in tausend Jahren tausend Planken ausgetauscht haben. Der Christ und der Architekturliebhaber in Pasewalk, sie lieben ihre Kirche, obwohl kein Stein auf dem andern blieb, nur die Idee blieb erhalten: Die Idee heißt Halt. Wir suchen immer einen Halt, Leitplanken, Sicherheitsgurte, Baugerüste, Garantien, Versicherungen. Und trotzdem überleben so viele von uns das Blutbad, das es neben dem Ideal auch gestern gab. Danken wir dem König, der uns diese schöne Legende, dieses kraftvolle Paradoxon schenkte, über das man noch weitere mehrere tausend Jahre wird nachdenken können. Aber, fahren wir wie Brecht fort, dem Arbeiter sei auch gedankt, der das Schiff und das Kirchenschiff immer wieder aufbaut. Und nun stellen wir uns wie Albert Camus Sisyphos als glücklichen Menschen vor.


[1] Ovid, Metamorphosen