
Jeder Anschlag, jedes Verbrechen befeuert die immer gleiche Diskussion: irgendwer muss schuld sein, das muss gestoppt werden, früher war alles besser, wir brauchen drastische Strafen. Aber der Täter von Magdeburg ist gleichzeitig Hasser von Saudi-Arabien, dem Islam und Deutschland, er steht der AfD nahe.
Allen Religionen und Philosophien ist vorzuwerfen, dass sie es über tausende von Jahren nicht geschafft haben, Rache und Vergeltung, Hass und Gewalt, Mord und Totschlag, Genozid und Krieg zu ächten und zu verhindern. Sie haben, im Gegenteil, all diese Schandtaten befeuert. Die gute Nachricht, dass Bashar al Assad vertrieben wurde, wird überschattet durch den Verbleib der Gewalt in den Köpfen der Kinder. Im nordöstlichen, kurdischen Teil Syriens, gibt es in al-Hol ein Lager für Frauen und Kinder der getöteten oder gefangenen islamistischen Kämpfer. Ein Kamerateam nähert sich dem Zaun und ein kleiner Junge ruft: Wir werden euch alle töten. Die Reporter fragen: Warum? Die Antwort des kleinen Jungen war: Weil ihr Ungläubige seid und weil Frauen verschleiert sein müssen.
Denselben kleinen Jungen habe ich schon einmal kennengelernt, da hieß er Dima Nikolajewitsch, und seine Eltern erzählten ihm, dass Onkel Lenin alles Böse auf der Welt sähe und bestrafe. ‚Der liebe Gott sieht alles‘ – so drohte Schwester Hedwig in meinem Kinderheim, als ich der kleine Junge war.
Ich dagegen glaube, dass das Fernglas falsch herum gehalten wird. Der Fokus ist falsch. Unsere Natur heißt Kooperation. Wir werden – so sagt es auch die Weihnachtsgeschichte – egal unter welchen Umständen in eine Welt der potenziellen Liebe und Geborgenheit geboren, seien unsere Eltern nun Milliardäre oder Bettler. Und umgekehrt: wir sind geboren, um jemandem, sei er unser Kind oder nicht, genau diese Liebe und Geborgenheit zu geben.
Das ist nicht abstrakt, das ist im Gegenteil sehr konkret. Denken wir weniger über die Welt nach und beginnen wir einfach vor unserer Haustür. Immer wieder hören wir Ausreden und glauben sie lieber als all die Aufrufe zur Güte. Empörung und Verschwörung sind leichter als das zu tun, das nach bestem Wissen und Gewissen das Richtige, das Gute und das Machbare ist. Da fällt uns auf: wer das nicht alles schon gesagt hat und wem wir nicht alles schon vorgeworfen haben, dass das Sonntagspredigt wäre, Schönreden, unrealistisch, blauäugig, Gutmenschentum. Wollten wir nicht alle gute Menschen sein?
Es wird oft Putin mit Hitler verglichen. Das scheint mir auch richtig zu sein: beide sind kranke Diktatoren, Imperialisten, auch ganz wörtliche Gewalttäter, beide kämpften auf dem Hinterhof gegen die Ratten, beide haben eine nationalistische Ideologie. Aber während die Hitlerjungen sich noch im letzten Drittel des April 1945 begeistert dem ‚Feind‘ entgegenwarfen und starben, müssen Putins Soldaten mit viel Geld den armen Familien in Sibirien zum Sterben abgekauft werden. Verlieren mussten und müssen beide, nicht nur, weil das Böse nicht siegen darf, sondern weil es auch noch nie auf Dauer gesiegt hat. Die Welt wird besser, wenn wir alles besser machen als unsere Vorfahren.
Je demokratischer Politik und Gesellschaft sind, desto enttäuschender, weil wir Demokratie mit paradiesischen und widerspruchsfreien Zuständen verwechseln. Solange ein Autokrat herrscht, kann er sich zum Gott und seinen Staat zum Paradies erklären. Allerdings bleibt zum Schluss immer nur ein Scherbenhaufen übrig. Die Demokratie dagegen lebt deshalb vom Kompromiss, weil keiner recht hat und recht haben kann. Sie ist ein fortwährendes Suchen nach einem gangbaren Weg, für den es keinen Kompass gibt. Was aber beide, die Bewahrer und die Beweger, nicht schaffen, ist die Aufrechterhaltung eines Status quo. Denn die Welt verändert sich so schnell, wie wir uns verändern, die Menschheit und der Mensch.
Mir hat das Schicksal in diesem Jahr wieder einen unglücklichen ukrainischen Flüchtling zugewiesen, der gar nicht so schlecht Deutsch spricht, aber offensichtlich nicht ausreichend für die neunte Klasse des Gymnasiums. Eigenartigerweise fühlt er sich, obwohl er nicht aus dem Osten oder Süden des Landes kommt, zu Russland und zur russischen Sprache hingezogen. Seine Mutter weigert sich, Deutsch zu lernen. Er trauert seiner Großmutter mit ihrer Hühnerhofidylle nach. Sodann habe ich einen sechsjährigen Jungen, dessen Eltern aus der Prenzlauer Eritrea Community stammen, dessen Sprach- und Verhaltensniveau zwischen zwei und drei Jahren liegt. Ich gehe jede Woche eine Stunde mit ihm spazieren. Dabei lernt er. Jetzt haben wir schon einen noch sehr kleinen Dialog, er stellt auch Fragen und er macht einen gutgelaunten Eindruck. Meine Hauptaufgaben bleiben natürlich N. und die Nachhilfeschüler in Pasewalk und Löcknitz.
Wir können uns für die Welt nichts wünschen, denn die Veränderungen haben komplexe und multiple Ursachen. Die meisten und das meiste davon ist von uns unbeeinflussbar. Statt aber darüber zu lamentieren, sollten wir das für uns Beeinflussbare beeinflussen. Wer das Wetter nicht ändern kann, behüte sich und die seinen. Helfen wir dem Kind, das die Sprache nicht versteht, dem Alten, der die Welt nicht mehr versteht, dem Migranten, der die Paragraphen nicht versteht. Seien wir ab sofort freundlicher, hilfsbereiter und verbindlicher. Kümmern wir uns um vergessene Nachbarn.
Ich wünsche allen dabei belebende Freude, nachhaltigen Erfolg und bleibende Gesundheit.
Mit den besten Wünschen
