SCHOLZ ODER CIRCUS

Scholz war gestern hier, aber ich wusste nichts davon. Zwar liegt die Hauptschuld dafür mit großer Wahrscheinlichkeit bei mir, aber ich bin immerhin mit einem SPD-Bundestagsabgeordneten auf Facebook befreundet. Das ist ein Mensch, von dem ich nicht regiert oder belästigt werden möchte. Nach meiner sehr subjektiven Beobachtung geht seine Kompetenz gegen Null. Allerdings habe ich nur einmal mit ihm gesprochen. Auf einem seiner Wahlplakate waren Hakenkreuze. Das Plakat hing an einer Kreuzung, an der ich noch nie – und ich wohne seit fast 35 Jahren hier – ein anderes Auto gesehen habe. Ich rief ihn also an und er sagte: ‚Da kann ich jetzt auch nichts machen‘. Er konnte also nicht hinfahren und das Hakenkreuz übersprühen. Er kannte dort keinen Sozialdemokraten, der das für ihn hätte tun können. Es gab keine Möglichkeit, das geschändete Plakat, und übrigens gehören Hakenkreuze zu den wenigen verbotenen Symbolen und Worten, die es bei uns gibt, abzunehmen. So stellt man sich die Regierung solcher Leute vor. Das Schlimmste daran ist noch nicht einmal die Untätigkeit oder die Inkompetenz, das Schlimmste ist, dass sie glauben, dass alles trotzdem immer so weitergeht wie bisher. Warum bin ich mit ihm befreundet, wenn auch nur auf Facebook? Man kann sich in einer menschenleeren Gegend nicht aus dem Weg gehen. Ich kenne noch weitere Sozialdemokraten, aber niemand hat mich auf Scholz aufmerksam gemacht oder gar eingeladen. Als Scholz, bevor er wider Erwarten Kanzler wurde, schon einmal hier und im Neubaugebiet Oststadt zur Diskussion bereit war, waren etwa dreißig Menschen da, von denen zwanzig den Kuchen gebacken hatten, den sie dort anboten. Einsam fuhr der Kandidat damals weg, eskortiert von einem einzigen Polizisten, als trauriger Kanzler erschien er nun wieder, aber ich wusste nichts davon.

Ich war statt dessen, und das hätte sich noch nicht einmal überschnitten, mit meinem Patenenkel im Zirkus. Das sind gleich zwei Optionen gegen den Mainstream, als dessen Repräsentant ich trotzdem von den Vertretern der drei zur Wahl stehenden Generaloppositionen (‚Merkel muss weg‘; ‚Scholz muss weg‘; ‚Merz muss weg‘) [AfD, BSW, WU] wahrgenommen werde. Im IC nach Rostock hat mir neulich ein reichsbürgerähnlicher Bahnsecuritymitarbeiter seine Zeitung erklärt. Ich hatte dummerweise versucht, die Zeitung kopfüber zu entziffern. Auch mein blog, den es schon viel länger gibt als die AfD, wurde schon von einem örtlichen AfD-Führer mit den Worten abgetan: auch nichts als Mainstream, das brauche ich nicht.

Aber noch in den Zirkus zu gehen, statt ihn zu kritisieren und aus Tierschutzgründen abzulehnen, ist ja gerade gegen die als woken Ungeist wahrgenommene und als Mainstream deklarierte Denk- und Politikart gerichtet. Zwar gehöre ich politisch und von der Lebensweise her eher zum postmateriellen Milieu, also zu den Leuten, für die es höhere, nichtmaterielle Interessen gibt, die die Welt retten wollen und nicht nur den Wohlstand sichern, trotzdem hängt mein Herz auch an alten, seit der Kindheit tiefverwurzelten Lebensweisen. Als Kind stand ich auf dem Karl-Liebknecht-Platz meiner Heimatstadt, der kurz vorher noch Adolf-Hitler-Platz geheißen hatte, obwohl weder Adolf Hitler noch Karl Liebknecht je diese kleine Stadt betreten hatten, und starrte gebannt nach oben, wo der in meinen Augen weltberühmteste und unnachahmlichste Artist Traber mit einem Fahrrad auf einem Hochseil fuhr. In meiner darauffolgenden alptraumhaften Nacht fiel er herunter und ich wachte schweißgebadet und tränenüberströmt auf. In den Zirkussen meiner Kindheit spielte noch eine Kapelle und traten noch Tiger auf. Das waren die einzigen Tiger unserer Kindheit, denn niemand fuhr mit uns zum nächsten Zoo, der weit entfernt war. Auch damals schon lebten nicht alle Menschen in Großstädten. Heute bin ich auch gegen Zoos, man muss die Tiere, glaube ich, anders retten als in Gefängnissen. Das wussten schon Rainer Maria Rilke und Rembrandt Bugatti, aber wir wussten es damals nicht und träumten vom Zoo und nahmen den Zirkus als Ersatz.

Dieser Artist Traber, der seinen Auftritt in meiner kleinen Heimatstadt glücklich überlebt hatte, gehörte zu einer alten Zirkus- und Artistenfamilie, genauso wie James Spindler, dem der Zirkus gehört, in dem wir gestern waren, oder wie Johnny Weisheit, André Sarrasani, wie Köllner, Frank, Lauenburger, Sperlich, Busch, Probst, Renz oder Althoff. An eine heute fast vergessene Zirkusfamilie erinnern in Magdeburg zweiunddreißig Stolpersteine ermordeter Familienangehöriger, allesamt Artisten, die sogar eine eigene Sprache, ein Gemisch aus Französisch, Jiddisch, Romanes und Zirkusbegriffen hatten. Deren Zirkus Blumenfeld hatte in seiner besten Zeit vor dem ersten Weltkrieg täglich 4.000 Besucher.

Gestern waren in der Hauptstadt der Uckermark gerade einmal knapp hundert Zuschauer in einem ziemlich großen Zelt, das bestimmt fünfhundert Interessierte hätte aufnehmen können. Es gab sehr gute Pferdedressuren, arabische Vollblüter, Friesenhengste, Shetland-Ponys und ein anthropomorphes Komikpferd, über das man streiten könnte. Brav liefen auch drei Kamele im Kreis. Zwei sehr gute Seilakrobatinnen wurden schließlich getoppt durch das leider so genannte Todesrad, denn es kam zum Glück niemand zu Tode, weder der schwungholende Assistent noch der tonangebende erstklassige Artist James Spindler, der mit schwarzem Augentuch, wie einst in meiner Kindheit Traber, und mit rasantem Absprung Glanznummern hinlegte, die den enormen technischen Aufwand mehr als rechtfertigten. Nicht überzeugend war dagegen der Clown und sein Kindermitspielprogramm und überhaupt die Gesamtstimmung und Moderation, die in kleineren Zirkussen persönlicher und mitreißender ist.

Mein kleiner Patenenkel stammt aus der Nachbarstadt, weil es bei uns keine Entbindungsstation mehr gibt. Seine Eltern dagegen kommen aus Eritrea, einem sehr kleinen Land in Ostafrika, einer durch einen dreißig Jahre währenden Bürgerkrieg erzwungenen Abspaltung von Äthiopien, einer bizarren Diktatur, die George Orwell nicht besser hätte erfinden können. Allerdings geht es in Eritrea weniger um die totale Überwachung als vielmehr um den totalen Arbeitsdienst, in den alle männlichen und viele weibliche Jugendliche nach der Schule gezwungen werden, deshalb hat keiner der weit über einer Million Flüchtlinge, davon etwa 130.000 in Deutschland, einen Schulabschluss.

Leider ist mein kleiner Patenenkel keine Fachkraft. Zu seiner Entlastung kann man aber sagen, dass auch bei uns Menschen nicht als Fachkräfte geboren werden, auch meine leiblichen Enkel nicht. Man muss sie ausbilden. Dafür gibt es in Deutschland die in Deutschland erfundenen Berufsschulen. Da mein kleiner Patenenkel bei solchen Gelegenheiten wie Zirkus, Museum, Theater, Konzert oder Kino der einzige Migrant ist, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir auch hier, obwohl bei uns angeblich ein links-grüner Zeitgeist herrscht, dem Mainstream entgegen schwimmen. Denn Ausbildung heißt nicht nur Schulbesuch, sondern auch osmotische Aufnahme der Kultur und Lebensweise. Kultur wird nicht per ordre de mufti und quasiautomatisch zur Leitkultur, sondern durch Leitung, Anleitung, Gewöhnung, Sozialisation, Fiktion. Kultur ist immer semipermeabel, weshalb genauso oft viele Widerstände überwunden werden müssen. Allerdings andererseits: Kultur ist Austausch, denn sie gibt uns etwas, wenn wir ihr etwas geben.

Alle rudern zurück, alle wollen plötzlich die Immigration stoppen, wir aber, mein kleiner Patenenkel und ich sagen: Niemand wird als Fachkraft geboren. Jeder muss ausgebildet werden. Weder folgt aus dem Geburtenrückgang, dass man ihn ’einfach‘ rückgängig machen kann, noch folgt aus dem Fehlen von Fachkräften, dass man sie ‚einfach‘ importieren kann. Im besten Fall kommen gute Eltern, die für ihre Kinder das Beste wollen, was dann auch das Beste für uns ist. Das Vorhandensein nichtausgebildeter Biodeutscher zeigt das Dilemma: wenn man nicht will, dass unter Brücken schlafende Menschen verhungern, muss man sie alimentieren, alimentiert man sie, will ein Teil von ihnen nicht mehr arbeiten. Das gilt für In- und Ausländer. Denn es geht nicht darum, woher du kommst, sondern wohin du willst.

Insofern war es nicht schlimm, dass ich Scholz verpasst habe, denn ich habe etwas für die Osmose getan. Er sagte ohnehin nur, dass er jetzt zurückrudern wolle.

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