ULTRABRUTALE HORRORSHOW

Über Joachim Wohlgemuths Roman ‚Egon und das achte Weltwunder‘ und Anthony Burgess‘ Roman ‚A Clockwork Orange‘

Im Wikipedia-Artikel über die kleine Kreisstadt Prenzlau steht bei den berühmten Menschen ein DDR-Schriftsteller namens Joachim Wohlgemuth. Er schrieb, neben vielen anderen, noch unbekannteren Büchern einen Roman[1] über einen Jungen, der durch ein sozialistisches Jugendprojekt, das vorher schon die Hitlerjugend verfolgt hatte, geläutert wird. In einem weit gefassten Sinne handelt es sich um eine Konditionierung eines bis dahin nicht ganz angepassten Jugendlichen. Eine Schlägerei ohne ersichtlichen Grund brachte ihn für ein halbes Jahr ins Gefängnis. Der Roman beginnt an dem Tag, an dem er aus dem Gefängnis kommt und seinen Freunden, die er nun – erster Schritt der Besserung – für falsch hält, aus dem Weg gehen will. Das gelingt jedoch nicht, er lernt aber beim nächsten Abend mit viel Alkohol ein hübsches, etwas sarkastisches Mädchen kennen, das – zweiter Schritt der Besserung – die Tochter des Kreisarztes ist. Prenzlau wird im Buch durch die riesige Marienkirche gekennzeichnet, im Film erkennt man als Wohnung des Kreisarztes und seiner Tochter deutich die heute noch stehende und soeben frisch restaurierte Villa in der Grabowstraße.

Beide Protagonisten gehen zusammen in dieses Jugendprojekt der Großen Friedländer Wiese, die schon seit fast zweihundert Jahren – zuletzt von der HJ – trockengelegt werden soll. Dort nun beginnt ihre Liebe, aber der eigentliche dritte Schritt der Besserung und Anpassung kommt durch die FDJ, den Prenzlauer Jugendklubleiter und den Lagerleiter, der gleichzeitig herzkrank und herzensgut ist. Die Liebe wird im Buch zwar etwas langatmig, aber auch anrührend geschildert, im Film kommt sie als prüder und müder Akt daher. Das alles wird gar nicht unflott erzählt, aber immer wieder künstlich verlängert durch kleine hausbackene innere Monologe, deren Kohärenz sich oft nicht erschließt. Dazu gehört auch ein überlanger Brief einer Figur, die in der Handlung gar nicht vorkommt: die Exfreundin des Klubhausleiters. Überhaupt ist Komposition oder Konstruktion einer Geschichte wohl nicht das besondere Talent Wohlgemuths gewesen. Dagegen ist der Text an vielen Stellen witzig oder wenigstens fröhlich. Es gibt auch eine winzige zweite Ebene der Kritik an den Verhältnissen, so etwa, wenn der Jugendklubleiter, der Philosophie studiert hat, sich wundert, dass niemand in seinen Jugendklub kommen will. Erst der Protagonist Egon klärt ihn im Arbeitslager auf, dass am Jugendklub ein Schild angebracht ist: FÜR NIETEN IN NIETHOSEN VERBOTEN. Mit Niethosen waren Jeans gemeint, gegen die die DDR-Führung einen ebenso ausschweifenden wie aussichtslosen Kampf führte, den sie auch noch verlor. Zur kritischen Ebene, die aber marginal bleibt, gehört auch die Sichtbarmachung der Parallelität von HJ und FDJ, die sonst in der Literatur und im Leben der DDR tabu war. Der Protagonist hat einen Gegenspieler, der eine zeitlang im Westen gelebt hat, aber enttäuscht zurückkam und nun versucht, eine winzige Subkultur zu installieren. So redet man sich gegenseitig mit boy an, aber das ist das einzige englische Wort. Und man hat eine Band, in der auf Flaschen und Kämmen gespielt wird. In der Verfilmung von Christian Steinke klingt das aber gar nicht schlecht. 

Der Wikipedia-Artikel über Wohlgemuth klärt uns darüber auf, warum möglicherweise die Zensur dem sonst eher erfolglosen Autor dies durchgehen ließ: statt literarisch zu glänzen, machte er sich einen Namen als Funktionär des Literaturbetriebs und als Stasi-Zuträger. Der Neubrandenburger Schriftstellerverband war unter seiner Führung durch und durch verwanzt und von gegenseitiger Denunziation verseucht. Niemand weinte ihm eine Träne nach, sein Grab in Neubrandenburg-Carlshöhe wurde eingeebnet. Das Buch wurde in der DDR eine halbe Million Mal, also nicht schlecht, verkauft. Das achte Weltwunder war übrigens nicht das Mädchen selbst, sondern wäre ihre Verliebtheit, wenn sie sich denn bis dahin schon einmal verliebt hätte. Auch Wohlgemuths zweites Jugendbuch hatte einen schönen, aber verschenkten Titel Das Puppenheim in Pinnow. Aber warum erinnern wir uns seiner?

Im selben Jahr, 1962, erschien ein später weltberühmtes Buch[2] in London. Es wurde durch die hyperexpressionistische und exzentrische Bildsprache der Verfilmung durch einen Großmeister, Stanley Kubrick, zu einem Klassiker der Weltliteratur, zu einem der besten britischen Romane. Auch dieses Buch handelt von einem nichtangepassten Jungen und Anführer einer Gang, der durch zwei Morde und durch weitere ultrabrutale Verbrechen ins Gefängnis gerät, und dort neu konditioniert wird. Aber warum ist dieses Buch so stark, das andere dagegen schwach und vergessen?

Dieses Buch ist eine Dystopie, eine Parabel, aber auch eine krasse Satire. Etwa zu gleichen Zeit als diese beiden Büchern erschienen, schrieb der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz von der Verhausschweinung des Menschen. Damit ist nun keineswegs eine Verdreckung oder Verrohung im Sinne des Pejorativs gemeint, sondern die Selbstdomestizierung des Menschen. In den Jahrzehnten der Höhepunkte der Mechanik, der Ingenieurskunst, an der Schwelle zum elektronischen Jahrhundert – oder Jahrtausend -, kurz: im Anthropozän, glaubten und glauben viele Menschen an die Umgestaltungsmöglichkeit unserer Psyche. Psychopharmaka und Drogen, die auch in der Milchbar des ‚clockwork orange‘ eine Rolle spielen, können uns in den oder aus dem Wahnsinn treiben. Durch den zweiten Weltkrieg ist zudem die Fähigkeit von uns Menschen, Verbrechen gegen uns Menschen in bis dahin unerhörtem Ausmaß zu begehen, sozusagen unter Beweis gestellt worden. Viele Millionen Menschen starben durch deutsche, sowjetische, japanische und chinesische Schuld, angekündigt durch deutsche, türkische, belgische, britische und französische Genozide und Kolonialverbrechen. Seitdem schien alles möglich, und im Westen wie im Osten hatte man Angst vor einer verrohten und verrotteten und verbrecherischen Jugend.

Der erste Teil des Buches zeigt eine sich steigernde Terrorisierung eines nicht benannten Stadtteils von London oder Manchester. Die Angst vor Terror, das Rufen nach dem starken Staat dominierte die Politik. Sobald aber Politiker die Grenze zum Autoritarismus überschreiten, werden sie vom Publikum, vom Verfassungsgericht oder von der Geschichte zurückgepfiffen. In unserer Story trifft es den ‚Minister des Innern, des Hintern, des Untern‘. Das Buch ist eine Dystopie, aber die satirischen Überzeichnungen machen sie nicht nur lesbarer, sondern den Schrecken auch erträglicher.

Im zweiten Teil erleben wir zunächst ein ganz normales Gefängnis. Der Protagonist Alex erweist sich als Oberopportunist und wird Gehilfe des Gefängnispfarrers. Aber dann kommt es zu einem weiteren Mord in der überbelegten Zelle. Nun bekommt Alex freiwillig das neue Konditionierungsprogramm: mit Elektroschocks und Ekelpharmaka wird ihm die Lust an der Ultrabrutale genommen. Ethische Bedenken gibt es nur vom stets betrunkenen Gefängnispfarrer.

Der dritte Teil lässt den Protagonisten das Programm seiner eigenen Gewaltspirale zurücklaufen. Als er schließlich bei dem Schriftsteller landet, dessen Frau an den Folgen von Alex‘ Gewalt starb, kehrt diese sich endgültig gegen ihn selbst um: die mit dem Schriftsteller verbundenen politischen Aktivisten wollen Alex durch ultrabrutal laute klassische Musik zum Selbstmord bringen, um damit die Regierung stürzen zu können.

Hier haben wir zwei der Besonderheiten, die den Roman so wirkungsvoll gemacht haben: die Liebe des Alex zu Beethoven und überhaupt zur klassischen Musik, die er mit Anthony Burgess und Stanley Kubrick teilt, und die besondere Jugendsprache. Burgess nimmt nicht einfach ein eher beliebiges ‚feindliches‘ Wort, sondern er konstruiert einen Soziolekt aus russischen Wörtern, den er Nadsat nennt, der dann aber gar nichts mehr mit den Russen zu tun hat, sondern eher wie eine Vorwegnahme der Rappersprache oder Nachahmung des Rotwelschen, einer Geheim- und Gruppensprache im 18. Und 19. Jahrhundert ist. Die schönsten eigenständigen und neuen Wörter sind horrorshow für хорошо[3] = gut und Gulliver für голова[4] = Kopf. Obwohl die Sprache eigens für diesen Roman konstruiert wurde, gibt sie ihm ein Höchstmaß an Authentizität. Allein durch diese Sprachkonstruktion, auf die Burgess während einer Reise nach Leningrad (Sankt Petersburg) kam, wird der Leser nicht nur in den Bann, sondern auf die Seite von Alex gezogen. Das ist besonders im dritten Teil wichtig, wenn wir Alex zum ersten Mal als Opfer sehen sollen. Und schließlich sollen wir das in den USA zunächst nicht gedruckte letzte Kapitel nicht als Moralkitsch – im Sinne des letzten Kapitels von Tolstois Auferstehung -, sondern als Möglichkeit lesen.

Schließlich ist A Clockwork Orange schon vom Titel her eine Parabel, welche die verschiedenen Möglichkeiten des Menschen zwischen Gut und Böse als fiktive Handlung erzählt, die gleichzeitig Satire und Tatsachenbericht zu sein scheint. Alex verliert durch das ultrabrutale Konditionierungsprogramm nicht nur die Lust zur Gewalt, sondern auch die Fähigkeit zum Genuss der Musik. Wenn Burgess selbst zunächst glaubte, das Buch sei zu didaktisch, so denken wir es heute eher als hochaktuelle Parabel mit sehr verschiedenen Deutungsmöglichkeiten und Figuren, die alle widersprüchlich, und das heißt realistisch, angelegt sind. Obwohl der fiktive Ort nicht erkennbar ist, erkennen wir die typischen Hochhaussiedlungen der suburbs und banlieus in Ost und West mit ihren fast identischen Wohnungen (zum Beispiel WBS70), dem Dauerfernsehen, den Arbeitssklaven, den austauschbaren Söhnen und Töchtern und Eltern (M & P). Inzwischen sind wir alle aber nicht nur Orangen in mechanischen Uhrwerken, sondern in elektronischen Zerkleinerungs- und Zermürbungsmaschinen.   


[1] Joachim Wohlgemuth, Egon und das achte Weltwunder, Verlag Neues Leben, Ostberlin 1962

[2] Anthony Burgess, A clockwork orange, London 1962

[3] chorosch‘o

[4] golow‘a

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