NEUE WELT PRENZLAU

Vor fünfhundert Jahren wurden die fünftausend Prenzlauer von über hundert Geistlichen betreut. Das waren natürlich nicht nur liturgische Dienste, sondern auch erzieherische, soziale und seelsorgerische. Prenzlau hatte damals, nach der Stadt Brandenburg, die höchste Anzahl von Kirchen im Land Brandenburg, nämlich sieben. Die Institution Kirche war einst das, was heute der Sozialstaat, das Bildungswesen, Kunst und Kultur sind. Trotzdem und obwohl es keine größere Einwanderung gab, war die Bevölkerung nicht homogen. Seit 1244 gab es in Brandenburg Juden, in Prenzlau seit 1309, die als fremd angesehen wurden, weil sie einen anderen Glauben hatten und eine fremde, wenn auch sehr verwandte Sprache benutzten. Es gab Roma, die ihre fremdländischen Sitten geradezu feierten und in deren Händen der Pferdehandel, die Kesselflickerei und die Unterhaltungsmusik lagen. Es gab die Jenischen und die Sinti, wenn auch mehr im Süden und in der Schweiz. Und es gab Rotwelsche, das waren outlaws, die sich ebenfalls einer Geheimsprache, eben des Rotwelschen bedienten. Sie traten als Landstreicher und in Räuberbanden auf. An die Häuser machten sie geheime Zeichen, die Zinken, die ihren Nachfolgern mitteilten, ob etwas durch Betteln oder Stehlen zu holen sei. Auch die Straßentheaterleute, die Spieler und Gaukler, waren fahrendes Volk. Sie alle wurden als Wohltat und als Bedrohung wahrgenommen. So wie heute auch alle Fremden.   

Die Welt mischt sich immer wieder einmal neu. In Prenzlau befand sich wenige Meter von der Marienkirche entfernt, ungefähr da, wo die immer noch vom letzten Krieg gezeichnete Jakobikirche heute eine Fahrradwerkstatt für Flüchtlinge aus der ganzen Welt unterhält, ein slawisches Heiligtum. Mal nahm man an, dass die Slawen sich dem einwandernden Deutschtum willig assimilierten, weil sie es als technisch überlegen erlebten, dann wieder überwog die Ansicht, dass sich die Slawen erbittert der deutschen Ostexpansion und der damit verbundenen Zwangschristianisierung widersetzen. Kein Mensch kam bisher auf die Idee, dass es weder die Slawen noch die Deutschen gegeben hat. Es gab ganz sicher Slawen, die mit den Deutschen kooperierten, es gab die Anführer des großen Slawenaufstandes von 948 sowie die weinenden Mütter am Straßenrand, und es gab ganz sicher Slawen, denen alles ganz egal war. Es gab Deutsche, die den Osten kolonisieren und christianisieren wollten, was sich nach christlicher Ansicht ausschließt, es gab Deutsche, die einfach vor ihrem gewalttätigen Vater geflohen sind, andere wieder fanden die Mädchen der Slawen attraktiv, es gab Deutsche, die waren gar keine Christen, andere wieder waren gar keine Deutschen. Das war die Lage vor tausend Jahren.

Am Ende des zweiten Weltkriegs brennt die Marienkirche, einer der wuchtigsten und schönsten Kirchenbauten Nordeuropas, nieder, nicht von alliierten Bombern getroffen, sondern sozusagen mit diffuser Täterschaft entzündet. So wie auch viele Dorfkirchen in der Umgebung kann die einheimische Bevölkerung, ähnlich wie die Massenselbstmorde vor allem von Frauen in Demmin, in einer Mischung aus Angst und Selbstbestrafung, die Kirche als mächtigstes Symbol der gesamten Vergangenheit (außer der slawischen) selbst in Brand gesteckt haben. Wahrscheinlicher ist natürlich, dass SS oder HJ oder beide die Kirche als letzte Selbstverteidigung geopfert haben. Das wäre sinnlos gewesen, aber der ganze Krieg war sinnlos. Anklam wurde am selben Tag von der Nazi-Luftwaffe zerstört, weil es sich kampflos ergeben wollte wie die Nachbarstadt Greifswald, warum soll nicht Prenzlau von der SS geopfert oder bestraft worden sein? Jahrzehntelang wurde behauptet, dass die ankommenden Russen die Kirche und die Stadt nicht ertragen konnten und sie deshalb sinnlos (sinnlos?) zerstört haben. In der Zwischenzeit lebten in Prenzlau neben der assimilierten ehemaligen slawischen Bevölkerung natürlich die Deutschen, aber auch zeitweilig fast ein Viertel Juden, dann aber im achtzehnten Jahrhundert auch ein Drittel Franzosen. Immer gab es viele Polen, denn Polen war nicht nur nie verloren, sondern immer auch ganz nah, ob nun mit oder ohne Grenze. 1929 kam eine große Gruppe von wolgadeutschen Mennoniten, die auf dem Roten Platz in Moskau so lange demonstriert hatten, bis sie nach Deutschland ausreisen konnten. Sie kamen ausgehungert und verwahrlost in Prenzlau an und die Überlebenden wanderten weiter nach Paraguay aus. Nach dem letzten Krieg kamen viele Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, zu Fuß auch solche aus der Batschka, der deutschen Insel in Kroatien. Bevorzugt kamen auch Siebenbürger Sachsen und Rumänen nach Prenzlau. In den neunziger Jahren gab es so viele Russlanddeutsche in Prenzlau, dass der Zeitungskiosk im Kaufland zwölf russischsprachige Zeitungen führte. Im Jahr 2015 hat Prenzlau ziemlich geordnet und fast vorbildlich etwa 1000 Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen, untergebracht, in der deutschen Sprache unterrichtet und ihnen den einen oder anderen Sinn für ihre Freizeit und Freiheit gegeben.

Wer definiert jetzt bitte, wer oder was ein Prenzlauer oder ein Deutscher ist? Jedes Land ist ein ständiges Auf und Ab, ein Kommen und Gehen, so wie es in einer Familie auch ist. Ernest Renan, ein eher rechter Autor, nannte die Nation ein fortwährendes Plebiszit.

Viel merkwürdiger als die verschiedenen Gruppen der Alt- und Neubürger – inzwischen sind die Stettiner und Batschkadeutschen Altbürger und Salinger, eine Familie auf dem vorbildlichen jüdischen Friedhof im Süßen Grund, das klingt gut, ist aber zwischen der Bahnlinie und der Bundeswehrkaserne, die – ich finde es falsch, das so zu nennen – laut Uckermarkkurier – eine transsexuelle Kommandeurin hat, Salinger ist ein weltberühmter, toter, äußerst skurriler Dichter in den USA, viel merkwürdiger sind die neuen Nationalisten, die ständig auf ihr Land kotzen möchten. Es ist zu vermuten, dass sie sich auf das berühmte Zitat eines berühmten Berliner Juden beziehen, der, als die Nazis die Macht übernahmen, gesagt hat, dass er nicht so viel essen könne, wie er kotzen möchte. Er hat es wohl eher als Berliner gesagt, aber vielleicht als Jude gedacht. Es ist schwer zu glauben, dass er ein jüdischer Maler war, denn er hat keine jüdischen Sujets gemalt. Die Bundeswehrkommandeurin ist auch nicht in Prenzlau, um sexuelle Abenteuer zu erleben – das dürfte auch sehr schwer werden -, sondern um die NATO-Dienststellen in Stettin mit Nachrichtentechnik zu versorgen. Es werden neuerdings Attribute verteilt, die nicht mitteilungsrelevant sind.

Die neuen Nationalisten, die ihr Land nicht lieben, sondern die Vergangenheit, haben genau die tausend Jahre als Richtschnur gewählt, die auch Hitler und Himmler vorschwebten. Wie wir alle wissen, haben sie dieses Ziel verfehlt. Der Krieg ging verloren, wir sagen zum Glück, aber selbst wer es als Unglück empfindet, muss es eingestehen. Demzufolge muss man doch fragen dürfen, welche Vergangenheit sich die Nationalisten, die ihr Land nicht lieben, zurückwünschen. Im Kaiserreich gab es bittere Not, Hunger und Kinderreichtum, von dem die neuen Nationalisten annehmen, dass er ein Geschäftsmodell der Flüchtlinge sei. Die Neudeutschen haben nicht nur keine Kinder mehr, einige von ihnen halten Kinder auch nicht für etwas beglückend Schönes, einen Lebenssinn vor allen anderen, sondern für ein Geschäftsmodell. Gleichzeitig schimpfen sie auf den Kapitalismus. Sie halten uns – als Deutsche – für dumm, obwohl unsere Volkswirtschaft die viertstärkste der Welt ist. Ständig preisen sie Polizeistaaten mit ihren Unrechtssystemen und fordern strenge Bestrafungen nach dem Vorbild Saudi Arabiens, Irans und Chinas, obwohl sie und wir alle in einem der sichersten Länder der Welt mit sinkender Kriminalität leben. Die Kriminalität sank auch 2015 und vor allem 2016 weiter, obwohl angeblich so viele potenziell kriminelle Neubürger hinzukamen.

Nach der neuerlichen Aufzählung der Menschen, die in einer relativ kleinen Stadt wie Prenzlau in den letzten tausend Jahren hinzukamen und wegwanderten – ich erinnere an New Prenzlau in Queensland und die superreiche Familie Salinger -, kommt man eher zu dem Schluss, dass die ständige neue Mischung von Menschen normal und wünschenswert ist, jedesmal aber mit Vehemenz von einer winzigen verbohrten Minderheit vergeblich bekämpft wird. Natürlich kann man Nörgeln nicht verbieten, Polizeistaaten versuchen es immer wieder, aber man kann es als lästig empfinden. Die mutigen Menschen leben in den Flüchtlingsheimen, nicht draußen.

Nach acht Jahren sind alle Voraussagen eingetroffen: die weltweite Migration hält an, und ein sehr kleiner Teil davon betrifft auch die Festung Europa, die sich ungerne aufstören lässt in ihrem Reichtum, in ihrer Bequemlichkeit, die schnell zur Behäbigkeit wird. Die ultralinken Kapitalismuskritiker, also die Kinder der behäbigen Europäer, schreiben gerne mal an die Bahnhofswände: your comfort zone will kill you. Nun wird bei uns in Deutschland wieder der Platz knapp, in Berlin werden abermals Turnhallen geopfert. In der kleinen Stadt Prenzlau steht ein Bürogebäude fast leer. Es mag nicht besonders gut geeignet sein als Erstaufnahmeeinrichtung. Aber die Gelegenheit, das neben dem Asylbewerberheim gelegene Kasernengebäude am Südend, damals vor mehr als zwanzig Jahren gleich mit zu erwerben und langsam zu sanieren, dann stünde es jetzt zur Verfügung, diese Gelegenheit ist verpasst worden. Gern warten die Staatsbürokraten auf die Spekulanten, um sich von ihnen dann vorführen zu lassen. Was nun vorgebracht wird, sind keine wirklichen Argumente, sondern die seit dem Mittelalter virulenten Ängste und Vorurteile. Zum Beispiel soll es in der Grabowschule, die es sicher schwer hat, Klassen mit einem Ausländeranteil von 70% geben. Das ist für die Lehrer herausfordernd. In solchen Klassen müssten mindestens zwei Lehrer oder die Klassen müssten geteilt sein. Aber komischerweise kommt niemand von den Obernationalisten auf die Idee, dass es bei 30% Schülern die Klasse und wahrscheinlich die ganze Schule gar nicht mehr geben würde. Ein paar Dörfer weiter gibt es einen sehr schönen Spielplatz. An seiner Stelle stand da einst eine Plattenbauschule. Und die Dorfbewohner entblöden sich nicht zu jammern, dass man ihnen die Schule genommen hätte, obwohl man von diesem Spielplatz den Schulbus kommen sehen kann. Ihm entsteigen vier Kinder, im nächsten Bus vielleicht noch einmal vier. Der Zusammenhang wird – nicht böswillig, sondern leichtfertig und absolut gedankenlos – geleugnet. Der Merksatz dafür scheint zu lauten: Damals war alles richtig. Heute ist alles falsch. Und die Partei, die genau das sagt, wird gewählt. Es ist nicht schwer vorauszusehen, dass die Wagenknechtpartei mit ihrem Programm KONZERNEZERSCHLAGEN&MIGRATIONSTOPPEN ebenfalls Erfolg haben könnte. Allerdings glaube ich, dass Wagenknecht, deren rhetorische Fähigkeiten man früher mit dem Titel Maulheldin qualifizierte, erneut an den organisatorischen Schwierigkeiten scheitern wird. Irgendwann geht das Paar Lafontaine-Wagenknecht ins Guinness-Buch der Rekorde mit den meisten zerschlagenen Parteien pro Kopf ein. Statt in talk shows sind sie dann nur noch in Satiresendungen zu sehen. Auch die AfD hat zehn Jahre und fünf Führer gebraucht, um das heutige Niveau zu erreichen.

Obwohl der größte, widerlichste und verbrecherischste Sozialdarwinist gescheitert und suizidal geendet ist, haben weiterhin alle Autokratien und auch die Parteien, die eine Autokratie anstreben, die Vorstellung von der sozusagen automatischen demografischen Lösung aller Probleme. Obwohl sich immer wieder zeigt, dass die meisten demografischen Herausforderungen Bildungsprobleme sind, obwohl selbst die intendiert gutwilligsten und gleichzeitig praktisch böswilligsten Eingriffe in die Demografie – Indira Gandhis Zwangssterilisationen und Deng Xiaopings Einkindehe – katastrophal gescheitert sind, gibt es weder bei den Autokraten noch bei ihren Nachplapperern ein Einsehen. Fast jeder Mensch ist gut bildbar, man muss ihn nur genügend und effektiv fördern. Ich halte den berühmten Spruch ‚fördern und fordern‘ für zumindest verkürzt, wenn nicht falsch. Immer wieder zeigt sich, dass ein Kind für seine Entwicklung maximale Förderung braucht. In Südkorea, einem äußerst reichen und sehr erfolgreichen Land, zerbricht die relativ größte Anzahl Jugendlicher an vielleicht gutgemeinten, aber weit überzogenen Forderungen. Die beste Förderung von Kindern ist LEGO & LESEN.

Indessen ist Prenzlau nicht der Mittelpunkt der Welt, deren Probleme hier auch nicht gelöst werden können. Der Bundespolitik muss man vorwerfen, dass sie zu wenig unternimmt, um den Kommunen, Landkreisen und Ländern zu helfen. Unter helfen darf man nicht nur Geld, sondern muss man auch Geist verstehen, Argumente, Erklärungen, die Auseinandersetzung mit Gegenargumenten. Dann würde endlich dem Eindruck widersprochen, dass auch die gegenwärtige Bundesregierung den Dingen einfach ihren Lauf lässt, in Analogie zu Kohls und Merkels ‚aussitzen‘. Allerdings darf man die Motivation von Merkels Satz ‚Wir schaffen das‘ nicht unterschätzen, er hat leider auch die Gegenkräfte zum Gegenteil ermuntert. Aber besteht der allgemeinste Irrtum nicht darin, stets das Gegenteil nicht genügend mitzudenken? Die Weltpolitik scheint im Moment nicht zu koordiniertem Verhalten befähigt. Sie ist, wie im Kalten Krieg, nun aber mehrfach gespalten: G7, G20, Brics, EU, AU, NATO. Zwar gibt es viele Überschneidungen, aber auch harte Abgrenzungen. Nur die Schwäche Russlands verhindert höchstwahrscheinlich einen dritten Weltkrieg.

Neuerdings gibt es in Prenzlau auch Ukrainerinnen und Ukrainer, im Gymnasium gibt es sogar eine ukrainische Klasse. Sie werden noch weniger angefeindet als die Flüchtlinge von 2015/2016. Das ist ganz im Sinn der alten Migrationstradition dieser kleinen Stadt, die sich endlich auch aus dem Grauingrau der DDR erhoben hat. Selbst der Dreke-Ring wird bunt. Dagegen wehrt sich die WIRWOLLENNACHGESTERN-Partei. Aber das Rad der Geschichte lässt sich bekanntlich nicht aufhalten. Es dreht sich wie das Mühlrad aus dem Lied: di redern drejen sich, di joren gejen sich…, das vielleicht Nathan Mamlock aus der Steinstraße 15 vor sich hin gesummt hat, als er wieder einmal von seinen Mitbürgern, die gern bei ihm im Hinterstübchen ein Glas zu viel tranken, denunziert worden war.      

Foto: rochusthal

Neue Prenzlauer vor den slawisch-deutsch-christlich-jüdisch-französisch-polnischen-russland- und batschkadeutschen Orten, deren Ururenkel womöglich einst Meier oder Schmidt heißen werden.

Der Text von 2016 wurde überarbeitet, aktualisiert und erweitert.

GETAN IST, WAS DU TUST

Wir Menschen neigen seit jeher dazu, unsere Gemeinschaften mit ideologischen oder sachlichen Schutzschilden zu versehen. Die Fragilität gesellschaftlicher Gruppen und Territorien bestätigt deren Notwendigkeit und die Geschichte bestätigt den Erfolg. Große Schutzglocken sind die sozial orientierten Religionen, von denen allerdings jede einzelne ihre Historizität abstreitet und sich auf eine direkte göttliche Gründung beruft. Das widerlegt die Ringparabel. In der Literatur taucht sie zuerst in Boccaccios Decamerone auf, die berühmteste Version legt Lessing seinem weisen Nathan in den Mund. Er will damit der ewigen Gretchenfrage, in diesem Fall des sogar historisch belegbaren Sultans Saladin ausweichen. Der braucht in Lessings Stück Geld für seinen Religionskrieg gegen die Kreuzfahrer. Der Legende nach, die allerdings nicht von Lessing kolportiert wurde, soll er die Kreuzfahrer statt durch eine Schlacht mit einer Kopfprämie vertrieben haben. Legendär ist jedenfalls seine Herrscherweisheit, die Lessing durch den erfundenen Hausphilosophen bekräftigt. Aber auch der junge Kreuzritter, der aus Versehen ein vermeintlich jüdisches Mädchen aus dem brennenden Haus rettet, erweist sich letztendlich als klug und aufgeklärt.

Einen Hausphilosophen hielt sich auch der sagenhafte König David. Es war der Prophet Nathan, der dann später auch dafür sorgte, dass von den vielen Söhnen Davids der weiseste, der auch der Sohn von jener Bethseba war, um die es in der Nathan-Parabel geht, König und Nachfolger seines Vaters wurde. Er erbaute den Tempel in Yerusalem, der bis heute ein Streitpunkt der Bevölkerungen ist, er ist durch seine richterliche Weisheit sprichwörtlich geworden und er hat in der Bibel drei Bücher hinterlassen, die nicht nur zitierbar sind, sondern auch tatsächlich zitiert werden.

Der Prophet Nathan hat uns die Erkenntnis hinterlassen, dass wir selbst unsere Schuld benennen und die Initiative ergreifen sollten: DU BIST DER MANN ODER DIE FRAU, die gefordert sind. Wir können weiterdenken: UND HEUTE IST DER TAG, an dem wir beginnen sollten. Die Ringparabel dagegen, der fiktive Nathan, fordert uns auf, nicht auf vermeintlichen Wahrheiten und Herkünften zu bestehen, sondern unserer von Vorurteilen freien Liebe, der Kraft des Zauberrings zu folgen.  Das hört sich einfach an, ist aber die schwierigste soziale Frage nach der des Hungers.  

Beide sagen uns: GETAN IST, WAS DU TUST, NICHT, WAS MAN DIR TUT.

DIE NATHAN PARABEL

[2. Samuel 12] [Sure 38, 21-27]

Als David noch ein halbwüchsiger Junge war, besiegte er den Riesen Goliath, den stärksten Mann der Philister, die Israel angegriffen hatten. David schleuderte mit einem Katapult einen Stein und zerschlug das einzige Auge des Riesen. Der König Saul, der ihm seinen Erfolg neidete, gab ihm dennoch seine jüngste Tochter Michal zur Frau. Nach Sauls Tod wurde David ein großmächtiger König, ein bedeutender Feldherr, der aber auch die Psalmen schrieb, auf seiner Kithara spielte und den Frauen zugetan war.

Eines Abends sah er von seinem Palast eine schöne Frau auf dem Dach ihres Hauses nackt baden. Es war Bathseba, die Frau des Generals Uria. Er wollte sie haben und schickte seine Diener, sie zu holen. Da sie noch schöner und begehrenswerter war, als er zunächst gesehen hatte, behielt er sie bei sich und schlief mit ihr. Als sie ihm nach einigen Wochen sagte, dass sie schwanger sei, erkundigte er sich nach ihrem Mann Uria. David befahl, Uria in eine solch aussichtslose Lage bringen zu lassen, dass er im Kampf sterben müsste. So geschah es.

Aber der Prophet Nathan wollte dem König erklären, dass sein Verhalten nicht akzeptabel sei und erzählte folgende Geschichte:

In einer Stadt lebten zwei Männer, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte 99 Schafe, der Arme hatte nur ein einziges Schaf, das er sehr liebte. Es lebte in seinem einzigen Zimmer mit ihm zusammen und er holte täglich frisches Futter für das Schaf.  Eines Tages bekam der Reiche Besuch aus einer anderen Stadt. Um ein Festessen zu bereiten, ließ der reiche Mann aber nicht eines von seinen vielen Schafen schlachten, sondern er holte das einzige Schaf des armen Mannes, schlachtete und bereitete es zum Festessen.

An dieser Stelle unterbrach der König David seinen Propheten Nathan und rief aufgeregt: ‚Dieser reiche Mann, wenn er in meinem Land lebte, wäre des Todes. Er muss verurteilt werden!‘

Da sagte Nathan: ‚DU BIST DER MANN. Du hast deinem General Uria die Frau genommen und ihn töten lassen, obwohl du mehr als genug Frauen hast. Du musst Buße tun. Aber ein Sohn von dir und dieser Frau wird nicht nur der nächste König werden, sondern ein weiser Mann der Weltgeschichte.‘

David weinte über seine Fehler und fastete tausend und einen Tag und enthielt sich aller Frauen und Freuden.

DIE RINGPARABEL

[Boccaccio, Decamerone] [Lessing, Nathan der Weise, III,7]

Nathan war ein alter Kaufmann in Yerusalem. Er wurde der Weise genannt, weil er weder Rache noch Täuschung und Betrug guthieß. Die Kreuzritter hatten ihm seine Frau und seine sieben Söhne erschlagen, aber er hatte ein christliches Baby als Pflegekind aufgenommen. Als diese Tochter groß war, brannte in Nathans Abwesenheit das Haus nieder, und ein gefangener Kreuzritter rettete Recha und verliebte sich in sie. Sultan Saladin, der Herrscher Yerusalems, brauchte für seine Kriege Geld, wollte aber Nathan nicht direkt um einen Kredit bitten. Deshalb riet ihm seine Schwester, eine List anzuwenden, um Nathan in Schwierigkeiten zu bringen. Saladin fragte also Nathan, welche der drei abrahamitischen Religionen – nach Vernunftgründen – die beste sei. Nathan erkannte die Falle und erzählte folgende Geschichte:

Es war einmal ein Mann, der einen Ring mit der Kraft besaß, seinen Besitzer vor Gott und den Menschen beliebt zu machen. Aber als der Mann alt wurde, wusste er nicht, welchem von seinen drei Söhnen er den Ring vererben soll. Denn sie waren ihm alle drei gleich lieb und er versprach in seinen letzten Tagen jedem der drei Söhne den Ring. Insgeheim ließ er von einem Goldschmied zwei täuschend echte Kopien anfertigen, so dass bei seinem Tod jeder der drei Söhne einen Ring und den Segen erhielt. Die Söhne bemerkten das nach einiger Zeit und gerieten in einen heftigen Streit, bis einer der drei vorschlug, sich gegenseitig zu verklagen und einem Richter die Entscheidung zu überlassen.

An dieser Stelle unterbrach Saladin den weisen Nathan und fragte – zu Tränen gerührt – ‚Was lässt du nun den Richter sagen, Nathan, was?‘

Der Richter sprach: Die Kraft des Rings wird selbst entscheiden, wer der richtige ist. Wenn jeder von euch, sich selbst aber nur am meisten liebt, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger und alle drei Ringe sind unecht, weil der echte vielleicht verloren ging. Wenn jeder seinen Ring den echten glaubt und seiner von Vorurteilen freien Liebe folgt, so wird in tausend tausend Jahren ein weiserer Mann entscheiden können, was gut und besser und am besten war.

Die Religionen unterscheiden sich in Äußerlichkeiten, nicht aber vonseiten ihrer Gründe, sagte Nathan, niemand kann verlangen, dass du deinen Vätern und Müttern weniger glaubst als ich den meinen. Der Mann, dachte Saladin, hat recht. 

NICHTS IST ZU WENIG

Der obdachlose Bettler trat von hinten an mein Auto, während ich den Einkauf in meinen Kofferraum sortierte. ‚Können Sie mir eins fünfzig geben?‘, fragte er mit leiser Stimme. Ich fragte zurück: ‚Warum gerade eins fünfzig?‘ ‚Ach‘, sagte er, ‚das ist Zufall. Nichts ist zu wenig.‘ Ich musste lachen: das ist der Spruch an meinem Auto. ‚Aber stimmt denn das?‘, fragte er weiter. ‚Ja, natürlich, sonst hätte ich es nicht dran geschrieben.‘ ‚Haben Sie auch einen Schlüssel?‘ Vielleicht stellte er sich vor, dass er bei so viel Glück – ich hatte ihm zwei meiner Einkaufswagen-1-Euro-Stücke gegeben – nun auch noch mein Auto klauen könnte? Aber dann fragte er abschließend, und ich weiß, dass das keine Pointe ist, ob er meinen Einkaufswagen einsortieren könne, denn das tue er hier auf diesem Parkplatz. ‚Ist das in Ordnung?‘

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