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Die Rohstoffe früherer Zeiten waren namen- und sinngebend für ganze Epochen der Menschheit: Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, aber auch das Industriezeitalter mit seiner unseligen Triade Eisen, Kohle, Stahl, denn der Eiffelturm und das Kreuzbergdenkmal mögen uns rührend und anmutig vorkommen, sie sind aber auch harte Kennzeichen der gnadenlosen Ausbeutung der Natur, die wir jetzt distanziert Umwelt nennen. In diesem Industriezeitalter sind die großen Städte entstanden. Die größten Städte sind aber entstanden, als die Verteilung der Industrieproduktion schon längst abgeschlossen war und die Menschen in den weniger entwickelten Ländern trotzdem in die Städte drängten, weil sie dort auf das gleiche bessere Leben hofften wie die Menschen, die um 1800 nach Liverpool oder Wuppertal gingen. Statt des besseren Lebens ist ein Kult um den Müll entstanden. Der Wohlstand ruft, aber die Abfälle antworten. Kinder, jene reinen Wesen der Hoffnung und der Neugier, müssen gerade da zuhauf vegetieren, wo die Hoffnungslosigkeit herrscht. Zwar hungern jetzt weit weniger Menschen als 1950 oder 1900, aber je mehr wir von der Welt wissen, desto mehr erschreckt uns die althergebrachte Ungerechtigkeit. Unser Focus ist auf das Leid gerichtet. Das ist auf der einen Seite natürlich gut und stärkt unsere Empathie und zum Beispiel auch Spendenbereitschaft, auf der anderen Seite erhöht es aber auch den Abschottungsreflex, der aus der Angst entspringt, morgen wieder mit bloßen Händen dazustehen. Dabei sollten uns die Ruinen des Römischen Reiches daran erinnern, wie lange Reichtum vorhält, weit über den Untergang hinaus. Wer bereit ist, auch das immaterielle Erbe mitzuzählen, der wird im lateinischen Alphabet und in der lateinischen Sprache den Reichtum des Römischen Reiches sogar fortleben sehen. Wir müssen uns also keine Sorgen um uns machen. Wir werden schon nicht verschwinden.
Da in der Stadt Politik und Kunst gemacht werden, aber auch fast alle Gegenstände, erscheint es dem Städter so, als ob die Stadt mit sich selbst leben könnte. Kein Städter glaubt, dass außerhalb der Stadtmauern etwas Wichtiges passiert. Er kennt die Natur vom Spaziergang und vom Urlaub, aber er hält sie nicht für notwendig. Die wichtigen Events finden in der Stadt statt. Unter einem Event versteht der Städter aber nicht, wenn in seiner Nachbarschaft ein Blogger ein neues Wort gefunden hat und in die Welt hinaus sendet, oder ein Physikprofessor einen neuen Botenstoff für das Smartphone entdeckt zu haben glaubt. Der Physikprofessor ist für den Städter vielmehr jener Veganer, der in einen Gummimantel gehüllt auf einem zehntausend Euro teuren Fahrrad fährt und als einziger in der Straße eine durch drei Etagen gehende Maisonette-Achtraumwohnung hat, in der zwei Steinway Flügel stehen. Unter einem Event versteht der Städter vielmehr ein Vergnügen, das er sich selbst bereitet, indem er in große Stadien zu Ballspielen und Konzerten geht, indem er stundenlang nach Karten ansteht, um in Riesendiskotheken und Clubs die Nähe zu suchen, die ihm zuhause fehlt. Selbst Fernsehsendungen hält er für tatsächliche Ereignisse. Wir leben, es ist fast trivial zu sagen, zu mehr als der Hälfte in Filmen statt in der Realität. Zählt man zu den Filmen noch die Videosequenzen, so ist ihre fast totale Wirkung besonders auf die natives – die mit ihnen aufgewachsenen – nicht zu überschätzen. Die Stadt befasst sich also fast nur noch mit sich selbst. Sie ist ein tautologischer Ort, aber kein unbekannter. Ihre Entdeckung folgt den filmischen Spuren, die vorher schon gelegt waren. Schon vor Jahrzehnten gab es in abgelegenen afrikanischen Dörfern Fernseher, die mit Notstromaggregaten, wie wir sagen würden, betrieben wurden. Den Menschen damals in Afrika kam es aber so vor, als ob man elektrischen Strom nur dafür brauchen würde, alte amerikanische und europäische Serienfilme zu sehen. Bis heute gibt es keine nennenswerte, also identitätsstiftende Filmproduktion. Millionen afrikanischer Jungs wollen Fußballer werden, wofür sie auch oft ungeheuer begabt sind. Nur muss man befürchten, dass sich der Bedarf in engen Grenzen hält. Wenn wir also nicht gewollt hätten, dass sich das, was und wie wir tun, nicht verbreitet, hätten wir weder das Fernsehen noch das Smartphone erfinden und verkaufen dürfen. Ihre Relativierung, die bei uns – wenn auch mit mäßigem Erfolg – gelingt, setzt eine Bildung außerhalb tautologischer Kreise voraus. Die mediale Parallelwelt ist einerseits Finsternis gegenüber der wirklichen Welt, andererseits aber die Verwirklichung der romantischen Idee von der Poetisierung, der Durchdringung des ganzen Lebens durch Geschichten. Wir haben dabei einen Halbanalphabetismus hingenommen, indem wir die großen Geschichten lieber nachspielen statt zu lesen. Was dabei an Einbildungskraft verloren geht, wird durch die pure Masse vielleicht ersetzt. Noch deutlicher ist es in der Kunst, die noch elementarer wirkt als die großen und kleinen Narrative, die Musik. Man könnte unser Zeitalter mit Fug und Recht das musikalische nennen. Noch nie vorher ist Musik so alltäglich und allgegenwärtig gewesen, wie gerade jetzt. Fast könnte man sagen, dass die Musik in einem quasiosmotischen Prozess von der medialen Welt in die autochthone Welt überwechselt, ohne dass sie mechanischer Instrumente bedarf. Gleichzeitig gibt es aber eine erfreuliche Renaissance gerade dieser mechanischen Instrumente und die Allgegenwart der Musik besteht keineswegs nur aus Pop und Fahrstuhlmusik, sondern auch aus Bach und Beethoven und dem Silentnighttyp.
Die Menschen in den Millionenstädten nehmen also ihre Herkunft aus der Erde nicht mehr ernst. Sie halten sich für schaumgeboren. Da sie sich nur mit sich selbst beschäftigen, glauben sie, dass es auch nur sie selbst gibt. Um sie herum herrscht Menschenleere. Der Massencharakter ihrer Behausungen ist ihnen zwar klar, aber in der Menschenleere können sie nicht den Sinn des Ursprungs entdecken. Menschenleere ist ihnen Sinnleere. Kein Paradox ist ihnen nah. Zu dieser Entfremdung, schon aus Verehrung für die Familie Feuerbach verwenden wir gerne dieses Wort, hat sicher die Industrialisierung mitsamt der Entpersönlichung der Landwirtschaft beigetragen. Zudem ist die Erde, früher als Mutter bezeichnet, mit Chemie vollgepumpt worden, was ihre Fruchtbarkeit dankenswerterweise so erhöhte, dass der Hunger besiegt werden konnte. Gleichzeitig ging aber ihr unverwechselbar erscheinender Charakter als Mutter, als Ernährerin, als Allgebärerin verloren. Zudem sind die Rohstoffe, die unser Zeitalter bestimmen, unsichtbar. Während die Kohle in einem fast pathetisch zu nennenden Vorgang zutage gefördert wurde und sogar die Sprache bis heute beeinflusst, weiß niemand, woher die Seltenen Erden in seinem Telefon oder woraus die Plastikteile unserer Legowelt stammen. Statt nach der reinen Milch der Vernunft sehnen wir uns nach der kommentierten und tausendfach reproduzierten Nachricht über das, was wir schon wissen.
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Auf dem Land beginnen hinter der Haustür die Ferien, wo der Städter Agenturen und Fluglinien zwischenschalten muss, mindestens aber eine U-Bahn. Der Städter glaubt sich in einem Versorgungscontainer, der ihn – außer dass er ihn zu versorgen hat – nicht weiter interessiert, aber auch der Landbewohner will auf nichts verzichten und nimmt deshalb Transportwege und Energieverschwendung in Kauf. Allerdings bleibt ihm immer noch mehr Zeit und Geld als dem Städter, da es auf seinen Wegen und in seinen Einkaufszentren keine Unterhaltung oder Ablenkung gibt.
Durch die Minimierung der Landwirtschaft auf der einen und Verlandschaftlichung der Städte auf der anderen Seite kam es zu einer ungeahnten Annäherung. Sie passierte so schnell, dass die Begriffe der Unterschiede, die es nicht mehr gibt, bestehen blieben. Die Urbanisierung hatte zwei große Schübe, und während der erste, der mit der Industrialisierung einherging, die Städte verstädterte, brach der zweite Schub ebendiese Verstädterung wieder auf. Gärten entstanden an den Rändern der Städte, die Gartenstadt wurde zum Ideal. Man wollte sie doppelt verwirklichen: in der Stadt und auf dem Land. Der Versuch, das Land mit einer ähnlichen Struktur wie die Stadt zu überziehen, ist allerdings gescheitert. Man kann in die Stadt zwar einen Garten zwängen, aber man kann den Garten, das Land, nicht auf den U-Bahn-Komfort zwingen. Der Vorteil des Landlebens bleibt ideal.
Stadt und Land haben sich so angenähert wie Mann und Frau (‚Bubikopf‘, ‚Erziehungsjahr‘, ‚Quote‘), Körper und Seele (‚psychosomatisch‘) Himmel und Erde (‚Fliegen‘, ‚Raketen‘), rechts und links (‚Lügenpresse‘). Mit dem Vorrücken der Demokratie verschwinden Hierarchie und Bipolarität. Diese Annäherung, die auch eine Auflösung altbekannter Sicherheiten darstellt, macht einer autoritätsgläubigen Menge von Menschen Angst und ermutigt eine liberale Elite. Immer wieder beschwören fundamentale Konservative die vermeintliche Ewigkeit von Fakt, Begriff, Ordnung, Sprache, Definition und Identität. Aber die Welt zieht einfach weiter, und die Felsen beben. Der Tsunami von Lissabon am 1. November 1755 musste, bevor er die Aufklärung brachte, erst die Gewissheit von katholischer Staatskirche hinwegfegen. Freiheit beruht auf Bewegung, die oft einem Tsunami gleicht.
Selbst Jugendliche, wenn sie autochthone Landbewohner sind, betonen die Ruhe, die man auf dem Land hat. Sie ahmen mit dieser Argumentation die Erwachsenen und die Zugezogenen nach. Jugendliche suchen nicht Ruhe, sondern Aufregendes. Aber sie wissen, dass sie ohnehin bald verschwunden sein werden. Unter dem Alibi der Ausbildung finden sie ein aufregenderes Leben als in der so genannten Heimat. Im Internet sieht man sie beruhigt ihre Sehnsucht feiern. Wenn sie das Haus ihrer Großeltern erben, lassen sie es verfallen, bevor sie es verkaufen. Nichts bringt sie in die Ruhe zurück, nie mehr wollen sie zwanzig Kilometer fahren, weil sie vergessen haben, Zigaretten zu kaufen.
Das Land ist, außer für die ein bis zwei Bauern pro Dorf und diejenigen traditionellen Bewohner, die zu alt sind, etwas Neues anzufangen, nur für ehemalige Stadtmenschen interessant. Sie verdienten oder verdienen genügend Geld, um die vorhin schon erwähnten höheren Transport- und Energiekosten aufzubringen. Sie versprechen sich ein selbstbestimmteres Leben, als es in der Stadt möglich ist. Sie träumen von der Reinheit der Natur, obwohl sie von einer Landwirtschaft umgeben sind, die immer mehr zur Monokultur strebt und ihre Bodenprobleme mit Überdüngung löst. Es gibt zu viele Füchse. Aber weil es auch zu viele Rehe gibt, gibt es zu viele Jäger. Falls sie die zu vielen Ferienwohnungen mieten, gleicht sich ihre Anwesenheit durch die Zahlungen wieder aus. Sie stören die Landschaft beinahe mehr als die Windräder. Die Windräder sind allerdings der Preis oder besser der Tribut, den die menschenleeren Gegenden für ihr Privileg der Einsamkeit bringen müssen. Fährt man durch den äußersten Westen Westdeutschlands, so sieht man, dass der Preis, den diese Landschaften zahlen mussten, weitaus höher ist. Hier im Osten sind es eigentlich nur der Verfall und die Windräder, die den Menschen als Strafe auferlegt sind. Die Kreise werden immer größer und leerer. Lange war die Uckermark der größte Landkreis, ebenso groß wie das Saarland. Jetzt ist es der Kreis Mecklenburgische Seenplatte, er ist doppelt so groß wie das Saarland, das aber fast fünfmal so viele Einwohner hat.
Der Landbewohner bildet sich seine Selbstständigkeit weitgehend ein. Er geht in den gleichen Supermärkten einkaufen wie sein Gegenüber in der Großstadt. Der Vorteil des Landlebens bleibt Idealismus.
Der Städter kritisiert den Landbewohner wegen dessen Mangel an Struktur und vor allem Kultur. Der Landbewohner kritisiert den Städter wegen dessen Anonymität und Einsamkeit. Im Winter sieht der Landbewohner seine Nachbarn manchmal tagelang nicht, das ist die Finnlandisierung Europas. Der Stadtbewohner allerdings kennt angeblich seine Nachbarn namentlich nicht. Trotzdem kommt der namentlich nicht bekannte Nachbar sofort mit Enteisungsspray angerannt, wenn der Städter im Winter morgens die Frontscheibe seines Autos nicht vom Eis befreien kann.
Trotz der Kritik an den Städten bleiben sie bevorzugte Wohnorte. Trotz der Kritik an der Kulturlosigkeit des Landes bleibt auch das Land von bestimmten Menschen bevorzugt. Seit wir also genügend Geld haben, können wir wählen. Die Menschen in den ärmeren Ländern müssen dableiben, wo sie sind, und das bleiben, was sie sind. Es ist zwar eine Frage des Geldes, aber auch ein Problem des Inhalts. Ganz ähnlich wie die Medien kann die Stadt dem Menschen zwar Angebote machen, aber wenn er nicht genügend Bildung oder Offenheit hat, dann kann er sie nicht annehmen und er ist dazu verurteilt, lebenslänglich fernzusehen. Auf dem Land ist es umgekehrt notwendig, dass man über genügend Bildung und Offenheit verfügt, um den Dörfern und Landschaften Angebote zu machen, damit sie nicht nur attraktiv, sondern bewohnbar bleiben.
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Um Lebensqualität geht es auch in dem immer wieder auflebenden Streit um Ost und West, um Makel oder Bonus der Herkunft, das deutsch-deutsche Festival des Tribalismus, der ewigen teutonischen Unzufriedenheit.
1989 und 1990 handelten ganz gewöhnliche Subjekte ein und derselben Spezies, nur brach auf der einen Seite ein taumelndes System zusammen und auf der anderen Seite fing ein stabiles System die Trümmer auf. Und dann zeigte sich, dass ‚der Westen‘ eine ostdeutsche Erfindung war und ‚der Osten‘ eine westdeutsche, denn auf jeder Seite gab es Entdecker und Ignoranten, Innovateure und Obskuranten. Erzählt werden seitdem die Geschichten der Aneignung und Schmähung. Es ist, auch ganz unabhängig von Deutschland und den Deutschen, Mode geworden, sich als Opfer zu sehen und zu präsentieren. Nicht erzählt wird die Geschichte der vielleicht einen Million Frauen, die nach 1990 still und leise in den Westen gingen, arbeiteten und heirateten und sich keinesfalls als Opfer sehen. Nicht erzählt werden die Biografien der beiden Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin aus dem Osten. Noch nicht einmal erwähnt werden die vier (von fünf) bedeutendsten deutschen Maler: Baselitz aus Baselitz bei Kamenz, Richter aus Dresden, dessen Gemälde schon einmal je 100 Millionen Euro auf die Geschichtswaage bringen, weswegen er zu den 500 reichsten Deutschen zählt, Neo Rauch und Jens Bisky, beide aus Leipzig.
Außerdem kann man die kleine DDR nicht mit der alten großen Bundesrepublik, sondern allenfalls mit dem etwa gleichgroßen Bundesland Nordrhein-Westfalen vergleichen. Aber bis heute klafft da eine große Leistungslücke, denn der Osten Deutschlands, früher Mitteldeutschland genannt, weil es einen noch ärmeren Osten gab, war nur ausnahmsweise und inselhaft industriell, etwa in Chemnitz oder Bitterfeld. Regionale Unterschiede gibt es in vielen Ländern, in den USA, sprichwörtlich in Italien, und sogar umgekehrt in Belgien, wo die Wallonie der einst reiche, nun aber ärmere Teil ist, und die einst verhöhnten Flamen heute den Wohlstand produzieren und hüten.
Wenn man die Frage interessant findet, warum so viele Ostbürger den Mauerbau und die betonierte Teilung hingenommen haben, muss man gleichzeitig auch die Gegenfrage zulassen, warum so viel mehr Westbürger ebenfalls nichts gegen Mauer, Stacheldraht und Entwürdigung an der Grenze taten, von Kennedy bis Adenauer und von Meyer aus der Wollankstraße bis Schulz aus Bochum. Martin Luther King, der im September 1964 darauf bestand, auch in Ostberlin zu predigen (und die Ostberliner bestanden darauf, dass er das in zwei Kirchen tat), fand einen schönen Vergleich: während er und die Seinen versuchten zwischen Afro- und Euroamerikanern zu versöhnen, tun es hier die Menschen eben zwischen den beiden Ideologien Christentum und Kommunismus. Das will heute niemand mehr hören.
Die meisten handelnden Subjekte der Wiedervereinigungsjahre waren überrascht und überfordert von der Fülle der Ereignisse, Meinungen und Fehlentscheidungen. Ein großer Teil der Volksmassen zog sich hinter dem Wort ‚Wahnsinn‘ zurück. Viele glaubten aber auch, dass hinter den sich überschlagenden Tatsachen ein Plan aufscheinen könnte. Honecker glaubte, dass Gorbatschow ihn verraten hätte, ein kleiner sowjetischer KGB-Offizier namens Putin nahm an, dass er die aufsässigen Dresdner mit seiner Pistole zur Ordnung rufen könnte. Später stritt er das ab. Im Herzen der CDU war man sicher, dass sich die Präambel des Grundgesetzes von selbst verwirklicht hatte, während die Bürgerrechtler in der Gethsemanekirche in Ostberlin annahmen, dass ihr Gebet erhört worden war. Die SPD zögerte wie seit hundert Jahren, nur die kleine stellvertretende Pressesprecherin der letzten Regierung wusste, dass sie es noch bis ganz oben auf das Treppchen schaffen würde.
Wenn auf jeder Ebene an jedem Tag tausend Entscheidungen getroffen werden müssen, müssen mindestens 800 Fehlentscheidungen darunter sein. Niemand kann alles richtig machen. Im Westen änderte sich fast nichts, im Osten änderte sich alles. Die staatlichen Betriebe wurden von der Treuhand privatisiert, immerhin wurde der erste Treuhandchef erschossen und es fand sich sogar ein zweiter. Man hätte auch das ganze Staatsvermögen an sieben Oligarchen übergeben können. Das wäre einfacher gewesen, aber natürlich nicht auf Dauer. Schließlich, nach dreißig Jahren sehen wir: solche grundstürzenden Veränderungen brauchen Zeit. Andererseits ist Deutschland nach wie vor die viertstärkste Wirtschaftsmacht der Welt. Vielleicht liegt der Erfolg unseres schönen Landes gerade darin, dass wir, seine Einwohner, immer unzufrieden sind. Und vielleicht liegt der tiefe Sinn der Migration nicht nur in der Verbesserung des Lebens der Migranten, sondern auch in der Erfrischung und Erbauung der Zielländer, und das würde für uns viel Gutes bedeuten, die Chance, die so schwer zu erkennen ist.
Vielleicht ist der Streit zwischen Ost und West müßig und überflüssig wie der Kampf zwischen Stadt und Land und Mann und Frau. Wie das Leben selbst verlaufen diese Auseinandersetzungen als Berg-und-Tal-Bahn, als ewige Sinuskurve, als kleistsche Asymptote. So wie der nicht so traurige und gar nicht verzwergte DDR-Bürger sich die DDR akkommodierte, auch mithilfe von Milkaschokolade und Jakobskaffee aus den Westpaketen, so tobt der Streit ohne Tsunami fort und fort.