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Viele Menschen haben Sprüche darüber, wie es kommt, immer anders als man denkt oder wie es kommen muss oder wie es eben kommt. Aber hinter leicht dahingesagten und oft wiederholten Sprüchen verbergen sich Welt- und Lebensanschauungen.
Schon als Kinder sagten wir empört: das ist doch ungerecht! Und noch als Alte glauben wir an eine, wenn nicht überbordende, so doch übersinnliche Gerechtigkeit. Alle linken Bewegungen und der Sozialstaat versprechen sie bedenkenlos, alle rechten Bewegungen wollen sie dadurch erreichen, dass sie einen Teil der Menschheit von vornherein ausschließen. Der Staat, diese Megamaschine aus Klammeraffen, Aktenordnern und Ausführungs-bestimmungen, der sich am liebsten mit sich selbst und der Versorgung seiner Beschäftigten beschäftigt, hat sich immer mehr an die Stelle der alten Institutionen Religion, Zünfte oder Allmende gedrängt. Und wir glauben ihm gerne. Aber: man kann den Staat nur aushalten, wenn man an die Freiheit glaubt und weiß, dass es Gerechtigkeit nicht geben kann.
Von Kindesbeinen an sind wir mit der Konstruktion von Artefakten beschäftigt. Der Konstruktion geht eine Destruktionsphase voraus, in der wir sozusagen Strukturen, Naturgesetze und Adhäsionen studieren. Aber indem wir jetzt das Bild des Kindes reproduzieren, das mit großer Geduld immer wieder aufgehäufte Bausteintürme kippt, wird uns klar, wie sehr wir dieses Spiel und diese Phase perfektioniert haben. Fröbel war noch stolz auf seine geometrischen Holzklötzchen, dann kamen hundert Jahre Anker- und Stabilbaukästen und schließlich konnte LEGO sein perfektionistisches Weltbild verbreiten. Wir dürfen nicht übersehen, dass während dieser letzten zweihundert Jahre immer wieder versucht wurde, die Mädchen auf das Spiel mit Puppen, Puppenwagen und Puppenstuben zu reduzieren. Aber das ist gründlich misslungen. Was heute so vehement gefordert wie bekämpft wird, ist damals schon immer sichtbar gewesen: Konstruktions- und Pflegespiele sind nicht an Geschlecht, Hautfarbe oder sozialen Status gebunden.
Auch die in der Schule gelehrten Kulturtechniken sind nicht nur analytisch, sondern immer auch konstruktiv, wenn nicht holistisch. Wenn auch bedauert werden kann, dass viel zu wenig kreativ geschrieben wird, so wird doch geschrieben. Schreibend setzen wir uns immer eine kleine, neue Welt zusammen. Wenn wir auf einem Dachboden eines alten Hauses ein Schulheft, einen Kalender, eine Briefsammlung oder gar ein Tagebuch finden, so finden wir auch immer eine Welt von gestern. Immer erkennen wir in den Dingen und Ereignissen einen konstruktiven Sinn, weil wir uns vorstellen, wir hätten die Dinge und Ereignisse gemacht. Hegel geht in seinem berühmten, aber leider auch sehr unsinnigen Satz[1], dass der Unwissende die Welt ablehnt, weil er sie nicht gemacht hat, sogar so weit, einen Teil der Menschheit von vornherein auszuschließen. Und auch da gehen heute noch genauso viele Menschen mit wie bei seinem Fortschrittsgedanken[2]. Der Satz ist trotz seiner rhetorischen Stärke und seiner bewundernswerten Konstruktion deswegen unsinnig, weil wir in seinem Sinne alle unwissend sind und die Welt, auch die kleine uns unmittelbar umgebende, nicht gemacht haben. Wer ein Haus gebaut hat, weiß, wie viel vom Grund abhängt, vom Material, vom Entwurf, vom Wetter, vom Geld von der Tagesform und von tausend Zufällen. Da aber das Haus heute noch steht, glauben wir an uns und unsere konstruktive Stärke und überschätzen unseren Anteil an Struktur und Wissen der Welt.
Durch die Konstruktion von Artefakten kommt also unser Glaube an die universelle Machbarkeit. Die Welt, meinen wir zu wissen, ist genauso gemacht worden wie die Legowelt im Kinderzimmer, wie das Kinderzimmer und auch wie die Kinder selbst.
Die andere Seite ist die Ablehnung des Zufalls. Da wir in allem Sinn suchen und vermuten, müssen wir das sinnlose Walten der Natur hinterfragen. Letztlich lehnen wir es ab. Wir glauben nicht daran, dass es zwar Zusammenhänge, aber keine Kausalzusammenhänge geben soll, dass es zwar Kausalzusammenhänge geben soll, die aber nicht mit uns zusammenhängen. Fast jeder Mensch ist zum Beispiel davon überzeugt, dass er sich den Partner oder die Partnerin bewusst, sehenden Auges, vielleicht sogar ästhetisch oder utilitaristisch ausgesucht hat. Viele erinnern sich an den ersten Schritt aufeinander zu und halten die Verbindung für gewollt und gemacht. Tausend biotische und psychische, soziale und lokale Zusammenhänge werden nicht ignoriert, sondern sind uns unbekannt, weil wir eben auch in unseren persönlichsten Zusammenhängen Unwissende sind.
Neuerdings liest man sehr oft, dass die Freiheit des einen dort ende, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das setzt voraus, dass zwei Nachbarn entgegengesetzte Konstruktionen wären, die auch noch dazu ein entgegengesetztes Freiheitsideal hätten. Tatsächlich stimmen wir aber – glücklicherweise – zu bis zu 99% überein, wenn uns das auch bei einem unbeliebten Nachbarn weit anders erscheint. Es geht sehr oft um das Rechthabenwollen und nicht um das Recht oder um die Gerechtigkeit. Solche dichotomischen Ausschließungen – an meinem Gartenzaun endet dein Recht! – ignorieren die von Euler beschriebenen Schnittmengen zwischen den Dingen, Ereignissen und Menschen. Vieles ist sich ähnlicher, als es denkt. Jeder Wettbewerb beruht mindestens auf dem Konsens der Vergleichbarkeit. Und in jedem Wettbewerb regieren nicht nur das Können, der Verstand oder der Selbstwert, sondern auch immer das Glück und der Zufall. Aber trotz aller Konkurrenz, trotz allen Streits und Wettbewerbs, trotz aller Kämpfe sind wir immer auch eingehüllt und eingelullt vom Grundkonsens der Menschheit, der Großgruppe, der Kleingruppe, des Paars und etwa des Gartens, in denen wir uns befinden und ohne die wir nicht wären.
Es ist doch merkwürdig, dass gerade diejenigen, die die Freiheit einschränken wollen, sich bei der Entfernung vom Grundkonsens der Menschheit auf Freiheit berufen. Niemand aber entfernt sich ungestraft von diesem Grundkonsens. ‚Du sollst nicht töten‘ [Exodus 20,13] etwa ist nicht ein frommer Wunsch, der sich durch widrige Wirklichkeiten zu behaupten hätte, sondern eine conditio sine qua non[3] des Zusammenlebens. Wer sie missachtet, wird missachtet. Die Strafe ist die Entfernung aus dem Grundkonsens. Eine Umkehr ist immer möglich. Nichts muss, alles kann, aber es wird immer kommen, wie es kommt.

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Der Satz von Hegel, dass der Unwissende unfrei sei, weil er die Welt nicht gemacht habe, scheint auch umgekehrt zu gelten: Weil er oder sie an einem Wendepunkt dabei war, glaubt er oder sie, ihn gemacht zu haben und hält sich deshalb – allerdings nur für sich selbst – für wissend. Wer zum Beispiel 1989 gegen die Erstarrung der DDR demonstrierte – was sehr mutig war, weil man nicht wissen konnte, wie die senile und wankende Führung reagieren würde – glaubt, die DDR zu Fall gebracht zu haben. Dasselbe glauben Egon Krenz oder Gregor Gysi von sich, der eine wollte die Macht, der andere das Geld retten, beide nannten das, was sie retten wollten, Partei. Wahrscheinlich wurden am Abend des 9. November 1989 aber zwei Zettel vertauscht und der Überblick endgültig verloren. Ein Schlagbaum öffnete sich, hunderttausend Ostberliner strömten nach Westberlin, Bundeskanzler Kohl kam eilends aus Warschau zurück. Es war etwas passiert, das niemand gewollt hatte, obwohl es sich fast alle wünschten. Ein vereinsamter Stasimann pfiff vielleicht auf der Bornholmer Brücke ‚Geschichte wird gemacht‘, ein Lied aus der FDJ-Singebewegung der sechziger Jahre. Nur selten hört die Geschichte, die Summe unserer Taten, auf die Intentionen von uns Menschen. Vielmehr ist sie von tausenden Faktoren abhängig, die sich weder Zeitzeugen oder Visionäre, Politiker oder Wissenschaftler, Ideologen oder Mafiabosse ausdenken können. Oft erst viel später – in Geschichtsbüchern heißt es oft: nach Öffnung der Archive – kommt Klarheit in das Knäuel von Absichtserklärungen, wahren Absichten und tatsächlichen Geschehnissen. Die Mauer fiel, die DDR brach zusammen, Kohl, der das nicht planen konnte, ergriff die Chance, der Ostblock verschwand wie ein Kartenhaus, die Sowjetunion übrigens zuletzt, erst am 31. Dezember 1991, und niemand wusste, wie es weitergehen sollte, könnte oder würde. Von nun an waren alle Akteure ahnungslos.
Mehr als dreißig Jahre danach, also jetzt, 2023, erscheinen drei Bücher[4], die den Eindruck erwecken, als ob die Wiedervereinigung Deutschlands im Gefolge des Zusammenbruchs der DDR (oder des Ostblocks) ein bewusster Akt der Demütigung des Ostens durch den Westen gewesen wäre. Oschmann, der kein Soziologe oder Historiker ist, versteigt sich zu der These, dass die von 1945-1975 geborenen ostdeutschen Männer die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe sei. Es ist, und das steht nicht in seinem Wut- und Jammerbüchlein, auch die Gruppe, die im Osten Firmen aufgebaut hat, die Schulen und Krankenhäuser am Laufen hielt, die Kommunalpolitik dominierte. Mehrfach wird Habermas zitiert, der dem Osten den Zugang zur Öffentlichkeit absprach. Aber Oschmann müsste wissen, dass es unverhältnismäßig viele Schriftsteller und Maler[5] aus dem Osten in die Öffentlichkeit und in den wohlverdienten Ruhm geschafft haben. Saša Stanišić wird als Beispiel für die Skandalisierung alles dessen, was noch weiter aus dem Osten kam, beschrieben. Dagegen beschreibt Stanišić in seinem Buch HERKUNFT[6], wie sein hochkompetenter und wohlwollender Deutschlehrer im Westen des Westens (Heidelberg) ihm zu seiner literarischen Berufung verhalf. Verschwiegen wird auch, dass eine Million ostdeutscher Frauen nach 1990 in den Westen wechselte.
Der Wissenschaftsbetrieb mag extrem ungerecht und voller eigensüchtiger Netzwerke sein. Wer im Norden des Ostens lebte, keine Ausbildung hatte und zudem immobil war, hatte schlechte Karten und wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit so genannter Wendeverlierer. Aber gab es denn das Versprechen der Egalisierung? Der Westen erschien vielen Wählern im Mai 1990 als omnipotentes Heilsversprechen. Er war eine Erfindung ostdeutscher Träume. Er bestand nicht nur aus Engeln und Heilanden à la Brandt und Kohl, sondern auch aus Glücksrittern, drittklassigen Chefs, Hausierern und Manchesterkapitalisten.
Dem Trend dieser drei Bücher, der beiden Parteien, die das Ostklischee bedienen und einem aus all dem folgenden Diskurs sollen ich vier Thesen entgegengestellt werden:
- Jammern ist eine äußerst retrospektive Tätigkeit. Sie mag Trost geben, aber sie schadet letztlich dem Jammerer mehr als dem Adressaten. All das, was im Osten Deutschlands zurecht oder zu unrecht beklagt wird, verstärkt sich durch das fortwährende Jammern darüber. Wir haben im Osten etwas verloren, sicher, aber wir haben doch viel mehr gewonnen. Das Scheitern der Linkspartei ist der lebendige Beweis, dass jammern und die Verstärkung des Jammerns nichts als den eigenen Untergang bewirkt. Jammern beachtet zudem nicht, dass jedes Ticket einen Preis hat.
2. Warum sich Jammern nicht lohnt, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass es keine Gerechtigkeit gibt und geben kann. Gerechtigkeit ist (wie Freiheit oder Liebe) ein Ideal und keine Beschreibung. Wenn Armut der Normalzustand ist[7], dann ist jede Bereicherung beglückend. Leider können wir Glück nur im Vergleich erleben, und so gesehen sind wir in einer Art Parallelverschiebung an den von uns Westen genannten Süden Deutschlands gefesselt. Denn wenn wir erkennen könnten, dass der Süden das Zentrum des Reichtums ist, würden wir Retardierung als jahrhundertealte Schwäche begreifen, die auch einen langen Zeitraum ihrer Überwindung benötigt. Nicht alles, was wir überwinden wollen, ist überwindbar. In Mannheim wurden der musikalische und literarische Sturm und Drang erfunden, das Fahrrad, das Automobil, der Traktor, nimmt man die jenseits des Rheins im Nachbarbundesland gelegene Stadt Ludwigshafen mit dem Sitz der BASF[8] hinzu, so ergibt sich ein Gigant, ein Goliath der Innovation und Technik. Vergleicht man es mit dem ebenso als barocke Planstadt errichteten Neustrelitz, so zeigt sich dieses nicht etwa als David, sondern als Zwerg, als schöner Schein und etwas besseres Nichts.
3. Auf jede Neuordnung folgt eine Revision. Aber beides, Neuordnung und Revision, sind keine Konsumartikel, auf die Garantie gewährt wird. Wir müssen immer mit den Folgen unseres Tuns leben, in unserer Biografie und in unserer Geografie, in unserer Zeit und in unserem Raum. Dabei spielt der Staat, diese Megamaschine aus Klammeraffen, Aktenordnern und Ausführungsbestimmungen, manchmal eine größere, manchmal eine kleinere Rolle. Die Revision kann ebenso wie die Neuordnung ‚berechtigt‘ sein oder unsinnig, erfolgreich oder scheiternd.
4. Die wichtigste Schlussfolgerung aus dem Jahr 1989 und aus dem Dreikrisenjahr 2022[9] ist jedoch: man sollte jeden Bruch als Aufbruch erkennen und nutzen. Das ist schwer, weil wir an unseren Gewohnheiten kleben wie die Klimaaktivisten am Asphalt. Wir sind nun einmal neophob wie die Ratten, aber wir sollten auch so clever, so sozial und so überlebensstark sein wie sie. Die beiden Geschwindigkeiten der Welt und des Individuums sind nicht synchron. So gesehen laufen wir uns selbst hinterher und ziehen uns wie einst der Baron Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Moor. Zopfabschneiden erscheint deshalb vielen als Selbstmord und war doch im Sturm und Drang die Metapher für den Fortschritt, der immer auch ein Fortschreiten von sich selbst ist. Aber: je reicher wir werden, desto behäbiger sind wir auch. Deshalb appellieren die beiden Ostparteien so oft an die vermeintliche oder wirkliche Armut, reden allzu gern Katastrophen, Bürgerkriege und die Apokalypse herbei. Die Marschmusik der AfD ist der Apokalypso, das anachronistische Lieblingslied der Linken ‚Auf zum letzten Gefecht‘.
Lasst uns den Aufbruch selbst schon als Reichtum erkennen!
[1] „Der Unwissende ist unfrei, denn ihm gegenüber steht eine fremde Welt, ein Drüben und Draußen, von welchem er abhängt, ohne dass er diese fremde Welt für sich selber gemacht hätte und dadurch in ihr als in dem Seinigen bei sich selber wäre.“ HEGEL. Ästhetik, Berlin und Weimar 1984, Band 1, Seite 105
[2] vergleiche: DIE HEGELSCHE TREPPE, Blog Nr. 240
[3] Bedingung, ohne die nichts (ist, geht)
[4] Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung; Steffen Mau, Lütten Klein; Katja Hoyer, Diesseits der Mauer
[5] Gerhard Richter, Neo Rauch, Norbert Bisky, Georg Baselitz; Ingo Schulze, Helga Schubert, Jenny Erpenbeck, Julia Franck, Judith Schalansky, Lutz Seiler
[6] Saša Stanišić, Herkunft, 2019, ab Seite 209
[7] Hanno Sauer, Moral, 2023, S. 216
[8] dabei war die Isolation von Anilin aus Steinkohlenteer 1834 Friedlieb Ferdinand Runge im verwahrlosten Oranienburger Hohenzollernschloss gelungen
[9] Klima, Corona, Ukrainekrieg