HAUSMUSIK

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Ein Paradigmenwechsel ist nur insofern ein Ende, als er auch ein Anfang ist. Alles, was früher galt, gilt auch heute, nur mit einer anderen Wertigkeit, in neuen Zusammenhängen. Man kann mit einem Faustkeil oder mit einem Dreschflegel noch genau das gleiche tun wie früher, nur tut man es jetzt wesentlich seltener. Hegel nannte das Aufgehobensein. Das ist auch eine schöne Erklärung für wahren Konservatismus: die Tradition wahren, das Alte aufheben, ohne das Neue zu verachten. Inzwischen ist aber, da wir erkannt haben, dass jede Innovation auch einen neuen Grad von Zerstörung in die Welt bringt, eine neue Denkgröße hinzugetreten: die Nachhaltigkeit, die relativ neue Vorstellung, dass nicht mehr verbraucht werden kann, als nachwächst oder sich regeneriert. So können wir überlegen, ob der Faustkeil in einer semimobilen Brechanlage funktional gut aufgehoben ist oder ob diese soviel Energie verbraucht, wie durch die neue Straße, die mit den gebrochenen Steinen als Unterbau entsteht, eingespart wird. Dann hätte diese Gleichung eine fette Null als Lösung, das ist der Traum vom Gleichgewicht, aber in Wirklichkeit verbrauchen wir in Deutschland soviel Energie wie ganz Afrika. Das ist ein Verhältnis von achtzig Millionen zu über einer Milliarde Menschen und nicht durch das schlechte Wetter hierzulande hinreichend erklärt. Das ist signifikant nicht nachhaltig, selbst nicht mit Windrädern, denn diese müssen her- und hingestellt und später entsorgt werden, sie beeinträchtigen zudem die Lebensqualität, wenn auch weit weniger als Kohle- oder Kernkraftwerke.

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Der kleine Kalkant

Die Orgel als Sozialidylle

Erst musste er die Glocken läuten, dann wirkte er als Kalkant an der Sonntagsmusik in seinem Heimatdorf mit. Kalkant, das klingt heute eher nach einem Menschen, der etwas kalkuliert, was wir ja alle tun. Das war aber der Bälgetreter, ein Junge, der vor der Konfirmation, die seine Kindheit im Elternhaus beendete, in der Kirche den Schöpfbalg der Orgel bediente, damit der Lehrer, der auch Kantor war, die Gemeinde begleiten konnte. Vielleicht war der Lehrer auch so gut, dass er jeden Sonntag mit einem Stück konzertierte und brillierte. Zwar brillierte der Kalkant nicht, trotzdem war er unentbehrlich und vergaß auch später nicht, was er da, vielleicht ein bis zwei Jahre lang, getan hatte, wie er glaubte, für Gott, aber, wie wir meinen, auch für die Demokratie, die Kunst und für sein eigenes Verständnis.

Was er nämlich, wenn er diese Tätigkeit beendete, verstanden hatte, war nicht die Musik, die für ihn wahrscheinlich unverständlich bleibende Musiksprache Bachs oder Regers, sondern das Komplementäre seines Tuns: wenn er den Balg nicht trat, konnte der Kantor nicht spielen, spielte der Kantor nicht, musste er auch nicht den Schöpfbalg bewegen. Die Orgeln im frühen neunzehnten Jahrhundert waren alle Meisterwerke der Mechanik. Es gibt einerseits den Weg der Luft von überall durch den Balg in die Pfeife, andererseits den Impuls des Gedankens über die Finger, die Tasten, die Abstrakten ebenfalls zur Pfeife. Dort treffen sich Luftstrom und Gedankenstrom und erzeugen im besten Falle Musik. Die Abhängigkeit des Musikers, der sich als Tastenwanderer und Spintisierer sehen mochte, vom kleinen Jungen, der seine frühe Kraft in den Dienst der Allgemeinheit stellte, diese Abhängigkeit in einem kohärenten System war gegenseitig.

Weil es einem hierarchischen Staats- und Erziehungssystem nicht gelungen ist, den Bälgetreter von der Notwendigkeit und der Sprache dieser Musik zu überzeugen, ist die Luftbeschaffung mechanisiert und die Musiksprache für Bälgetreter krass vereinfacht worden. Zwar gab es auch schon vorher neben der erbauenden die rein unterhaltende Musik und Kunst überhaupt, aber eben daneben und eher als Ausnahme. Die Reproduktionsmöglichkeiten der Kunst und der wachsende Wohlstand führten zur massenhaften Ausbreitung rein unterhaltender Musik, deren Herkunft und Abhängigkeit dem Laien verborgen bleibt, dem Musiker aber eine Selbstverständlichkeit ist: man hört im Jazz den Choral und die Polyphonie, man sieht im Instrumentarium die türkische Militärmusik, zum Beispiel die Percussion, man fühlt in der Klangnachahmung des Synthesizers den Leierkasten und die Kinoorgel. Und die hatte der Dorfschullehrer auch schon erfunden, wenn er den Kindern eine Geschichte erzählte und die dazugehörigen Geräusche auf der Orgel produzierte. Der Lehrer selbst war ein Medium und musste zaubern können.

Aber das sich ergänzende Miteinander bestand nicht freiwillig, sondern in einem autoritären Zwangssystem, auch wenn es den Menschen damals als ganz natürlich und wunderbar erschien. Der Kaiser im Märchen fiel gedanklich mit dem Kaiser in Berlin oder Wien oder Moskau oder Istambul zusammen!

Man könnte Technik auch immer als den Versuch deuten, menschliche Abhängigkeiten und Kraftverschwendung durch Apparaturen zu ersetzen. Denn der kleine Kalkant war nicht immer zuverlässig, einmal war er krank, das andere mal hatte er seinen komplementären Termin schlicht vergessen, beim dritten Mal musste er zu einem ersten Date hinterm Hollerbusch eilen.

Die heutigen Windmaschinen erzeugen einen gleichmäßig hohen Winddruck. Spezialisten für alte Musik spielen schon wieder an Orgeln, deren Winddruck von speziell geschulten, natürlich nicht mehr halbwüchsigen Kalkanten hergestellt wird. Die heutigen Windmaschinen erzeugen aber auch oft einen Höllenlärm, der gedämpft werden muss oder störend bleibt. Kurz: ein jeder Vorteil bringt auch neue Nachteile mit sich, ein Lehrsatz, den wir allzugern vergessen. Auch das Fahrrad war einst erfunden worden, um die Abhängigkeit des Menschen vom Pferd zu mildern. In jenem Jahr ohne Sommer, 1816, starben viele Pferde selbst Hungers oder wurden dem Hunger der Menschen geopfert. Während der Freiherr von Drais als Ersatz für das Pferd das Fahrrad ersann, dachte der junge Justus Liebig, später Freiherr von Liebig, schon über organische Chemie und Düngung, zunächst aber über Knallerbsen nach. Ganz sicher arbeitete er auch als kleiner Kalkant.

Was früher als Kraftverschwendung gedeutet wurde, könnte heute in ein Fitnessprogramm einbezogen sein. Man stelle sich diesen Genuss dickleibiger älterer Damen und Herren vor: sie trainieren sich Pfunde ab und wunderbare Musik an, wenn sie als Kalkanten statt als bloße Zuhörer zum Konzert gehen. Danach besteigen sie ein Fahrrad, das nicht durch einen Elektromotor trittverstärkt, sondern durch einen Dynamo ausgenutzt wird. Die so gewonnene Energie wird zuhause ins Mikrokraftwerk eingespeist. Ein Vorgefühl von diesem späteren Glück kann man schon sommers in der Uckermark sehen: so viele Fahrradfahrer eilen zu Orgelkonzerten!

Das gilt alles nur für kleine Dorforgeln und Fahrräder. Die neue Orgel im Dom zu Speyer hat ein offenes 32-Fuß-Register, für das man soviel Wind braucht, dass eine ganze Schulklasse kalkantisch eingesetzt werden müsste. Das Register heißt Contraposaune, sollte aber zu Ehren der Stifter der Orgel, der Fabrikantenfamilie Quandt, in Quandtarde umbenannt werden. Und weil die Familie nicht nur Automobile der Sorte BMW, sondern auch Waffen produzierte und Zwangsarbeiter beschäftigte, regte sich dagegen demokratischer Protest. Alles Gigantomanische ist kontraproduktiv.

Die Dorforgel wäre aber mit ihrem nahen Verwandten, dem Fahrrad, schon von vornherein demokratisch, wenn sie nicht in so undemokratischer Zeit gestanden hätte. Die Renaissance der Dorforgel in Orgelkonzerten und ganzen Konzertsommern ist also nicht nur unserem Dauerwunsch nach Musik geschuldet, sondern auch der Sehnsucht nach einfachen, aber demokratischen Verhältnissen, nach gegenseitigen Abhängigkeiten, die wohltuend solidarisch sind. Viele Menschen glauben sich heute in einer kalten, fremden Welt, weil sie das Solidarsystem genauso wenig wahrnehmen können wie die Winderzeugung beim sommerlichen Orgelkonzert. Eine kleine Orgel ist heute so demokratisch, sozialromantisch, ökologisch und nachhaltig wie ein Fahrrad.

Bleibt nur noch zu hoffen, dass die Glocken von einem einsamen Rentner, der seinen Lebenssinn darin wiederfindet, oder willigen Hartzvieristen, der einen kleinen Teil dessen, was er der Gesellschaft schuldet, zurückzugeben hofft, geläutet werden, und nicht von einer gott- und seelenlosen energieverbrauchenden Maschine.

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In einem winzigen Dorf in der menschenleeren Uckermark wird am Reformationstag 2014 eine neue alte Orgel eingeweiht. Früher, im neunzehnten Jahrhundert, war die Orgel eine Schnittstelle zwischen elitärer Kultur und dem so genannten einfachen Volk. Diese Kultur war nicht insofern elitär, als dass sie niemand hätte verstehen können, sondern in dem Sinne, dass sie, mangels Reproduzierbarkeit, selten zu hören und zu sehen war. Wenn sie allerdings stattfand, waren an ihr mehr eingeborene Personen beteiligt als heute. Wir nehmen einmal an, der Dorfschullehrer von Woddow oder Bagemühl hätte sich zum Reformationstag 1814 vorgenommen, einen Bachchoral aufzuführen. Den kräftigsten Schüler hätte er als Kalkanten eingesetzt, die schönsten Stimmen hätten gesungen. Viele hätten mitgemacht. Mädchen denken immer, dass sie gut singen können, Jungen denken meistens, dass sie es nicht können. In einem Bachchoral gibt es keine Hierarchie, alle Stimmen sind gleichverpflichtet, die Orgel muss so laut sein, dass sie jeder hört, aber so leise, dass sie nicht die zarten Stimmen der angeblich groben Dorfkinder übertönt. Wie sollen die Kinder nicht die Schönheit dieses Chorals empfunden haben? Und wie soll das im Gegensatz zur Kirmesmusik gestanden haben, wie man damals Pop nannte? Nur in einer Hierarchie gibt es oben und unten, gut und schlecht. Nach zwei verheerenden Kriegen, die eine Hierarchie der Nationen stützen sollten, brach die internationale Hierarchie zurecht zusammen, aber nicht Freiheit war das Ergebnis, sondern zunächst Chaos. Vandalismus kann nie Freiheit bringen, aber vielleicht doch Befreiung. Gutshäuser wurden angezündet, Kirchen geplündert. Die Gutsherren und die Kirchenfürsten hatten sich zu sehr ins Zerstörungsgeschäft gemischt. Die Pfeifen der Woddower Orgel, wir wissen noch nicht einmal, wer das Werk einst gebaut hatte, wurden, nachdem sie Kindern zum Gespött dienten, als Altmetall verscherbelt und der Rest als Altholz verbrannt. Die Kirche verfiel, ihr Inventar, darunter ein wertvoller mittelalterlicher Altar, wurde ausgelagert. ‚Ach wie flüchtig, ach wie nichtig…‘ ächzten die Fugen des Feldsteinbaus.

Inzwischen war in Berlin durch denselben Krieg zum fünften Mal jene Kirche zerstört worden, die an der ältesten Stelle dieser nicht so sehr alten Stadt gestanden hatte, die Petrikirche. Aber im Gegensatz zu Woddow kam der Krieg nicht als fremdes unverstandenes Schicksal auf Berlin, sondern er war von hier als böses Schicksal für viele Millionen Menschen ausgegangen. Von der ältesten Gemeinde blieb ein Schutthaufen übrig, aber auch Hoffnung in einem Gemeindehaus. Für den weiteren Verfall wird gerne der durch die Diktaturen geförderte Atheismus verantwortlich gemacht, denn das haben wir alle in Hierarchien und Diktaturen gelernt, dass es leichter ist, von äußeren Ursachen auszugehen. In jeder Schuldzuweisung liegt ein falscher Trost. Zum Schluss wurde auch dieses Gemeindehaus verkauft, so dass, nachdem die Petrikirche einst die größte Orgel Berlins besessen hatte (Carl August und Carl Friedrich Buchholz, IV, 60, 1860), die letzte kleine Orgel heimatlos übrig blieb.

Und man möchte beinahe glauben, dass auf wunderbarem Weg sich diese beiden Geschichten trafen. Die Orgel scheint für die gerettete Kirche von Woddow wie gemacht, hier erst entfaltet sie ihren wahren Klang, ungedämpft durch Querelen und Hölzer. Aber für wen wurde die Kirche gerettet? Zunächst wurde sie für die Retter gerettet, die Bewohner des Palindromdorfes und der umliegenden Orte. Sodann aber auch für willkommene Gäste, seien es Verwandte und Bekannte, Touristen und Migranten. Gerade in diesen Dörfern kamen vor dreihundert Jahren französische Glaubensflüchtlinge an, die vielleicht nicht in jedem Falle willkommen waren, zumindest haben sie selbst auch lange gefremdelt, aber dann haben sie sich so sehr integriert und assimiliert, dass ihre Nachkommen heute noch nicht einmal mehr ihre eigenen Namen französisch aussprechen. Die Uckermark ist also auch ein Landstrich der Migration. Vielleicht sollten wir wieder ausrufen, dass Flüchtlinge, aus welchem Grund und Land auch immer, hier jederzeit willkommen sind. Vielleicht wird Woddow dann die erste Moschee mit einer Orgel, noch besser aber: keine Moschee und keine Kirche, sondern ein Haus für alle Menschen haben. Die einen beten – in welchem Kult und in welcher Sprache auch immer – zu Gott, die anderen beraten, was man Gutes für die nächsten Generationen tun kann. Dann hätte die alte Feldsteinkirche von Woddow dieselbe Bestimmung wie der Ort der Petrikirche, wo gerade jetzt ein Tempel der drei monotheistischen oder abrahamitischen Religionen entsteht, das HOUSE OF ONE. Um die Ecke haben übrigens zwei berühmte Pfarrer gewohnt: Gotthold Ephraim Lessing erdachte dort den weisen Nathan und den weisen Saladin und den weisen Tempelherrn, der aus der Hierarchie aussteigt wie aus einem falschen Mantel, und Johann Peter Süßmilch, der übrigens tatsächlich auch Pfarrer an der Petrikirche war, erdachte dort die Statistik als Beschreibung des perfekten göttlichen Wirkens. Er war nicht nur einer der Begründer der Demografie, sondern auch der erste Denker, der Evolution und Glauben zusammenbrachte, ein gottnaher Mathematiker.

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Die Nachhaltigkeit einer mechanischen Orgel erklärt sich aus ihrem Material, Kiefernholz, Eichenholz, Kupfer, Blei, Zinn und Zink, wie aus ihrer robust mechanischen Bauweise und Zweckbestimmtheit. All das wirkt in Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit zusammen. Eine Orgel besteht sicher hundert und zweihundert, oft dreihundert und vierhundert Jahre. Sie muss allerdings gepflegt und benutzt, gewollt und gemocht sein. Solange die Kirche das Monopol und den Primat im menschlichen Lebenslauf hatte, war also auch die Orgel, wo sie überhaupt vorhanden war, allgegenwärtig. Bis in das Denken und die Sprache hinein war sie zu hören: Kinder wie die Orgelpfeifen, denen man die Flötentöne schon beibringen wird, wo du nicht bist, Herr Organist, da schweigen alle Pfeifen, alle Register ziehen, den Riemen auf die Orgel werfen, die Pfeife spricht oder ist blind, zu der Orgel gehören andere Bälge, draußen orgelt der Wind. Fast jede Orgel hat viele Generationen von Menschen erlebt, fast jede Kirche hat mehrere Generationen Orgeln gehört. Konkurrenz hat die Orgel in dieser Beziehung zum Menschen nur im neunzehnten Jahrhundert vom Harmonium und vom Wohnzimmerklavier bekommen. Ansonsten steht sie einzig da: das Musikinstrument, das die meisten Menschen in vielen Jahrhunderten begleitete. Nachhaltigkeit ist also keineswegs nur eine Materialfrage. Vielmehr kann man von einer Prägung der abendländischen Bevölkerung sprechen. Sprechen die Glocken mehr als Signal, so kann die Orgel Gefühle kommentieren und sogar hinterfragen. Die Symbiose des europäischen Menschen mit der Orgel wies aber auch in die Zukunft:  Jeder kleine aufmerksame Kalkant wusste schon im neunzehnten Jahrhundert, was programmieren ist: eine Melodie oder Harmonie als Software und eine Flöte oder Trompete als grundlegende Hardware zusammenbringen. Dieses Prinzip wurde in der weitgehend verachteten Drehorgel noch weitergeführt, so dass man sagen kann, der Lochstreifen des Zuse-Computers ist die legitime Tochter der Walze von Drehorgeln oder der Lochplatten von anderen mechanisch-automatisierten Instrumenten.

Ist die Musik uns emotional am nächsten, so ist es das Haus rational. Beide treffen sich im Ton. Die mit Abstand meisten Orgeln stehen in Gotteshäusern. Es gab eine ganz kurze Periode von Kinoorgeln, die allerdings schnell durch den Tonfilm abgelöst wurde. Dennoch ist die Verwandtschaft der Kultorgeln in Kirchen und Kinos nicht zu übersehen. Die Allgegenwart des christlichen Kultus erscheint im zwanzigsten Jahrhundert abgelöst durch die Allgegenwart narrativer Medien. Wenn man noch die unvermeidliche Globalisierung hinzudenkt, ist die Angst vor Synkretismus unverständlich bis lächerlich. Alle Reinheitsvorstellungen sind notwendig absurd. Es gibt keine hundert Prozent. Alle Balken brechen nach dem Muster der Eulerschen Knickfälle und alle aufeinandertreffenden Systeme bilden Schnittmengen nach Venn, auch er übrigens ein Pfarrer.

Kultische Häuser sind einerseits Versammlungsstätten, Orte der Gruppen. Andererseits aber zeigt ihre Anzahl, ihr Raum und der Ort, auf dem sie stehen, an, dass sie gleichzeitig Symbole der Transzendenz sind. Jeder Mensch fühlt, dass es eine höhere Kraft als ihn selbst und die Summe von seinesgleichen gibt.  Selbst wenn wir das moralische Gesetz, das Kant unter dem gestirnten Himmel spürte, als Kindchenschema oder gar als biochemische Schutzreaktion der Arterhaltung deuten, ist uns klar, dass dahinter eine höhere Rettungsmacht steht, die sozusagen naturwidrige Wunder vollbringt: der gefürchtete Wolf zieht ein Menschenbaby auf und umgekehrt. Der Wolf löst gleichzeitig Furcht und Nähe aus. So ist auch das Verhältnis von Technik und Leben: sie schließen sich gleichzeitig ein und aus. Heute ist uns erst klar geworden, wer in diesem Wettstreit letztendlich obsiegen wird.  Ganz ähnlich wirken die von uns so genannten Gotteshäuser auf uns, weil wir wollen, dass etwas so auf uns wirkt. Wir spüren Gott, weil wir im gotischen Dom oder in der prächtigen Moschee Gott spüren wollen und sollen, der Architekt baut, was wir alle fühlen. Wir alle fühlen hinter den Feldsteinmauern, die durchaus auch den Regeln von Feuchte und Moder gehorchen, das Übernatürliche.

Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Alle Hochrechnungen sind letztlich falsch. Als man von Telepathie träumte, wurde das Telefon erfunden, kurz darauf die die Television. Zwar spinnen wir Luftgespinste (empty visions), wie es in einem der schönsten Lieder heißt, aber selbst der felsenfesteste Fundamentalist wird zugeben müssen, dass doch nicht nur eine erstaunliche Anzahl von leeren Visionen Wirklichkeit wurde, sondern auch auf höchst erstaunlichen Gebieten. So sind wir selbst als Körper hochmobil, aber noch schneller sind unsere Gedanken. In wenigen Sekunden sind sie in Amerika oder Australien. Aber braucht sie dort jemand, fragte schon Samuel Morse?

Je schneller unser Leben zu sein scheint, desto mehr Entschleunigung benötigen wir. Man kann nach Schweden fahren oder in die Feldsteinkirche Woddow gehen, denn alles, was früher galt, gilt auch heute, wenn auch mit einer anderen Wertigkeit.  

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Also, wozu brauchen wir diese Orgel?

So wie das Kreuz die Zusammenführung zweier Linien ist, so ist die Orgel in gewisser Weise ein Symbol für das Abendland, für alles, was gestern war und von dem wir fürchten, dass es morgen nicht mehr sein wird. Unsere eigene Angst vor der Vergänglichkeit, von der die Fugen des Feldsteinmauerwerks singen, wird in der Bewahrung aufgehoben. Unser Leben hat nur Sinn auf andere Menschen hin, so wie wir von anderen Menschen leben, leben wir auch für sie. Wenn wir also etwas bewahren, tun wir es gerade auch für andere Menschen, Generationen und sogar Nationen.

Und obwohl diese Feldsteinkirche, die nach 69 Jahren Schweigen wieder eine Orgel hat, ein doppeltes und dreifaches Symbol für das Abendland ist, ist sie gerade durch ihre Leere, durch ihr Verwurzeltsein im leeren Raum, in einer Landschaft, die nahezu menschenleer ist, offen für alles Neue, ob es nun Flüchtlinge sind oder elektronische Gedankenstützen und Gefühlsreproduzenten. In der Feldsteinkirche aus dem dreizehnten Jahrhundert wohnte schon immer die Hoffnung und wohnt sie wieder. Nur wenige Touristen eilen durch unser abgelegenes Brüssower Land. Aber wenn in jedem Jahr einer darunter ist, der hier Entschleunigung und Trost findet, Stille und einen neuen Gedanken, dann hat es Sinn gehabt, die Schukeorgel opus 278 aus dem verkauften Petrigemeindesaal der fünfmal zerstörten ältesten Kirche Berlins, dort wo jetzt das HOUSE OF ONE gebaut wird, ganz in der Nähe vom Geburtsort des weisen Nathan,  in das fast schon verlassene Dorf in der menschenleeren Uckermark zu bringen, in die Kirche, die schon aufgegeben und vergessen war, an die Stelle der Orgel, an die sich niemand erinnert…

Jedes Dach ist ein Obdach und jede Melodie ist Heimat.

STADT LAND OST

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Die Rohstoffe früherer Zeiten waren namen- und sinngebend für ganze Epochen der Menschheit: Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, aber auch das Industriezeitalter mit seiner unseligen Triade Eisen, Kohle, Stahl, denn der Eiffelturm und das Kreuzbergdenkmal mögen uns rührend und anmutig vorkommen, sie sind aber auch harte Kennzeichen der gnadenlosen Ausbeutung der Natur, die wir jetzt distanziert Umwelt nennen. In diesem Industriezeitalter sind die großen Städte entstanden. Die größten Städte sind aber entstanden, als die Verteilung der Industrieproduktion schon längst abgeschlossen war und die Menschen in den weniger entwickelten Ländern trotzdem in die Städte drängten, weil sie dort auf das gleiche bessere Leben hofften wie die Menschen, die um 1800 nach Liverpool oder Wuppertal gingen. Statt des besseren Lebens ist ein Kult um den Müll entstanden. Der Wohlstand ruft, aber die Abfälle antworten. Kinder, jene reinen Wesen der Hoffnung und der Neugier, müssen gerade da zuhauf vegetieren, wo die Hoffnungslosigkeit herrscht. Zwar hungern jetzt weit weniger Menschen als 1950 oder 1900, aber je mehr wir von der Welt wissen, desto mehr erschreckt uns die althergebrachte Ungerechtigkeit. Unser Focus ist auf das Leid gerichtet. Das ist auf der einen Seite natürlich gut und stärkt unsere Empathie und zum Beispiel auch Spendenbereitschaft, auf der anderen Seite erhöht es aber auch den Abschottungsreflex, der aus der Angst entspringt, morgen wieder mit bloßen Händen dazustehen. Dabei sollten uns die Ruinen des Römischen Reiches daran erinnern, wie lange Reichtum vorhält, weit über den Untergang hinaus. Wer bereit ist, auch das immaterielle Erbe mitzuzählen, der wird im lateinischen Alphabet und in der lateinischen Sprache den Reichtum des Römischen Reiches sogar fortleben sehen. Wir müssen uns also keine Sorgen um uns machen. Wir werden schon nicht verschwinden.

Da in der Stadt Politik und Kunst gemacht werden, aber auch fast alle Gegenstände, erscheint es dem Städter so, als ob die Stadt mit sich selbst leben könnte. Kein Städter glaubt, dass außerhalb der Stadtmauern etwas Wichtiges passiert. Er kennt die Natur vom Spaziergang und vom Urlaub, aber er hält sie nicht für notwendig. Die wichtigen Events finden in der Stadt statt. Unter einem Event versteht der Städter aber nicht, wenn in seiner Nachbarschaft ein Blogger ein neues Wort gefunden hat und in die Welt hinaus sendet, oder ein Physikprofessor einen neuen Botenstoff für das Smartphone entdeckt zu haben glaubt. Der Physikprofessor ist für den Städter vielmehr jener Veganer, der in einen Gummimantel gehüllt auf einem zehntausend Euro teuren Fahrrad fährt und als einziger in der Straße eine durch drei Etagen gehende Maisonette-Achtraumwohnung hat, in der zwei Steinway Flügel stehen. Unter einem Event versteht der Städter vielmehr ein Vergnügen, das er sich selbst bereitet, indem er in große Stadien zu Ballspielen und Konzerten geht, indem er stundenlang nach Karten ansteht, um in Riesendiskotheken und Clubs die Nähe zu suchen, die ihm zuhause fehlt. Selbst Fernsehsendungen hält er für tatsächliche Ereignisse. Wir leben, es ist fast trivial zu sagen, zu mehr als der Hälfte in Filmen statt in der Realität. Zählt man zu den Filmen noch die Videosequenzen, so ist ihre fast totale Wirkung besonders auf die natives – die mit ihnen aufgewachsenen – nicht zu überschätzen. Die Stadt befasst sich also fast nur noch mit sich selbst. Sie ist ein tautologischer Ort, aber kein unbekannter. Ihre Entdeckung folgt den filmischen Spuren, die vorher schon gelegt waren. Schon vor Jahrzehnten gab es in abgelegenen afrikanischen Dörfern Fernseher, die mit Notstromaggregaten, wie wir sagen würden, betrieben wurden. Den Menschen damals in Afrika kam es aber so vor, als ob man elektrischen Strom nur dafür brauchen würde, alte amerikanische und europäische Serienfilme zu sehen. Bis heute gibt es keine nennenswerte, also identitätsstiftende Filmproduktion. Millionen afrikanischer Jungs wollen Fußballer werden, wofür sie auch oft ungeheuer begabt sind. Nur muss man befürchten, dass sich der Bedarf in engen Grenzen hält. Wenn wir also nicht gewollt hätten, dass sich das, was und wie wir tun, nicht verbreitet, hätten wir weder das Fernsehen noch das Smartphone erfinden und verkaufen dürfen. Ihre Relativierung, die bei uns – wenn auch mit mäßigem Erfolg – gelingt, setzt eine Bildung außerhalb tautologischer Kreise voraus. Die mediale Parallelwelt ist einerseits Finsternis gegenüber der wirklichen Welt, andererseits aber die Verwirklichung der romantischen Idee von der Poetisierung, der Durchdringung des ganzen Lebens durch Geschichten. Wir haben dabei einen Halbanalphabetismus hingenommen, indem wir die großen Geschichten lieber nachspielen statt zu lesen. Was dabei an Einbildungskraft verloren geht, wird durch die pure Masse vielleicht ersetzt. Noch deutlicher ist es in der Kunst, die noch elementarer wirkt als die großen und kleinen Narrative, die Musik. Man könnte unser Zeitalter mit Fug und Recht das musikalische nennen. Noch nie vorher ist Musik so alltäglich und allgegenwärtig gewesen, wie gerade jetzt. Fast könnte man sagen, dass die Musik in einem quasiosmotischen Prozess von der medialen Welt in die autochthone Welt überwechselt, ohne dass sie mechanischer Instrumente bedarf. Gleichzeitig gibt es aber eine erfreuliche Renaissance gerade dieser mechanischen Instrumente und die Allgegenwart der Musik besteht keineswegs nur aus Pop und Fahrstuhlmusik, sondern auch aus Bach und Beethoven und dem Silentnighttyp.

Die Menschen in den Millionenstädten nehmen also ihre Herkunft aus der Erde nicht mehr ernst. Sie halten sich für schaumgeboren. Da sie sich nur mit sich selbst beschäftigen, glauben sie, dass es auch nur sie selbst gibt. Um sie herum herrscht Menschenleere. Der Massencharakter ihrer Behausungen ist ihnen zwar klar, aber in der Menschenleere können sie nicht den Sinn des Ursprungs entdecken. Menschenleere ist ihnen Sinnleere. Kein Paradox ist ihnen nah. Zu dieser Entfremdung, schon aus Verehrung für die Familie Feuerbach verwenden wir gerne dieses Wort, hat sicher die Industrialisierung mitsamt der Entpersönlichung der Landwirtschaft beigetragen. Zudem ist die Erde, früher als Mutter bezeichnet, mit Chemie vollgepumpt worden, was ihre Fruchtbarkeit dankenswerterweise so erhöhte, dass der Hunger besiegt werden konnte. Gleichzeitig ging aber ihr unverwechselbar erscheinender Charakter als Mutter, als Ernährerin, als Allgebärerin verloren. Zudem sind die Rohstoffe, die unser Zeitalter bestimmen, unsichtbar. Während die Kohle in einem fast pathetisch zu nennenden Vorgang zutage gefördert wurde und sogar die Sprache bis heute beeinflusst, weiß niemand, woher die Seltenen Erden in seinem Telefon oder woraus die Plastikteile unserer Legowelt stammen. Statt nach der reinen Milch der Vernunft sehnen wir uns nach der kommentierten und tausendfach reproduzierten Nachricht über das, was wir schon wissen.

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Auf dem Land beginnen hinter der Haustür die Ferien, wo der Städter Agenturen und Fluglinien zwischenschalten muss, mindestens aber eine U-Bahn. Der Städter glaubt sich in einem Versorgungscontainer, der ihn – außer dass er ihn zu versorgen hat – nicht weiter interessiert, aber auch der Landbewohner will auf nichts verzichten und nimmt deshalb Transportwege und Energieverschwendung in Kauf. Allerdings bleibt ihm immer noch mehr Zeit und Geld als dem Städter, da es auf seinen Wegen und in seinen Einkaufszentren keine Unterhaltung oder Ablenkung gibt.

Durch die Minimierung der Landwirtschaft auf der einen und Verlandschaftlichung der Städte auf der anderen Seite kam es zu einer ungeahnten Annäherung. Sie passierte so schnell, dass die Begriffe der Unterschiede, die es nicht mehr gibt, bestehen blieben. Die Urbanisierung hatte zwei große Schübe, und während der erste, der mit der Industrialisierung einherging, die Städte verstädterte, brach der zweite Schub ebendiese Verstädterung wieder auf. Gärten entstanden an den Rändern der Städte, die Gartenstadt wurde zum Ideal. Man wollte sie doppelt verwirklichen: in der Stadt und auf dem Land. Der Versuch, das Land mit einer ähnlichen Struktur wie die Stadt zu überziehen, ist allerdings gescheitert. Man kann in die Stadt zwar einen Garten zwängen, aber man kann den Garten, das Land, nicht auf den U-Bahn-Komfort zwingen. Der Vorteil des Landlebens bleibt ideal.

Stadt und Land haben sich so angenähert wie Mann und Frau (‚Bubikopf‘, ‚Erziehungsjahr‘, ‚Quote‘), Körper und Seele (‚psychosomatisch‘) Himmel und Erde (‚Fliegen‘, ‚Raketen‘), rechts und links (‚Lügenpresse‘). Mit dem Vorrücken der Demokratie verschwinden Hierarchie und Bipolarität. Diese Annäherung, die auch eine Auflösung altbekannter Sicherheiten darstellt, macht einer autoritätsgläubigen Menge von Menschen Angst und ermutigt eine liberale Elite. Immer wieder beschwören fundamentale Konservative die vermeintliche Ewigkeit von Fakt, Begriff, Ordnung, Sprache, Definition und Identität. Aber die Welt zieht einfach weiter, und die Felsen beben. Der Tsunami von Lissabon am 1. November 1755 musste, bevor er die Aufklärung brachte, erst die Gewissheit von katholischer Staatskirche hinwegfegen. Freiheit beruht auf Bewegung, die oft einem Tsunami gleicht.

Selbst Jugendliche, wenn sie autochthone Landbewohner sind, betonen die Ruhe, die man auf dem Land hat. Sie ahmen mit dieser Argumentation die Erwachsenen und die Zugezogenen nach. Jugendliche suchen nicht Ruhe, sondern Aufregendes. Aber sie wissen, dass sie ohnehin bald verschwunden sein werden. Unter dem Alibi der Ausbildung finden sie ein aufregenderes Leben als in der so genannten Heimat. Im Internet sieht man sie beruhigt ihre Sehnsucht feiern. Wenn sie das Haus ihrer Großeltern erben, lassen sie es verfallen, bevor sie es verkaufen. Nichts bringt sie in die Ruhe zurück, nie mehr wollen sie zwanzig Kilometer fahren, weil sie vergessen haben, Zigaretten zu kaufen.

Das Land ist, außer für die ein bis zwei Bauern pro Dorf und diejenigen traditionellen Bewohner, die zu alt sind, etwas Neues anzufangen, nur für ehemalige Stadtmenschen interessant. Sie verdienten oder verdienen genügend Geld, um die vorhin schon erwähnten höheren Transport- und Energiekosten aufzubringen. Sie versprechen sich ein selbstbestimmteres Leben, als es in der Stadt möglich ist. Sie träumen von der Reinheit der Natur, obwohl sie von einer Landwirtschaft umgeben sind, die immer mehr zur Monokultur strebt und ihre Bodenprobleme mit Überdüngung löst. Es gibt zu viele Füchse. Aber weil es auch zu viele Rehe gibt, gibt es zu viele Jäger. Falls sie die zu vielen Ferienwohnungen mieten, gleicht sich ihre Anwesenheit durch die Zahlungen wieder aus. Sie stören die Landschaft beinahe mehr als die Windräder. Die Windräder sind allerdings der Preis oder besser der Tribut, den die menschenleeren Gegenden für ihr Privileg der Einsamkeit bringen müssen. Fährt man durch den äußersten Westen Westdeutschlands, so sieht man, dass der Preis, den diese Landschaften zahlen mussten, weitaus höher ist. Hier im Osten sind es eigentlich nur der Verfall und die Windräder, die den Menschen als Strafe auferlegt sind. Die Kreise werden immer größer und leerer. Lange war die Uckermark der größte Landkreis, ebenso groß wie das Saarland. Jetzt ist es der Kreis Mecklenburgische Seenplatte, er ist doppelt so groß wie das Saarland, das aber fast fünfmal so viele Einwohner hat.

Der Landbewohner bildet sich seine Selbstständigkeit weitgehend ein. Er geht in den gleichen Supermärkten einkaufen wie sein Gegenüber in der Großstadt. Der Vorteil des Landlebens bleibt Idealismus.

Der Städter kritisiert den Landbewohner wegen dessen Mangel an Struktur und vor allem Kultur. Der Landbewohner kritisiert den Städter wegen dessen Anonymität und Einsamkeit. Im Winter sieht der Landbewohner seine Nachbarn manchmal tagelang nicht, das ist die Finnlandisierung Europas. Der Stadtbewohner allerdings kennt angeblich seine Nachbarn namentlich nicht. Trotzdem kommt der namentlich nicht bekannte Nachbar sofort mit Enteisungsspray angerannt, wenn der Städter im Winter morgens die Frontscheibe seines Autos nicht vom Eis befreien kann.

Trotz der Kritik an den Städten bleiben sie bevorzugte Wohnorte. Trotz der Kritik an der Kulturlosigkeit des Landes bleibt auch das Land von bestimmten Menschen bevorzugt. Seit wir also genügend Geld haben, können wir wählen. Die Menschen in den ärmeren Ländern müssen dableiben, wo sie sind, und das bleiben, was sie sind. Es ist zwar eine Frage des Geldes, aber auch ein Problem des Inhalts. Ganz ähnlich wie die Medien kann die Stadt dem Menschen zwar Angebote machen, aber wenn er nicht genügend Bildung oder Offenheit hat, dann kann er sie nicht annehmen und er ist dazu verurteilt, lebenslänglich fernzusehen. Auf dem Land ist es umgekehrt notwendig, dass man über genügend Bildung und Offenheit verfügt, um den Dörfern und Landschaften Angebote zu machen, damit sie nicht nur attraktiv, sondern bewohnbar bleiben.

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Um Lebensqualität geht es auch in dem immer wieder auflebenden Streit um Ost und West, um Makel oder Bonus der Herkunft, das deutsch-deutsche Festival des Tribalismus, der ewigen teutonischen Unzufriedenheit.

1989 und 1990 handelten ganz gewöhnliche Subjekte ein und derselben Spezies, nur brach auf der einen Seite ein taumelndes System zusammen und auf der anderen Seite fing ein stabiles System die Trümmer auf.  Und dann zeigte sich, dass ‚der Westen‘ eine ostdeutsche Erfindung war und ‚der Osten‘ eine westdeutsche, denn auf jeder Seite gab es Entdecker und Ignoranten, Innovateure und Obskuranten. Erzählt werden seitdem die Geschichten der Aneignung und Schmähung. Es ist, auch ganz unabhängig von Deutschland und den Deutschen, Mode geworden, sich als Opfer zu sehen und zu präsentieren. Nicht erzählt wird die Geschichte der vielleicht einen Million Frauen, die nach 1990 still und leise in den Westen gingen, arbeiteten und heirateten und sich keinesfalls als Opfer sehen. Nicht erzählt werden die Biografien der beiden Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin aus dem Osten. Noch nicht einmal erwähnt werden die vier (von fünf) bedeutendsten deutschen Maler: Baselitz aus Baselitz bei Kamenz, Richter aus Dresden, dessen Gemälde schon einmal je 100 Millionen Euro auf die Geschichtswaage bringen, weswegen er zu den 500 reichsten Deutschen zählt, Neo Rauch und Jens Bisky, beide aus Leipzig.

Außerdem kann man die kleine DDR nicht mit der alten großen Bundesrepublik, sondern allenfalls mit dem etwa gleichgroßen Bundesland Nordrhein-Westfalen vergleichen. Aber bis heute klafft da eine große Leistungslücke, denn der Osten Deutschlands, früher Mitteldeutschland genannt, weil es einen noch ärmeren Osten gab, war nur ausnahmsweise und inselhaft industriell, etwa in Chemnitz oder Bitterfeld. Regionale Unterschiede gibt es in vielen Ländern, in den USA, sprichwörtlich in Italien, und sogar umgekehrt in Belgien, wo die Wallonie der einst reiche, nun aber ärmere Teil ist, und die einst verhöhnten Flamen heute den Wohlstand produzieren und hüten.

Wenn man die Frage interessant findet, warum so viele Ostbürger den Mauerbau und die betonierte Teilung hingenommen haben, muss man gleichzeitig auch die Gegenfrage zulassen, warum so viel mehr Westbürger ebenfalls nichts gegen Mauer, Stacheldraht und Entwürdigung an der Grenze taten, von Kennedy bis Adenauer und von Meyer aus der Wollankstraße bis Schulz aus Bochum. Martin Luther King, der im September 1964 darauf bestand, auch in Ostberlin zu predigen (und die Ostberliner bestanden darauf, dass er das in zwei Kirchen tat), fand einen schönen Vergleich: während er und die Seinen versuchten zwischen Afro- und Euroamerikanern zu versöhnen, tun es hier die Menschen eben zwischen den beiden Ideologien Christentum und Kommunismus. Das will heute niemand mehr hören.

Die meisten handelnden Subjekte der Wiedervereinigungsjahre waren überrascht und überfordert von der Fülle der Ereignisse, Meinungen und Fehlentscheidungen. Ein großer Teil der Volksmassen zog sich hinter dem Wort ‚Wahnsinn‘ zurück. Viele glaubten aber auch, dass hinter den sich überschlagenden Tatsachen ein Plan aufscheinen könnte. Honecker glaubte, dass Gorbatschow ihn verraten hätte, ein kleiner sowjetischer KGB-Offizier namens Putin nahm an, dass er die aufsässigen Dresdner mit seiner Pistole zur Ordnung rufen könnte. Später stritt er das ab. Im Herzen der CDU war man sicher, dass sich die Präambel des Grundgesetzes von selbst verwirklicht hatte, während die Bürgerrechtler in der Gethsemanekirche in Ostberlin annahmen, dass ihr Gebet erhört worden war. Die SPD zögerte wie seit hundert Jahren, nur die kleine stellvertretende Pressesprecherin der letzten Regierung wusste, dass sie es noch bis ganz oben auf das Treppchen schaffen würde.

Wenn auf jeder Ebene an jedem Tag tausend Entscheidungen getroffen werden müssen, müssen mindestens 800 Fehlentscheidungen darunter sein. Niemand kann alles richtig machen. Im Westen änderte sich fast nichts, im Osten änderte sich alles. Die staatlichen Betriebe wurden von der Treuhand privatisiert, immerhin wurde der erste Treuhandchef erschossen und es fand sich sogar ein zweiter. Man hätte auch das ganze Staatsvermögen an sieben Oligarchen übergeben können. Das wäre einfacher gewesen, aber natürlich nicht auf Dauer. Schließlich, nach dreißig Jahren sehen wir: solche grundstürzenden Veränderungen brauchen Zeit. Andererseits ist Deutschland nach wie vor die viertstärkste Wirtschaftsmacht der Welt. Vielleicht liegt der Erfolg unseres schönen Landes gerade darin, dass wir, seine Einwohner, immer unzufrieden sind. Und vielleicht liegt der tiefe Sinn der Migration nicht nur in der Verbesserung des Lebens der Migranten, sondern auch in der Erfrischung und Erbauung der Zielländer, und das würde für uns viel Gutes bedeuten, die Chance, die so schwer zu erkennen ist.

Vielleicht ist der Streit zwischen Ost und West müßig und überflüssig wie der Kampf zwischen Stadt und Land und Mann und Frau. Wie das Leben selbst verlaufen diese Auseinandersetzungen als Berg-und-Tal-Bahn, als ewige Sinuskurve, als kleistsche Asymptote. So wie der nicht so traurige und gar nicht verzwergte DDR-Bürger sich die DDR akkommodierte, auch mithilfe von Milkaschokolade und Jakobskaffee aus den Westpaketen, so tobt der Streit ohne Tsunami fort und fort.   

INSTABILBAUKASTEN

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Viele Menschen haben Sprüche darüber, wie es kommt, immer anders als man denkt oder wie es kommen muss oder wie es eben kommt. Aber hinter leicht dahingesagten und oft wiederholten Sprüchen verbergen sich Welt- und Lebensanschauungen.

Schon als Kinder sagten wir empört: das ist doch ungerecht! Und noch als Alte glauben wir an eine, wenn nicht überbordende, so doch übersinnliche Gerechtigkeit. Alle linken Bewegungen und der Sozialstaat versprechen sie bedenkenlos, alle rechten Bewegungen wollen sie dadurch erreichen, dass sie einen Teil der Menschheit von vornherein ausschließen. Der Staat, diese Megamaschine aus Klammeraffen, Aktenordnern und Ausführungs-bestimmungen, der sich am liebsten mit sich selbst und der Versorgung seiner Beschäftigten beschäftigt, hat sich immer mehr an die Stelle der alten Institutionen Religion, Zünfte oder Allmende gedrängt. Und wir glauben ihm gerne. Aber: man kann den Staat nur aushalten, wenn man an die Freiheit glaubt und weiß, dass es Gerechtigkeit nicht geben kann.

Von Kindesbeinen an sind wir mit der Konstruktion von Artefakten beschäftigt. Der Konstruktion geht eine Destruktionsphase voraus, in der wir sozusagen Strukturen, Naturgesetze und Adhäsionen studieren. Aber indem wir jetzt das Bild des Kindes reproduzieren, das mit großer Geduld immer wieder aufgehäufte Bausteintürme kippt, wird uns klar, wie sehr wir dieses Spiel und diese Phase perfektioniert haben. Fröbel war noch stolz auf seine geometrischen Holzklötzchen, dann kamen hundert Jahre Anker- und Stabilbaukästen und schließlich konnte LEGO sein perfektionistisches Weltbild verbreiten. Wir dürfen nicht übersehen, dass während dieser letzten zweihundert Jahre immer wieder versucht wurde, die Mädchen auf das Spiel mit Puppen, Puppenwagen und Puppenstuben zu reduzieren. Aber das ist gründlich misslungen. Was heute so vehement gefordert wie bekämpft wird, ist damals schon immer sichtbar gewesen: Konstruktions- und Pflegespiele sind nicht an Geschlecht, Hautfarbe oder sozialen Status gebunden.

Auch die in der Schule gelehrten Kulturtechniken sind nicht nur analytisch, sondern immer auch konstruktiv, wenn nicht holistisch. Wenn auch bedauert werden kann, dass viel zu wenig kreativ geschrieben wird, so wird doch geschrieben. Schreibend setzen wir uns immer eine kleine, neue Welt zusammen. Wenn wir auf einem Dachboden eines alten Hauses ein Schulheft, einen Kalender, eine Briefsammlung oder gar ein Tagebuch finden, so finden wir auch immer eine Welt von gestern. Immer erkennen wir in den Dingen und Ereignissen einen konstruktiven Sinn, weil wir uns vorstellen, wir hätten die Dinge und Ereignisse gemacht. Hegel geht in seinem berühmten, aber leider auch sehr unsinnigen Satz[1], dass der Unwissende die Welt ablehnt, weil er sie nicht gemacht hat, sogar so weit, einen Teil der Menschheit von vornherein auszuschließen. Und auch da gehen heute noch genauso viele Menschen mit wie bei seinem Fortschrittsgedanken[2]. Der Satz ist trotz seiner rhetorischen Stärke und seiner bewundernswerten Konstruktion deswegen unsinnig, weil wir in seinem Sinne alle unwissend sind und die Welt, auch die kleine uns unmittelbar umgebende, nicht gemacht haben. Wer ein Haus gebaut hat, weiß, wie viel vom Grund abhängt, vom Material, vom Entwurf, vom Wetter, vom Geld von der Tagesform und von tausend Zufällen. Da aber das Haus heute noch steht, glauben wir an uns und unsere konstruktive Stärke und überschätzen unseren Anteil an Struktur und Wissen der Welt.

Durch die Konstruktion von Artefakten kommt also unser Glaube an die universelle Machbarkeit. Die Welt, meinen wir zu wissen, ist genauso gemacht worden wie die Legowelt im Kinderzimmer, wie das Kinderzimmer und auch wie die Kinder selbst.

Die andere Seite ist die Ablehnung des Zufalls. Da wir in allem Sinn suchen und vermuten, müssen wir das sinnlose Walten der Natur hinterfragen. Letztlich lehnen wir es ab. Wir glauben nicht daran, dass es zwar Zusammenhänge, aber keine Kausalzusammenhänge geben soll, dass es zwar Kausalzusammenhänge geben soll, die aber nicht mit uns zusammenhängen. Fast jeder Mensch ist zum Beispiel davon überzeugt, dass er sich den Partner oder die Partnerin bewusst, sehenden Auges, vielleicht sogar ästhetisch oder utilitaristisch ausgesucht hat. Viele erinnern sich an den ersten Schritt aufeinander zu und halten die Verbindung für gewollt und gemacht. Tausend biotische und psychische, soziale und lokale Zusammenhänge werden nicht ignoriert, sondern sind uns unbekannt, weil wir eben auch in unseren persönlichsten Zusammenhängen Unwissende sind.

Neuerdings liest man sehr oft, dass die Freiheit des einen dort ende, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das setzt voraus, dass zwei Nachbarn entgegengesetzte Konstruktionen wären, die auch noch dazu ein entgegengesetztes Freiheitsideal hätten. Tatsächlich stimmen wir aber – glücklicherweise – zu bis zu 99% überein, wenn uns das auch bei einem unbeliebten Nachbarn weit anders erscheint. Es geht sehr oft um das Rechthabenwollen und nicht um das Recht oder um die Gerechtigkeit. Solche dichotomischen Ausschließungen – an meinem Gartenzaun endet dein Recht! – ignorieren die von Euler beschriebenen Schnittmengen zwischen den Dingen, Ereignissen und Menschen. Vieles ist sich ähnlicher, als es denkt. Jeder Wettbewerb beruht mindestens auf dem Konsens der Vergleichbarkeit. Und in jedem Wettbewerb regieren nicht nur das Können, der Verstand oder der Selbstwert, sondern auch immer das Glück und der Zufall. Aber trotz aller Konkurrenz, trotz allen Streits und Wettbewerbs, trotz aller Kämpfe sind wir immer auch eingehüllt und eingelullt vom Grundkonsens der Menschheit, der Großgruppe, der Kleingruppe, des Paars und etwa des Gartens, in denen wir uns befinden und ohne die wir nicht wären.

Es ist doch merkwürdig, dass gerade diejenigen, die die Freiheit einschränken wollen, sich bei der Entfernung vom Grundkonsens der Menschheit auf Freiheit berufen. Niemand aber entfernt sich ungestraft von diesem Grundkonsens. ‚Du sollst nicht töten‘ [Exodus 20,13] etwa ist nicht ein frommer Wunsch, der sich durch widrige Wirklichkeiten zu behaupten hätte, sondern eine conditio sine qua non[3] des Zusammenlebens. Wer sie missachtet, wird missachtet. Die Strafe ist die Entfernung aus dem Grundkonsens. Eine Umkehr ist immer möglich. Nichts muss, alles kann, aber es wird immer kommen, wie es kommt.

Schild der sowjetischen Besatzungstruppen Foto: rochusthal

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Der Satz von Hegel, dass der Unwissende unfrei sei, weil er die Welt nicht gemacht habe, scheint auch umgekehrt zu gelten: Weil er oder sie an einem Wendepunkt dabei war, glaubt er oder sie, ihn gemacht zu haben und hält sich deshalb – allerdings nur für sich selbst – für wissend. Wer zum Beispiel 1989 gegen die Erstarrung der DDR demonstrierte – was sehr mutig war, weil man nicht wissen konnte, wie die senile und wankende Führung reagieren würde – glaubt, die DDR zu Fall gebracht zu haben. Dasselbe glauben Egon Krenz oder Gregor Gysi von sich, der eine wollte die Macht, der andere das Geld retten, beide nannten das, was sie retten wollten, Partei. Wahrscheinlich wurden am Abend des 9. November 1989 aber zwei Zettel vertauscht und der Überblick endgültig verloren. Ein Schlagbaum öffnete sich, hunderttausend Ostberliner strömten nach Westberlin, Bundeskanzler Kohl kam eilends aus Warschau zurück. Es war etwas passiert, das niemand gewollt hatte, obwohl es sich fast alle wünschten. Ein vereinsamter Stasimann pfiff vielleicht auf der Bornholmer Brücke ‚Geschichte wird gemacht‘, ein Lied aus der FDJ-Singebewegung der sechziger Jahre. Nur selten hört die Geschichte, die Summe unserer Taten, auf die Intentionen von uns Menschen. Vielmehr ist sie von tausenden Faktoren abhängig, die sich weder Zeitzeugen oder Visionäre, Politiker oder Wissenschaftler, Ideologen oder Mafiabosse ausdenken können. Oft erst viel später – in Geschichtsbüchern heißt es oft: nach Öffnung der Archive – kommt Klarheit in das Knäuel von Absichtserklärungen, wahren Absichten und tatsächlichen Geschehnissen. Die Mauer fiel, die DDR brach zusammen, Kohl, der das nicht planen konnte, ergriff die Chance, der Ostblock verschwand wie ein Kartenhaus, die Sowjetunion übrigens zuletzt, erst am 31. Dezember 1991, und niemand wusste, wie es weitergehen sollte, könnte oder würde. Von nun an waren alle Akteure ahnungslos.

Mehr als dreißig Jahre danach, also jetzt, 2023, erscheinen drei Bücher[4], die den Eindruck erwecken, als ob die Wiedervereinigung Deutschlands im Gefolge des Zusammenbruchs der DDR (oder des Ostblocks) ein bewusster Akt der Demütigung des Ostens durch den Westen gewesen wäre. Oschmann, der kein Soziologe oder Historiker ist, versteigt sich zu der These, dass die von 1945-1975 geborenen ostdeutschen Männer die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe sei. Es ist, und das steht nicht in seinem Wut- und Jammerbüchlein, auch die Gruppe, die im Osten Firmen aufgebaut hat, die Schulen und Krankenhäuser am Laufen hielt, die Kommunalpolitik dominierte. Mehrfach wird Habermas zitiert, der dem Osten den Zugang zur Öffentlichkeit absprach. Aber Oschmann müsste wissen, dass es unverhältnismäßig viele Schriftsteller und Maler[5] aus dem Osten in die Öffentlichkeit und in den wohlverdienten Ruhm geschafft haben. Saša Stanišić wird als Beispiel für die Skandalisierung alles dessen, was noch weiter aus dem Osten kam, beschrieben. Dagegen beschreibt Stanišić in seinem Buch HERKUNFT[6], wie sein hochkompetenter und wohlwollender Deutschlehrer im Westen des Westens (Heidelberg) ihm zu seiner literarischen Berufung verhalf. Verschwiegen wird auch, dass eine Million ostdeutscher Frauen nach 1990 in den Westen wechselte.

Der Wissenschaftsbetrieb mag extrem ungerecht und voller eigensüchtiger Netzwerke sein. Wer im Norden des Ostens lebte, keine Ausbildung hatte und zudem immobil war, hatte schlechte Karten und wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit so genannter Wendeverlierer. Aber gab es denn das Versprechen der Egalisierung? Der Westen erschien vielen Wählern im Mai 1990 als omnipotentes Heilsversprechen. Er war eine Erfindung ostdeutscher Träume. Er bestand nicht nur aus Engeln und Heilanden à la Brandt und Kohl, sondern auch aus Glücksrittern, drittklassigen Chefs, Hausierern und Manchesterkapitalisten. 

Dem Trend dieser drei Bücher, der beiden Parteien, die das Ostklischee bedienen und einem aus all dem folgenden Diskurs sollen ich vier Thesen entgegengestellt werden:

  1. Jammern ist eine äußerst retrospektive Tätigkeit. Sie mag Trost geben, aber sie schadet letztlich dem Jammerer mehr als dem Adressaten. All das, was im Osten Deutschlands zurecht oder zu unrecht beklagt wird, verstärkt sich durch das fortwährende Jammern darüber. Wir haben im Osten etwas verloren, sicher, aber wir haben doch viel mehr gewonnen. Das Scheitern der Linkspartei ist der lebendige Beweis, dass jammern und die Verstärkung des Jammerns nichts als den eigenen Untergang bewirkt. Jammern beachtet zudem nicht, dass jedes Ticket einen Preis hat.

2. Warum sich Jammern nicht lohnt, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass es keine Gerechtigkeit gibt und geben kann. Gerechtigkeit ist (wie Freiheit oder Liebe) ein Ideal und keine Beschreibung. Wenn Armut der Normalzustand ist[7], dann ist jede Bereicherung beglückend. Leider können wir Glück nur im Vergleich erleben, und so gesehen sind wir in einer Art Parallelverschiebung an den von uns Westen genannten Süden Deutschlands gefesselt. Denn wenn wir erkennen könnten, dass der Süden das Zentrum des Reichtums ist, würden wir Retardierung als jahrhundertealte Schwäche begreifen, die auch einen langen Zeitraum ihrer Überwindung benötigt. Nicht alles, was wir überwinden wollen, ist überwindbar. In Mannheim wurden der musikalische und literarische Sturm und Drang erfunden, das Fahrrad, das Automobil, der Traktor, nimmt man die jenseits des Rheins im Nachbarbundesland gelegene Stadt Ludwigshafen mit dem Sitz der BASF[8] hinzu, so ergibt sich ein Gigant, ein Goliath der Innovation und Technik. Vergleicht man es mit dem ebenso als barocke Planstadt errichteten Neustrelitz, so zeigt sich dieses nicht etwa als David, sondern als Zwerg, als schöner Schein und etwas besseres Nichts. 

3. Auf jede Neuordnung folgt eine Revision. Aber beides, Neuordnung und Revision, sind keine Konsumartikel, auf die Garantie gewährt wird. Wir müssen immer mit den Folgen unseres Tuns leben, in unserer Biografie und in unserer Geografie, in unserer Zeit und in unserem Raum. Dabei spielt der Staat, diese Megamaschine aus Klammeraffen, Aktenordnern und Ausführungsbestimmungen, manchmal eine größere, manchmal eine kleinere Rolle. Die Revision kann ebenso wie die Neuordnung ‚berechtigt‘ sein oder unsinnig, erfolgreich oder scheiternd.

4. Die wichtigste Schlussfolgerung aus dem Jahr 1989 und aus dem Dreikrisenjahr 2022[9] ist jedoch: man sollte jeden Bruch als Aufbruch erkennen und nutzen. Das ist schwer, weil wir an unseren Gewohnheiten kleben wie die Klimaaktivisten am Asphalt. Wir sind nun einmal neophob wie die Ratten, aber wir sollten auch so clever, so sozial und so überlebensstark sein wie sie. Die beiden Geschwindigkeiten der Welt und des Individuums sind nicht synchron. So gesehen laufen wir uns selbst hinterher und ziehen uns wie einst der Baron Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Moor. Zopfabschneiden erscheint deshalb vielen als Selbstmord und war doch im Sturm und Drang die Metapher für den Fortschritt, der immer auch ein Fortschreiten von sich selbst ist. Aber: je reicher wir werden, desto behäbiger sind wir auch. Deshalb appellieren die beiden Ostparteien so oft an die vermeintliche oder wirkliche Armut, reden allzu gern Katastrophen, Bürgerkriege und die Apokalypse herbei. Die Marschmusik der AfD ist der Apokalypso, das anachronistische Lieblingslied der Linken ‚Auf zum letzten Gefecht‘.

Lasst uns den Aufbruch selbst schon als Reichtum erkennen!


[1] „Der Unwissende ist unfrei, denn ihm gegenüber steht eine fremde Welt, ein Drüben und Draußen, von welchem er abhängt, ohne dass er diese fremde Welt für sich selber gemacht hätte und dadurch in ihr als in dem Seinigen bei sich selber wäre.“ HEGEL. Ästhetik, Berlin und Weimar 1984, Band 1, Seite 105

[2] vergleiche: DIE HEGELSCHE TREPPE, Blog Nr. 240

[3] Bedingung, ohne die nichts (ist, geht)

[4] Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung; Steffen Mau, Lütten Klein; Katja Hoyer, Diesseits der Mauer

[5] Gerhard  Richter, Neo Rauch, Norbert Bisky, Georg Baselitz; Ingo Schulze, Helga Schubert, Jenny Erpenbeck, Julia Franck, Judith Schalansky, Lutz Seiler

[6] Saša Stanišić, Herkunft, 2019, ab Seite 209

[7] Hanno Sauer, Moral, 2023, S. 216

[8] dabei war die Isolation von Anilin aus Steinkohlenteer 1834 Friedlieb Ferdinand Runge im verwahrlosten Oranienburger Hohenzollernschloss gelungen

[9] Klima, Corona, Ukrainekrieg