NATIONALISMUS BRAUCHT KEINEN WOHLSTAND

Wohlstand braucht keinen Nationalismus

In Europa, Nordamerika, Japan und Australien gehört das Automobil als Wohlstandsfaktor, als Mobilitätsvehikel und als Freiheitssymbol zu den Alltagsdingen. In Deutschland gibt es je 1000 Einwohner 573 Autos, in Eritrea 2. Sechzig Prozent aller deutschen Arbeitnehmer haben ihren Arbeitsplatz nicht an ihrem Wohnort, sind Pendler, davon benutzen 68% das Auto, um zur Arbeit zu gelangen. Schon allein statistisch ergibt sich also eine nur lockere Bindung an das, was man früher Heimat nannte. Die Identität von Geburts-, Wohn- und Arbeitsort ist seit der Industrialisierung aufgehoben. Dadurch ist die Identifizierung mit dem Ort, mit der Region, mit der Religion und mit der Ethnie nicht mehr kohärent oder zwingend. Es mischt sich neu. Zwar gab es auch früher schon Wanderungen durch Kriege und Hungersnöte oder umgekehrt paradiesische Verheißungen, jedoch hat die Mobilität durch den und nach dem zweiten Weltkrieg rasant zugenommen. Hinzu kommt, das Länder wie Deutschland, Japan und Russland vergreisen und fast keine Kinder mehr haben. In Nordamerika, Europa, Japan und Australien gibt es einen signifikanten und sicheren Wohlstand. Selbst eine hohe Inflation, wie im Moment, kann die Menschen nicht in ihrem Konsumtionsverhalten irritieren. Alle katastrophenorientierten Ideologien (also Rechtspopulisten, Linkspopulisten und Religionsgemeinschaften) beschwören bei jeder kleinen Krise allerdings Bürgerkrieg, Apokalypse und Armageddon herauf. Wenn sich auch der Konsum kaum verändert, so doch das Sozialverhalten im allgemeinen. Bei einem kleinen Teil der Bevölkerung werden Urängste wach. Sie fürchten um ihren Wohlstand und sehen sich ungeschützt unabsehbaren Katastrophen gegenüber. Oft ist es also noch nicht einmal Nationalismus, sondern blanker Egoismus, der zum Beispiel weite Teile der selbsternannten Friedensfreunde antreibt, dem populistischen Geschwätz von Wagenknecht, Schwarzer, Lafontaine, Precht, Tellkamp zu folgen. Allerdings waren nur 10.000 Leute angereist, nicht, wie von Wagenknecht angekündigt, die Hälfte der Bevölkerung.

Aber es geht hier nicht um Statistik, sondern um Gefühl. Sowohl Wohlstand als auch seine Drillingsschwester Demokratie lockern die Bindungen an Ordnungskräfte, die dritte im Bunde, Freiheit,  lässt alles sogar grenzenlos erscheinen. Bildlich gesprochen: wer sich selbst Navigation kaufen kann, benötigt keine staatlichen und institutionellen Wegweiser. Wir beklagen die Individualisierung, die als Nebenprodukt des Wohlstands doch eigentlich unser Ziel war. Schon oft ist das Bild des Autos beschworen worden, in dem ein Mensch sitzt, der sich frei und beweglich glaubt, obwohl seine Abhängigkeit von Geld, Öl, Ressourcen, Know-how und Wohlwollen seiner Mitbürger offensichtlich ist. Je größer das Auto, desto größer die Unfreiheit.

Trotzdem gibt es Menschen, die an den Traditionen der Armut und der Vergangenheit hängen, deren Zusammenhang sie vielleicht gar nicht sehen. Sie glauben, dass die Heimatlosigkeit vom Staat verordnet ist, dass der Staat überhaupt seine Erziehungsfunktion beibehalten hat. Deshalb verbietet er, woran die Menschen hängen: Ernst Moritz Arndt und das Bargeld. Während der Glaube an Verschwörungstheorien in Kriegs- und Krisenzeiten verständlich ist, bleibt er im Wohlstand ein unbegreiflicher Atavismus, der selbst wieder zur Quelle neuer Ängste wird.  

Eigentlich ist die andere Seite, der Nationalismus, der keinen Wohlstand braucht, viel schwerer zu deuten. Warum lassen sich Menschen mit billigen Phrasen abspeisen? Herkunftsglaube, so wollen wir den modernen Nationalismus nennen, ist sehr bequem: man wird geboren und ist schon bedeutend. Schon als Baby auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, mag erfreulich sein. Aber das geht nur, wie wir alle wissen, wenn man auf der Gegenseite ein kräftiges Feindbild malt. Ein Feind lässt uns nicht nur leuchten, sondern auch ohne Schuld sein. Der russische orthodoxe Patriarch Kirill I. hat seine Theologie über Bord geworfen und seit mehr als tausend Jahren erneut verkündet: wer in diesem Krieg stirbt, wird von seinen Sünden befreit. So kreuzigt man Yesus erneut.  

Vielleicht liegt die Lösung in dem synthetischen Charisma, das die Autokraten auszeichnet. Während natürliches Charisma nach Max Weber Kennzeichen eines jeden Politikers ist – wir sehen allerdings viele saft- und kraftlose Bürokraten unter ihnen – mangelt es dem zukünftigen Diktator gerade daran. Er wählt sich also im Katalog der Charismatypen einen aus und versucht, ihn darzustellen. Hitler nahm dazu Schauspielunterricht. Fidel Castro erfreute sein Volk mit vierstündigen Reden. Ceauşescus Frau Elena, die sich mit akademischen Graden überhäuft hatte, obwohl sie die Dorfschule nie beendete, fragte noch in der Todesstunde, ob der Soldat, der sie fesselte, nicht wüsste, dass sie die Mutter der Nation sei. Honecker übertönte seine Fistelstimme mit Horrido-Jagdgeschrei und Putin rennt oft halbnackt herum, um einen Supermacho zu imitieren. Die theatralisch-pseudoreligiösen Massenveranstaltungen und Bekenntnisdemonstrationen aller Autokraten, besonders aber der kommunistischen und faschistischen, sind Ausdruck dieses Substitutes: das fehlende Charisma wird durch synthetisches ersetzt. Das ist alles leicht durchschaubar. Was viele Menschen aber scheinbar wirklich glauben, ist die einfache Antwort auf die immer komplizierter werdende Welt. Es gibt immer noch zehnt Prozent Menschen, die glauben, dass es eine jüdische Weltverschwörung gibt. Andere glauben an die Allmacht der Amerikaner oder der Russen oder der Chinesen. Beliebt ist es auch, die gegnerische Regierung für Marionetten zu halten. Wieder andere sehen in der eigenen Regierung Marionetten. Der Nationalsozialismus bietet für alle ein breitgefächertes Narrativ und Analogon des Pro und Contra an. Feinde werden zu Nazis und man selbst ist immer der antifaschistische Widerstandskämpfer, die Sophie Scholl oder der Marschall Schukow der Gegenwart. Dieses Rollenverhalten wird gestützt durch die Allgegenwart des Fiktiven, genaugenommen der Literatur, meist aber in Form von Spielfilmen, Videos und Computerspielen. Jeder Mensch hat seit frühester Kindheit Rollen und Verhaltensmuster im Kopf und spielt sie wie eine Schallplatte immer wieder ab, bis der Überdruss dem ein Ende setzt.

Vielleicht aber gibt es auch in der immer komplexer und voller werdenden Welt noch einfache Antworten. Sowohl die Ratten als auch die Menschen sind gleichermaßen neophob und sozial: scheu, schlau und empathisch. Vielleicht suchen deshalb viele von uns die Demokratie, die Liberalität, ein solidarisches Miteinander. Andere, zeitgleich oder zeitversetzt, bevorzugen sozialdarwinistische Modelle des struggle for life, der Hierarchie und Befehlsstruktur, Ordnung statt Freiheit. Vielleicht tobt dieser dichotomische Kampf seit Jahrtausenden und noch weitere Jahrtausende, während die gegenwärtigen Menschen immer an den Fortschritt oder an die Überlegenheit des Gestern glauben. Vielleicht hatten Yesus von Nazareth und Isaak Babel einfach nur Pech in eine Periode der Ordnung geboren zu werden, um in ihr gewaltsam zu sterben. Einstein und Chaplin dagegen konnten ihren Häschern entgehen und Optimismus ausstrahlen. Vielleicht hatte doch Nietzsche recht, wenn er an die ewige Wiederkehr des Gleichen glaubte.    

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Ein Gedanke zu “NATIONALISMUS BRAUCHT KEINEN WOHLSTAND

  1. Alle Menschen sind der unteilbaren Würde
    die Menschen Angst vor dem Neuen haben
    die; die völlig unbewusst sind
    die; die böse sind
    die; die gut sind
    ein jeder hat seine Taten vor sich selbst zu verantworten

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